Friedrich Christian Delius, FCD

Ihre Reformation haben Sie vergeigt

Ihre Reformation haben Sie vergeigt, Herr Luther

Im Jahr 418 ist alles falsch gelaufen, und Sie haben es 1517 ff. noch einmal falsch gemacht: Ein Tischgespräch mit einem Reformator, der gerne auf den hohen Sockel gestellt wird, aber uns durch seine Vorliebe für Augustinus ein Schuldgefühl bewahrt hat, das wir endlich hätten loswerden können.

Lachen Sie mal wieder, Herr Luther, sagte ich zu der Gestalt auf dem Denkmal, lockern Sie einfach die Kiefermuskeln, versuchen Sie’s, schütteln Sie ein bisschen Ernst aus Ihren Gesichtszügen, so unnahbar sind Sie doch gar nicht, lächeln Sie, ja, sehr schön, drehen Sie vorsichtig den Kopf, langsam, sehr gut. Auch eine Geschichtsbuchfigur braucht mal eine Abwechslung, kommen Sie! Bewegen Sie die Stirnfalten, die Finger, Hände, die Arme, die Beine, offenbar funktionieren auch die Ohren und Augen noch bestens, und jetzt steigen Sie bitte vorsichtig vom Sockel, warten Sie, ich helfe Ihnen, setzen Sie sich her zu mir. Ich will Ihnen was erzählen, Sie müssen nichts sagen, weder zu Ihrem Befinden noch zu Karl V. noch zur heutigen Weltlage, ich würde Sie nur gern etwas fragen, was Ihr Werk betrifft, ganz kurz, keine halbe Stunde.

Brauchen Sie was zu trinken, zum Wachwerden, fragte ich, damit das Gehirn wieder anspringt nach so langem Denkmalschlaf, nach dem ewigen Dämmern im kalten Bronzekopf? Ich rate zu einem Bier, einem guten Humpen Bier. Denn alles, wirklich alles hat sich verändert seit Ihrer Lebenszeit, seit fünfhundert Jahren, der Mensch, die Kirche, die Geschichte, die Moral, die Bräuche, alles, nur das Bier nicht, nur das Bier ist so rein geblieben wie zu Ihrer Zeit. Also ein Bier, ordentlich gezapft, das dauert einen Moment.

Sie lächeln so skeptisch, mit Recht, Sie wissen ja, was Ihnen blüht im kommenden Lutherjahr, da werden Sie von allen Seiten mit Phrasen bombardiert, mit Reden zugeschüttet, mit Feiern umheiligt. Keine Sorge, aber ich bin keiner der hunderttausend Lutheranbeter und Lobredner, die demnächst an allen Lutherorten und in allen Lutherstädten, vor Lutherdenkmälern und Luthereichen mit mehr oder weniger frommen, biederen, sanftprotestantischen Sätzen sich über Sie und Ihre Taten und Ihre Aktualität auslassen und brüchige Brücken schlagen von 1517 bis 2017. Nein, Sie werden von mir nicht zum tausendsten Mal gewürdigt als wichtigster Reformator aller Zeiten, als Papstgegner, mutiger Rebell, der sich auf sein Gewissen und sein Ich berief, als tüchtiger Ketzer, trefflicher Übersetzer und Begründer des evangelischen Glaubens, als ungewollter Retter des Katholizismus, und was der Luther-Effekte noch mehr sind, alles richtig, aber schon tausendmal gesagt und hunderttausendmal wiederholt.

Keine Sorge, fuhr ich fort, ich werde Ihnen auch nicht mit dem Gegenteil kommen und statt der Lutherlobrednerei die allbekannten Verdammungsurteile auspacken, ich werde Ihnen nicht vorhalten, wie stur und gnadenlos Sie gegenüber Ihren Mitreformatoren gewesen sind, wie verbrecherisch gegenüber den Bauern, wie widerlich gegenüber den Juden, wie herrisch gegenüber den Frauen, wie opportunistisch gegenüber den Fürsten. An diesen Ihren schwersten Vergehen gibt es nichts zu beschönigen, das ist mit Recht schon zehntausendmal vorgebracht worden, das werde ich heute nicht aufwärmen.

