Lutz Seiler
Begrüßung Lutz Seiler, Akademie der Künste
(geplant für 24. März, verschoben auf den 2. September 2020)
Guten Abend, meine Damen und Herren, lieber Lutz Seiler, lieber Lothar Müller,
ich begrüße Sie im Namen der Sektion Literatur der Akademie der Künste – und hätte Sie alle und noch einige mehr lieber am 24. März begrüßt. Die Gründe für die Vertagung sind bekannt, wenden wir uns also straks der Literatur zu.
Nach dem Brauch dieses Hauses soll eine Begrüßung möglichst kurz und und möglichst subjektiv sein, aber auch möglichst würzig, gedankenreich und im literarischen Kontext die Hauptperson des Abends würdigen.
Das ist natürlich unmöglich, und doch hab ich Lutz Seilers Bitte, bei seiner Buchvorstellung den Grußonkel zu machen, nicht ablehnen können.
Nicht nur, weil ich Seiler seit Jahren schätze als Dichter und mit vielen Wassern gewaschenen Prosa- und Romanautor. Noch mehr, weil ich mich gerne und wirklich neidlos freue oder mitfreue, wenn meinen geschätzten Kolleginnen und Kollegen etwas, wie ich finde, wirklich Großartiges gelungen ist. Das kommt nicht häufig vor, aber in diesem Jahr ist es mal wieder so weit.
Weil der Roman „Stern 111“ uns in die Vereinigungs- und Aufbruchsjahre 1989, 1990, 1991 führt, hat er mich bereits auf den ersten Seiten an eine Rede erinnert, die im Mai 1993 in der Akademie der Künste gehalten wurde, nicht hier, sondern am Hanseatenweg. Es war die Zeit des großen Jammerns über den angeblichen Bedeutungsverlust der Literatur und über die wachsenden Schwierigkeiten für Kunstproduzenten in dem für viele noch ungewohnten Verdrängungswettbewerb der Marktwirtschaft.
Diese Rede beginnt so:
„Selten waren die Zeiten für Schriftsteller so günstig wie heute: nicht in jedem Jahrhundert war es den aufmerksameren Leuten vergönnt, ein Gesellschaftssystem ohne Krieg zusammensinken zu sehen und seine Vereinigung mit einer stärkeren, anders verfaßten Gesellschaft zu beobachten, also, um von Menschen zu reden, millionenfache Brüche der Lebensläufe und Lebensrhythmen, der Gewohnheiten und Orientierungen wahrzunehmen und des näheren zu beschreiben.
Selten war die Intelligenz so gefordert wie in dieser immer weniger friedlich sich verändernden Gesellschaft, bislang ungewohnte Kontraste zwischen Befreiung und Verelendung zu erfassen (…) Überall sind Nuancen zwischen eingebildeter und wirklicher Aussichtslosigkeit zu erspüren, überall, ich spreche von der Literatur, wäre neues, unerhörtes Material, das buchstäblich auf der Straße liegt, zu sehen, aufzuheben und zu bearbeiten.
Kurz, so viel Spannung war nie, und die Schriftsteller sind gut dran, die ihre eigenen Spannungen auf die allgemeinen Zerreißproben zu projizieren verstehen. Leider gibt es noch nicht sehr viele Autorinnen und Autoren, die sich diesen Reibungen, den veränderten Wirklichkeiten stellen ohne sie zu bejammern, ohne sie zu beschönigen.“
Entschuldigen Sie bitte das lange Zitat, meine Damen und Herren, und entschuldigen Sie bitte auch, dass ein älterer Herr ausnahmsweise mal sich selber zitiert – aber das passte einfach zu gut. Der Anfang der Laudatio auf den damals noch völlig unbekannten Reinhard Jirgl für den Alfred-Döblin-Preis scheint mir wie eine passende Einleitung für den ganz anders schreibenden und heute durchaus bekannten Lutz Seiler.
Inzwischen ist viel passiert in der deutschen Literatur, und Seiler ist nicht der einzige Autor, der meine Erwartungen von einst souverän erfüllt und übertroffen hat. Aber nur wenige Autorinnen und Autoren haben so viel „neues, unerhörtes Material, das buchstäblich auf der Straße liegt“ aufgehoben und bearbeitet wie er. Wenn Sie, meine Damen und Herren, diesen Roman lesen werden, was Sie wahrscheinlich längst getan haben oder spätestens nach diesem Abend gewiss tun werden, dann werden Sie vielleicht verstehen, dass mir die Zuversicht meiner alten Rede bei der Lektüre von „Stern 111“ immer wieder durch den Kopf ging und ich sie aufs Schönste erfüllt sah. Dass beinah dreißig Jahre dazwischen liegen, muss uns nicht stören, es handelt sich hier schließlich um große Literatur, und die braucht ihre Zeit.
