Richard Kämmerlings
Richard Kämmerlings: Wunder gibt es immer wieder
Wenn linke Verteidiger vom Steilpaß träumen: Der Schriftsteller F.C. Delius wird sechzig
„An Gott kommt keiner vorbei – außer Libuda“ – das soll ein pfiffiger Untertan des einstigen Schalker Dribbelkönigs auf einem Werbeplakat der evangelischen Kirche verewigt haben. Verteidiger, dem Wesen nach keine Filigrantechniker, haben es da schwerer, vor allem wenn sie auch noch aus einer Pfarrersfamilie stammen und ihre Kindheit unter der doppelt drohenden Aufsicht des leiblichen und des himmlischen Vaters verbracht haben. Der Lyriker und Erzähler Friedrich Christian Delius wurde am 13. Februar 1943 in Rom geboren, aufgewachsen ist er im nordhessischen Wehrda. Als ein neues Kapitel der „Dichtung deutscher Pfarrerssöhne“, die Albrecht Schöne in einer berühmten Studie untersucht hat, könnte man sein Werk betrachten: Säkularisation als sprachbildender Saft.
Das gilt nicht für seine späten, autobiographisch grundierten Erzählungen, sondern auch schon für die Lyrik, mit der Delius in den sechziger Jahren, inzwischen der Provinz nach Berlin entkommen, die Szene betrat: „Da fliegt / ein Funke durch die Luft.// Schon überlegt der Brandmeister, / ob man nicht schnell / Pulver holen sollte, / bevor er stirbt ohne Absolution“, so das Gedicht „Feuer III“ von 1963. Der Flächenbrand der Revolution war der Messianismus seiner Generation, deren Scheitern Delius teilnehmend beobachtete.
Schönes Studie erschien 1958, im Jahr der Fußballweltmeisterschaft nach dem „Wunder von Bern“, das Delius in einem seiner besten Werke zugleich als privates Pfingsten schilderte. „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ von 1994 ist eine amüsante, aber zugleich von einem schmerzhaften Bildungsprozeß gezeichnete Miniatur aus einem Pfarr- und Gefühlshaushalt der Adenauer-Ära. Die Abwehrschlacht gegen die ungarischen Ballzauberer, die Verteidigung der nahe gelegenen Zonengrenze durch die amerikanischen Soldaten und die innere Defensive gegen die elterlichen Normen verbinden sich kunstvoll zu einem Porträt des Künstlers als junger Mann. Der Radioreporter Herbert Zimmermann wird dem Kind zum Lotsen in eine Sprachwelt jenseits des allgegenwärtigen, ihm zum Schweiger und Stotterer verurteilenden Gottesworts.
In dem drei Jahre später erschienen Buch „Amerikahaus oder der Tanz um die Frauen“, das eine Episode aus dem Jahr 1966 erzählt, wartet der schüchterne und stotternde Student Martin auf ein Wunder, das nun „langbeinig“ sein kann, „schön, nicht dumm, einen Rock tragen und einen Stummen verstehen“ muß. 1968 hatte Delius für die „Mitläufer“ der Revolte beißenden Spott übrig gehabt: „Als hätt der ganze Klassenkampf auf ihn gewartet / Und einen interessanten Lebenslauf extra für ihn gestartet“.
„Ich schreibe, biographisch gesehen, weil ich ein schlechter Schwimmer bin. Ich traue der Oberfläche nicht“, sagt er 1986 im Gespräch mit dieser Zeitung. So geht er oft vom Dokumentarischen aus und versucht, etwa in der ambitionierten Romantrilogie über den „Deutschen Herbst“, den oberflächlichen Fakten erzählerische Tiefe abzugewinnen. Der Gefahr, die epische Form zur Geisel des politischen Stoffes zu machen, ist er dabei nicht immer entgangen.
Als größte sportliche Leistung bezeichnete Delius jüngst den „Steilpaß auf Wolfgang Neuss im Sommer 1969 in Berlin-Schlachtensee“. Die Utopie des Abwehrspielers ist der spielentscheidende Traumpaß. Dabei dürfen gerade linke Verteidiger nicht zimperlich sein. Als Kämpfer mit harten Bandagen wurde Delius in den siebziger Jahren bekannt. Erst zerrte ihn der Siemens-Konzern wegen einer „satirischen Festschrift“ zum Firmenjubiläum vors Gericht, dann gab es einen langen Rechtsstreit mit dem Kaufhauschef Helmut Horten um einige Schmähverse.
Daß ihm als engagierten Schriftsteller kein Platzverweis auf die Tribüne des politischen Zuschauers drohte, verdankt Delius seinem Sprachbewußtsein, das in der Tradition Brechts steht – nicht zufällig eines anderen fleißigen Bibellesers. Vielleicht wird vor allem seine Lyrik bleiben, ein Auswahlband trägt den treffenden Titel „Selbstporträt mit Luftbrücke“. Daß für Delius zuletzt die adelige Abstammung seiner Mutter – sein letzter Roman beschäftigt sich ironisch mit der jüngsten Preußen-Renaissance – in den Mittelpunkt rückte, kann aber nicht überraschen. Denn Weltmeister wurden wir 1954 nicht zuletzt mit preußischen Tugenden.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.2.2003)