Prosit, sagte ich, so viel Latein kann ich noch, wohl bekomme Ihnen das Bier, und als er das Glas selig lächelnd wieder abstellte und mit seinem Blick mich aufforderte, allmählich mein Anliegen vorzutragen, fuhr ich fort: Nun hab ich mich lange genug eingeschmeichelt bei Ihnen, jetzt kann ich anfangen. Der Grund, Sie vom Sockel zu locken, ist nur eine Frage, die leise, die vorsichtige, die sehr diskrete Frage, ob Sie meinen, einen schweren Fehler in Ihrem Leben begangen zu haben, oder, um in Ihrer Sprache zu sprechen, welches die größte Sünde Ihres Lebens gewesen sein könnte. Nein, ich bin kein Beichtvater, habe keinen theologischen Rang, aber Sie können sich ruhig einem neutralen Mann, einem protestantisch gebildeten Ketzer, anvertrauen.

Sie wollen nicht rausrücken mit der Sprache, nutzen Sie die Chance, lockte ich ihn, endlich mal was Neues zu Luther und dann noch von Luther persönlich, provozierte ich, bis mir dämmerte, welche Spielregel er für seinen Auftritt gelten lassen wollte. Aha, sagte ich, ich sehe, Sie möchten ein Tischgespräch führen auf Luthersche Art, einer redet, die anderen hören zu, und Sie als kluger Mann ziehen es im Jahr 2016 vor zu schweigen, nun, dann rede jetzt erst einmal ich.

Ihre größte Sünde, um es zuzuspitzen, sagte ich, ist meiner Ansicht nach, dass Sie sich immer als Sünder und alle Menschen grundsätzlich als Sünder gesehen und den Begriff der Sünde und Erbsünde nie in Frage gestellt und deswegen Ihre ganze schöne Reformation versemmelt haben, wie man sagen müsste, wenn man dem Volk aufs Maul schaut heutzutage, meinetwegen auch vergeigt oder verkorkst. Sie sind immer ein kreuzbraver Augustiner gewesen und, einmal verführt von der ungewöhnlichen Offenheit und subjektiven Ehrlichkeit der „Bekenntnisse“ und von den Verlockungen des „Gottesstaates“, ein unkritischer Nachbeter des Augustinus und seiner Unterwerfungstheologie geblieben. Bis hin zur irrwitzigsten seiner Theorien, der Erbsünde, haben Sie alles mitgemacht. Also, wundern Sie sich nicht, wenn man Ihnen morgen die Nachricht bringt, an der Schlosskirche in Wittenberg sei eine 96. These zu lesen: Weil Luther von seinem Augustinus nicht loskam, hat er die Reformation vergeigt.

Entschuldigung, ich klotze, weil wir wenig Zeit haben, ich frage ja nur, ein bisschen Provokation macht einem Kerl wie Ihnen doch nichts aus. Nehmen Sie noch einen Schluck, bevor ich Ihnen weiter den schönen Nachmittag, den kleinen Urlaub vom öden Denkmalsdasein mit solchen komplexen und doch so simplen Streitfragen und zum Widerspruch reizenden Vorwürfen versüße. Es ist gut, dass wenigstens Sie den Widerspruch lieben im Gegensatz zu den heutigen Theologen, die sich gern vor der Frage drücken, was denn nun nach welchen von wem bestimmten Maßstäben Sünde sei und was nicht. Und die sich noch mehr hüten, das wacklige, morsch gewordene Fundament der Erbsünde auch nur anzurühren, auf dem das kirchlich vorgegebene Christentum gebaut ist, ob orthodox oder katholisch oder evangelisch. Katholiken lassen auf ihren heiligen Augustinus, der uns die Erbsünde eingebrockt hat, nichts kommen und Protestanten auch nicht, weil Sie, Herr Luther, so ein verdammt treuer Augustiner geblieben sind, sagte ich. So geistert diese angeblich seit Adam und Eva gültige Ursünde als größtes christliches Tabu durch die Köpfe. Nur wenige trauen sich, die Fakten bei der Erfindung und der staatlich-päpstlichen Durchsetzung der sogenannten Erbsünde genauer zu betrachten.

