Alfred Döblin
Alfred Döblin – von unstillbarer Neugier aufs Alltägliche besessen
Kein Name eines Autors wird so flink mit Berlin assoziiert wie der Name Döblin. Seit dem Roman „Berlin Alexanderplatz“ gilt die literarische Gleichung: Döblin = Berlin, und über ihre Gültigkeit sind Leser, Wissenschaftler und Heimatforscher erstaunlich einig. Schon 1929 war den meisten Kritikern, auch das ist ungewöhnlich, der Rang der „Geschichte vom Franz Biberkopf“ klar. Und über sechzig Jahre später zweifelt niemand mehr, daß unter allen literarischen Werken der zwanziger Jahre allein dieser Roman dem Kosmos Berlin gewachsen war, ja: daß Berlin nirgends so gebündelt ist wie hier.
Es ist viel darüber geschrieben worden, welchen Kunstgriffen das Buch seine Wucht und Wirkung verdankt: der Alexanderplatz als Mitte der Zentrifuge Stadt, der Herztakt des Franz Biberkopf, das halbkriminelle Milieu als Unterbau der Gesellschaft, der vergebliche Kampf, ein anständiger Mensch zu werden, oder die beherzte, lockere Montagetechnik. Alles richtig, aber Döblins wichtigste Leistung war: Berlin zum Subjekt zu erheben.
Er hat die Stadt, im wörtlichsten Sinn, zur Sprache gebracht. Er konnte das, weil er von einer unstillbaren Neugier aufs Alltägliche besessen war, weil er, frei vom ideologischen Blick, gleichsam hinter die Gegenstände, hinter seine Figuren zurücktrat und sie zum Sprechen brachte, zuhörte, sammelte, schrieb, montierte. Er konnte das, weil er sein Berlin kannte, aber noch mehr, und das wird häufig übersehen: weil er Berlin und die Berliner liebte. „Das Buch ist ein Monument des Berlinischen, weil der Erzähler keinen Wert darauf legt, heimatkünstlerisch, werbend zur Stadt zu stehen. Er spricht aus ihr. Berlin ist sein Megaphon.“ So Walter Benjamin.
Der „Alexanderplatz“ ist überdies ein Produkt einer großstädtischen Bescheidenheit. An keiner Stelle des Romans, ja in kaum einem seiner Bücher (außer „Pardon wird nicht gegeben“) macht Döblin sich selbst zum Mittelpunkt. Wie produktiv diese Tugend als literarisches Konzept war und ist, begreift man vielleicht erst heute, da seit den siebziger Jahren das Gegenteil als Hauptmode gilt: Identitätssuche, Bruchpflege zwischen Ich und Welt, räsonierende Weltbeschau. Schon früher hat er gefordert – und sich daran gehalten: der Autor solle sich nicht so wichtig nehmen. „Die Hegemonie des Autors ist zu brechen; nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleugnung getrieben werden. Oder der Fanatismus der Entäußerung: ich bin nicht ich, sondern die Straße, die Laternen, dies und das Ereignis, weiter nichts.“
Aber selbst, wenn er „Berlin Alexanderplatz“ nicht geschrieben hätte, wäre Alfred Döblin falls Superlative nötig oder gestattet sind, der größte Berliner Autor seit Fontane oder trotz Fontane. Döblins Ruhm leidet jedoch unter dem Ruhm seines Hauptwerks, das auf die anderen Bücher so lange Schatten geworfen hat, daß man auch 1993 sagen muß: da ist noch viel zu entdecken.
Seine beiden anderen Berlin-Romane sind fast unbekannt. „Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine“, 1914/15 geschrieben, 1918 erschienen, ist die groteske Geschichte vom Verfolgungswahn eines Unternehmers, voll Chaplinscher Komik, ein verstörend verrücktes, weitsichtiges Buch. Im Kapitel „Die Belagerung von Reinickendorf“ verteidigt Wadzek sein Landhaus gegen einen eingebildeten Feind, seinen Konkurrenten und das restliche Berlin: eine Kämpfernatur verheddert sich aufs schönste im Wunschdenken. Der Mensch wird maschinenähnlich, Gegenstände nehmen, wie später im „Alexanderplatz“, menschliche Fähigkeiten an, sprechen, denken, handeln. – Dann die vier Bände „November 1918“, Chronologie einer Niederlage in der Niederlage als traurige Komödie geschildert, teils in bester Döblin-Prosa, teils karikierend, scharf, witzig, teils in den Trivialitäten eines religiösen Entwicklungsromans verfangen. Auch hier ist der Kosmos Berlin erfaßt, zwischen Generälen und Lazaretten, zwischen Bürgern und Soldaten verläuft die Revolution im Sande – und das beschreibt kein Geschichtswerk präziser als dieser Roman aus finsterster Emigrationszeit.