Erlauben Sie mir also bitte meine Rührung über die historische Koinzidenz, ungefähr zur gleichen Zeit von solchen Geschichten, Romanen wie „Stern 111“ geträumt zu haben, als die Geschehnisse gerade erst geschahen, als die Protagonisten des Romans gerade erst ihre Erfahrungen machten, durch die neue Unübersichtlichkeit tappten und das Material sammelten, das jetzt Literatur geworden ist. Als Carl Bischoff und seine Freunde, als die Figuren dieses Romans und, werweiß, auch der jüngere Lutz Seiler, im Raum Oranienburger Straße/ Rykestraße/ Wasserturm tätig waren – um es mal neutral zu sagen. Als sie durch das „neue, unerhörte Material“ stolperten, das buchstäblich auf der Straße und in den Häusern lag rund um die Oranienburger und die „Assel“. Als Carl Bischoffs Eltern eine der irrwitzigsten innerdeutschen, ja transatlantischen Migrationsgeschichten aus den Vereinigungsjahren absolvierten, die zielstrebige Eroberung des Westens durch ein mittelaltes Ehepaar aus Gera mit Akkordeon.
Da brauchte einer nach fast dreißig Jahren nur sensibel, präzise erinnernd hinzuschauen, die Phantasie zu stimulieren und, was das Schwerste ist, die richtigen formalen Entscheidungen zu treffen, um seinen „Stern“ erschallen und leuchten zu lassen und dabei fröhlich zu pfeifen auf den falschen Ehrgeiz oder die falsche Erwartung eines sogenannten Wenderomans – was für ein scheußlicher Sortierbegriff, verlogener noch als das verlogene Wort Wende.
Bevor Lutz Seiler und Lothar Müller gleich mehr zu all dem sagen werden, möchte ich eines verraten, was Ihnen die beiden, aus Bescheidenheit oder Scham vor großen Worten, vielleicht nicht sagen werden: Man spürt in diesem Buch auf jeder Seite den Dichter, damit meine ich die unaufdringliche Originalität und Leichtigkeit der Sprache in jedem Absatz und jedem Satz.
Außerdem dürfen Sie sich freuen auf die Fülle wunderbarer Details, die es in diesem Buch zu entdecken gibt. Auf die Erweiterung Ihrer Kenntnisse über das Handwerk des Mauerns oder des Einbrechens oder des Kellnerns oder des Schreibens, auf Einblicke in die Mühsal der Kunst und die Einfachheit des Verkaufens von Mauerstücken. Auf Beispiele bisher unbeschriebener westlicher Besserwisserei. Sie erfahren viel über die lebensentscheidenden Rolle von Autos und Radios und, noch wichtiger, die richtige Rudelbildung in Schwellenzeiten, über Thomas Kunst, Heiner Müller und Hans Arp. Dazu unvergessliche Sätze wie diesen, den eine Figur aus „Kruso“ nun in Berlin Mitte sagt: „Die Freiheit findet ihre Jünger, immer und überall, wenn du verstehst, was ich meine.“
Oder das schöne Detail am Anfang, wo wie nebenbei von jener Gegend an der Grenze zwischen Thüringen und Sachsen gesprochen wird, in der sich, wie auch dort der Spruch behauptet, „Fuchs und Hase gute Nacht sagen“. Und was macht der Dichter Seiler daraus? Eine Phantasie in fünf Zeilen, die in einem Chor endet, der nicht nur die Gegend, die Tiere, sondern auch drei Dichter beschwört, geheimnisvoll und doch von schöner Deutlichkeit: „Gute Nacht, ihr Hasen von Gera, ihr Füchse von Altenburg, ihr Meuselwitzer Raben, gute Nacht!“ Für die Nicht-Insider sei hier verraten, dass man bei Gera an Seiler, bei Altenburg an Ingo Schulze, bei Meuselwitz an Wolfgang Hilbig denken darf.
In diesem Sinne: einen guten Abend und eine gute Nacht mit Lutz Seiler und Lothar Müller!