Sie lachen, Herr Luther, das freut mich, aber der beste Witz kommt ja noch. Wenn der berühmte Kirchenvater philologisch sauber gearbeitet hätte und wenn er ein redlicher Mann gewesen wäre, hätte das christliche Abendland vom Jahr 418 an einen ziemlich anderen Verlauf genommen, so völlig anders, die Seelen, die Menschen, die Konflikte, die Geschichte, dass sich das niemand ausmalen kann. Sie zucken, sagte ich, wollen Sie es wirklich genauer wissen, dass da einer mit Ihnen am Tisch sitzt, der behauptet, Sie, der bedeutendste Reformator weit und breit, könnten auf ein geniales Schlitzohr, den Bischof von Hippo hereingefallen sein?

Ihr großes Vorbild, Ihr Herr und Meister Augustinus hat stets den Eindruck erweckt, der größte Grübler, gewissenhafteste Bibelkenner und Gottes bescheidenster größter Diener zu sein. Aber bei seinem zentralen Thema Sünde hat er es sich verdammt einfach gemacht. Er beruft sich auf den fünften Römerbrief, zitiert aber nicht, obwohl er das könnte, nach dem griechischen Original des Paulus, sondern nach der schlampigen lateinischen Übersetzung, die er dann noch falsch deutet. Bei Ihnen heißt der Vers, auf den er sich stützt, Vers 12, Sie kennen ihn: „Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“ Zuhörer heute verstehen solchen Satz kaum mehr, selbst wenn sie ihn dreimal hören.

Aber Sie als erfahrener Exeget sehen sofort, was Augustinus daraus macht: Anders als alle Bibeldeuter vor ihm, bezieht er den zweiten Halbsatz fälschlicherweise auf Adam. Statt „eph ho = weil“ nimmt er die strittige Übersetzung „in quo = in ihm“, Sie erinnern sich vielleicht. Schon kann er mit der Behauptung auftrumpfen, dass alle Menschen in Adam gesündigt hätten, deshalb kein Mensch vom Moment der Zeugung an aus eigener Kraft seiner Sündhaftigkeit entkommen könne. Jede Sünde wird kausal auf Adam zurückgeführt. Ob der Kirchenvater mit Absicht oder aus Unkenntnis seinen Paulus falsch gelesen hat, steht dahin, er wollte und brauchte jedenfalls diese eigenwillige Deutung. Die ganze Theorie der Erbsünde fußt auf einem falsch verstandenen Nebensatz, der zudem den Vorteil hat, dass die Frauen an allem schuld sind, weil sie alle miteinander Adam verführt haben.

Kann man Sie, Herr Luther, ganz von Kritik freisprechen, solche Fehldeutung oder Fälschung nicht bemerkt oder überprüft zu haben? Jeder wird verstehen, dass Sie neben Ihrer Arbeit als Übersetzer, Prediger, Autor, Lehrer, Briefschreiber, Streithammel und so weiter nicht auch noch ein gründlicher Augustinus-Philologe sein konnten. Aber hätten Sie nicht Ihren Freund Melanchthon bitten können, diesen zentralen Punkt Ihres reformatorischen Anliegens, diesen zentralen Punkt bei Augustinus einmal zu überprüfen?

Aber ich vermute mal, fuhr ich fort, Sie wollten das gar nicht. Sie haben sich selbst viel zu oft seit Anfang als junger Mönch bis zum Ende mit ihren eigenen Sünden oder angeblichen Sünden herumgequält, es ist ja der Satz überliefert, den Ihr augustinischer Beichtvater lange vor 1517 zu Ihnen gesagt haben soll: „Magister Martin, ich verstehe Euch nicht, Ihr klagt Euch der Sünde an und wisst doch keine Sünden aufzuzählen.“ Sie wollten den Sündensumpf, Sie brauchten ihn. Es hat auch Ihnen nicht gepasst, dass am Anfang des Christentums die moralische Autonomie des Menschen noch zur „frohen Botschaft“ gehört hat. Mit Augustinus waren nun alle für alle Zeiten zu „Sündenklumpen“ degradiert, verderbt, elend, schwach, unfähig zur Besserung. Die frohe Botschaft als drohende Botschaft, irgendwie muss Ihnen das gefallen haben. Und nicht nur Ihnen.