Berlin als Sujet, als Stoff, das wäre aber nur die halbe Wahrheit über Döblin. Aus Stettin zehnjährig mit Mutter und Geschwistern nach Berlin zugewandert, hat er stets gewußt, wo sein Antrieb lag. „Mein Denken und Arbeiten geistiger Art gehört, ob ausgesprochen oder nicht ausgesprochen, zu Berlin. Von hier hat es empfangen und empfängt dauernd seine entscheidenden Einflüsse und seine Richtung, in diesem großen nüchternen strengen Berlin bin ich aufgewachsen, dieses Steinmeer (ist) der Mutterboden aller meiner Gedanken (…). Diese Mietskasernen und Fabriken sind durch die Jahrzehnte mein Anschauungs- und Denkmaterial gewesen, und ob ich von China, Indien und Grönland sprach, ich habe immer von Berlin gesprochen, von diesem großen starken und nüchternen Berlin.“ (1930) Aus dieser Sicht hat Döblin, wie kein deutscher Autor vor ihm, eine großstädtische Ästhetik entwickelt. Als großstädtisch könnte man seinen Sinn für das Gleichzeitige, für das Durcheinander, Gegeneinander, Nebeneinander bezeichnen: „Die Welt, brüllend von Realitäten an tausend Stellen gleichzeitig Tatsachen ausschwitzend…“
Es gibt kaum ein Buch, das nur aus einer Perspektive geschrieben ist. Überall vielsträngiges, synchrones Erzählen, souveräne Schnittechnik. Zumindest die sechs, sieben großen Werke leben von der Spannung zwischen der intensiven Darstellung vieler Menschen, der Masse, und der Bewegung des einzelnen darin. Er suchte die Abläufe zu erfassen, wegzukommen vom psychologisierenden Erzählen. Sein Thema, immer wieder: Aufstand, Kampf, Krieg, dazwischen die gebeutelten, revoltierenden Individuen. Sein Hunger auf Wirklichkeit trieb ihn, ständig die Perspektive zu erweitern. Im „Wang-Lun“ hat er bis China geschaut, in den „Giganten“ bis Grönland, in der Amazonas-Trilogie sich, recht angestrengt, durch Südamerika gearbeitet.
Dem Tempo der Stadt paßte sich der Arzt für Innere und Nervenkrankheiten aus der Frankfurter Allee 340 auch in seiner Produktivität an. Innerhalb von 12 Jahren schrieb er „Wallenstein“, den Kriegsroman aus dem 17. Jahrhundert mit den Mitteln des 20., den apokalyptischen Roman „Berge, Meere und Giganten“, der im 25. Jahrhundert spielt, und das Gegenwartsbuch „Alexanderplatz“ – und dazwischen die Glossen von Linke Poot, das Polenbuch, das Versepos „Manas“, das Stück „Die Ehe“, viele Aufsätze und Erzählungen, dazwischen die Arbeit im Schutzverband der Schriftsteller, in der Preußischen Akademie und beim Rundfunk.
1931 zog er in den Berliner Westen (Kaiserdamm 28), bereute das bald und wollte 1933 in den Osten zurück – und mußte bis Kalifornien gehen, um zu überleben. Der allgemeinen Schande, die ihm von den Nazis angetan wurde, folgte die besondere Schande, welche die deutsche Kulturöffentlichkeit der Nachkriegszeit noch draufsetzte. Gewiß haben die Konversion des jüdischen Preußen zum Katholizismus und die allmähliche, von der schnöden Ablehnung nach 1945 beschleunigte Wandlung des fröhlichen Zynikers zum verbitterten Sturkopf seinem Werk und der Rezeption geschadet. Am Ende bekam der kranke alte Döblin aus Berlin-West ein bißchen Geld und aus Berlin-Ost die im Westen lange verschmähte Drucklegung seines letzten Romans „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“.
Ein Mann solcher brüchigen Größe eignet sich für Denkmäler nicht. Anders als Thomas Mann und Brecht hat er seine Zerrissenheiten, seine Widersprüche nicht geleugnet, im Gegenteil, er hat sie mit „wohltätiger Frechheit“ (J. Roth) offengelegt – und das macht ihn moderner als jene. Er ist nicht zu zerlegen in den sozialistischen, bürgerlichen, mystischen, sozialdemokratischen, anarchistischen, katholischen, den Milieu-, Familien-, Historien-, Natur- oder Stadt-Döblin. Er war nie dort, wo man ihn vermutete, er sprang aus jeder Schublade, in die man ihn stecken wollte. Da ihm keine Schreibweise fremd war und da er mit jedem neuen Buch die Erwartung seines Publikums nicht bediente, hat er, obwohl von so gegensätzlichen Autoren wie Brecht und Grass als Lehrer verehrt, keine Schule gemacht, keine Epigonen gefunden. Weil sich in seinem Werk das Geniale neben dem Durchschnittlichen, das Pathetische neben dem Nüchternen, die Komik neben der Andacht findet, weil er nie einseitig war und unbrauchbar für Ideologen, ist Döblin wenig geliebt worden. Er fordert seinen Lesern etwas von der Fähigkeit ab, die er im Übermaß besaß und die als typisch berlinisch gilt: Humor. „Ich bin immer gerecht nach jeder Seite gewesen, die sich nur blicken ließ. Ich habe nie versäumt, wo ich ‚ja‘ sagte, gleich hinterher ’nein‘ zu sagen. Dies Schaukelpferd ritt ich mit Schneid und Eleganz in einer Zeit, wo jeder die Pflicht hat, eine wohlarrondierte Meinung zu exekutieren. Ich habe die Wut der Gerechten erregt: und was kann ein armer Schächer ohne Plattfüße mehr.“ (1920)
Deshalb soll es im Literaturort Berlin so bleiben: fünf Straßen für Uhland, darunter eine ziemlich prächtige, und für Döblin einen Platz, der keiner ist, in Kreuzberg, und eine Nebennebenstraße in Marzahn.
(Der Tagesspiegel, 14.02.1993)