War nicht eigentlich der Bischof von Hippo der sogenannte Ketzer und seine Lehre eine Irrlehre, die das Christentum auf den Kopf stellte und Gott zum allerhöchsten Zyniker und Sadisten machte, der eine Spezies ewiger Sünder geschaffen haben soll? Pervers, sagen wir heute, schwer zu begreifen, auch ich hab das lange nicht begriffen, aber dieser höhere Ratschluss ist keineswegs unerforschlich: Weil Staat und Papst es so wollten, erklären uns die Historiker. Weil weltliche und geistliche Herrscher den unerschöpflichen Nutzen der Augustinischen Lehre erkannten. Noch ein garantiert sündenfreies Bier?

Denn wenn nun jeder böse und sündig ist, wenn alle Menschen per se schlecht sind, dann braucht es eine allmächtige Kirche, um einigen wenigen die Gnade des Heils zu vermitteln, und einen allmächtigen christlichen Staat, der die Sünder niederzuhalten hat. Dann braucht es die absolute Herrschaft von Papst und Kaiser, Bischöfen und Fürsten. Dann ist jedes obrigkeitliche Regiment recht und unverzichtbar, und sei es die Tyrannei. Nur wegen der Erbsünde, kurz gesagt, konnte das Christentum Staatsreligion werden.

Natürlich hatten sich viele Bischöfe gegen den scharfen Hund aus Hippo gewehrt, vor allem ein gewisser Pelagius, der das traditionelle humanitäre Christentum vertrat und sich auf den frühen Augustinus berief. Das konnte der alte Besserwisser nun gar nicht vertragen und wollte Pelagius von einer Synode zum Ketzer verdammen lassen, aber der verteidigte sich und galt weiter als rechtgläubig. Doch Augustinus gab keine Ruhe, rief seine nordafrikanischen Bischöfe zusammen, die stempelten den Gegner zum Ketzer und drängten schließlich auch den Papst Innozenz zu dieser Ansicht. Was die Christen dreihundert Jahre geglaubt hatten, war plötzlich zur Irrlehre erklärt. Pelagius beschwerte sich, dass er nicht angehört worden sei, und schickte eine Verteidigungsschrift an den Papst, aber der starb, bevor sie ihn erreichte. Sein Nachfolger Zosimus prüfte die Schrift, rehabilitierte Pelagius in allen Punkten, mahnte Augustinus und seine nordafrikanische Fraktion, die Sektiererei mit dem Erbsündenkrampf zu beenden, in Liebe zu handeln und den christlichen Frieden nicht zu stören, und entketzerte diesen Pelagius also wieder. Darauf ein Bier, prosit, auf die wilden Zeiten der Kirchengeschichte!

Doch Augustinus war ein Freund der kaiserlichen Familie, noch aus gemeinsamen Tagen am Hof in Mailand. Seinen Bischofsbruder Alypius als Botschafter schickte er mit achtzig numidischen Zuchthengsten über das Mittelmeer an den Hof in Ravenna. Rassepferde, arabische Hengste, die weitere Hengste und Stuten zeugten, springendes Schmiergeld, sehr begehrt am Hof der ravennischen Krieger, erst acht Jahre zuvor hatten die Goten Rom überfallen, Ravenna blieb nur dank seiner Sümpfe verschont. Die prächtigen Pferde wirkten allemal besser als die prächtigsten Argumente, Kaiser Honorius tat, was Augustin wünschte, erklärte Pelagius zum Störer der öffentlichen Ordnung und drängte Papst Zosimus, den Augustinus-Gegner wieder zum Ketzer zu erklären, zur ewigen Verdammnis zu verurteilen, zu verbannen, seine Schriften zu verbrennen, das übliche Programm.

Nachdem er sich durchgesetzt hatte, verkündete Augustinus das nächste Gesetz, das bald Dogma wurde: Rom hat entschieden, Schluss der Debatte, Roma locuta, causa finita. Alle andersdenkenden Christen und milder gestimmten Gemeinden wurden als Feinde und Teufel aus der Kirche getrieben. Der Erbsünden-Sieger kannte kein schlechtes Sünden-Gewissen. Jahrhundertelang schien das niemanden zu stören, es gab ja auch kaum ein Konzil ohne Korruption, Intrigen und Erpressung, und bei einem Heiligen, der nebenbei auch noch der lauteste Antisemit und Befürworter des heiligen Krieges und der Folter war, ist bekanntlich alles heilig.

Achtzig Hengsten und dem Genie eines einzigen Kirchenvaters verdankt das christliche Abendland sein stärkstes Seelenfolterinstrument, die Erbsünde, sowie die Verdammung jeder Art Geschlechtslust und Lebensfreude. Das ist gewiss nicht Ihre Sicht, Herr Luther, aber nehmen Sie es an diesem Tisch einfach mal zur Kenntnis, dass dieser Coup Folgen hatte für so gut wie jede Frau, jeden Mann, jedes Kind in den christlichen Ländern. Ein Apfelbiss im mythischen Paradies, missbraucht von einem tolldreisten Bischof, mit grausamsten Folgen. Und denken Sie nur an die Quälerei, bis Sie, Herr Luther, für die Protestanten und die Rechtfertigungslehre die Formel fanden, allein durch den Glauben werde die Erbsünde gelöscht.

Noch ein Bier? Gleich können Sie wieder auf Ihr Denkmal steigen, sich zurückziehen in die Bronze und lächeln über das alles, über das riesige Minenfeld der Sündentheologie und diesen morschen Grundpfeiler abendländischen Denkens. Ich bin gespannt, ob es Ihren alten Widerspruchsgeist nicht doch jucken könnte, ein wenig an der Autorität des alten Augustinus zu kratzen und das Kuckucksei als hohles Ei zu entlarven. Oder diesen segensreichen Widerspruchsgeist an Ihre Nachfolger auszuteilen. Kitzelt Sie nicht die Idee, dass beim Punkt Erbsünde wirklich mal eine Reformation fällig wäre, eine Reformation für Fortgeschrittene?

Zum Wohle! Nehmen Sie es als Kompliment, wenn ich sage, Sie werden noch gebraucht oder eine wie Sie oder einer wie Sie. Wer könnte aus der halben Reformation eine ganze machen? Immer noch ist es ein Tabu, dass die Erbsünde ebenso eine finstere Erfindung ist wie der Ablass. Bei kriminellen Aktionen der Kirchengeschichte hören die meisten Gläubigen gern weg, so wird das alte Erbsündendogma zu einem doppelten Tabu. Bei Katholiken, die auf ihren heiligen Augustinus nichts kommen lassen, wundert das nicht. Aber bei Protestanten? Können Sie Ihren Verehrern, den heutigen Kirchenmännern und Kirchenfrauen, wenigstens in diesem Lutherjahr etwas mehr Mut einhauchen, dies wacklige Dogma anzutasten? Die Erbsünde mit Verstand in die Tonne zu treten, es sich bei der Frage der Böswerdung des Menschen nicht mehr so dämlich einfach zu machen und Gut und Böse besser zu justieren? Bis jetzt schweigt man, aus Feigheit oder Faulheit oder Gewissheit, bläst fleißig die Posaunen für Luther und lässt die heikle Sündenkiste, den größten und verhängnisvollsten Coup der Kirchengeschichte, im tiefen, tiefen Keller des Verdrängten.

Da sehe ich noch eine Frage hinter Ihrer Stirn, richtig, sagte ich, verzeihen Sie, da ich die knappe Zeit nutzen wollte, bin ich noch nicht dazu gekommen, mich vorzustellen. Mein Name spielt keine Rolle, Herr Luther, um mich geht es nicht, ich bin nur ein kleiner Ketzer, wie die Gläubigen sagen würden. Ich habe schon als Kind nicht verstanden, weshalb ich ein Sünder sein soll, nur weil ich geboren bin. Das bisschen Schummeln und Lügen als Schulkind, das bisschen Wichsen oder Beischlaf mit Nichtangetrauten oder Nochnichtangetrauten, das kann einen Jüngling doch nicht zum Sünder machen. Ach, da gehen Sie lieber, warten Sie, noch eine letzte Frage: Wenn es eine Sünde sein soll, ein „gestörtes Verhältnis zu Gott“ zu haben und nicht an ihn zu glauben, könnte das nicht auch der Fehler von Augustinus oder von Ihnen sein, ein Bau- oder Webfehler der christlichen Gotteskonstruktion? Verstehe, da stolpern Sie lieber auf Ihren Sockel zurück. Sei’s drum, meine heitere Gelassenheit als Agnostiker, rief ich dem Fliehenden noch nach, speist sich unter anderem aus dem tröstlichen Satz von Georg Christoph Lichtenberg: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.“

( F.A.Z. PLUS, 29.10.2016)

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