Christian Wolff
Vernünfftige Gedancken auf der Würfelwiese
(Gedenkminuten für Christian Wolff)
Die Rechtschreibung, dachte ich am Ufer der Saale in Halle, wie wäre es, bei zwei Wörtern/Wortstämmen die Rechtschreibung ein wenig zu ändern, um einen großen Mann zu ehren? Ein neues „ff“ und ein „ck“, wäre das nicht eine angemessene Würdigung für den Erfinder der „vernünfftigen Gedancken“?
Wenn sich andere eifrige Menschen bemühen, die deutsche Rechtschreibung mit Sternchen, schrägen Strichen oder angeklebten X-Lettern zu verhässlichen, um der Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt wenigstens in Worten zum Durchbruch zu verhelfen, und wenn diese neue Mode in einem Teil der Gesellschaft immer mehr Raum gewinnt, warum soll dann nicht ein anderer Teil der Gesellschaft etwas von den alten Moden ins Gespräch bringen und die Sprache verschönern? Zum Schutz der winzigen Minderheit derjenigen, die in einer Epoche hitziger Lügenkonjunktur dazu beitragen, der Wahrheit wenigstens in Worten zum Durchbruch zu verhelfen? So dachte ich, der Duden-Redaktion in Mannheim den Vorschlag zu machen, bei den Wörtern Vernunft und vernünftig in Ausnahmefällen, wenn wirkliche Vernünftiges gemeint sei, die Schreibung Vernunfft und vernünfftig zuzulassen, ebenso beim Wort Gedanken, im Fall solider Gedankenarbeit, auch Gedancken.
Nein, ich war nicht betrunken an der Saale hellem Strande, der „Krug zum grünen Kranze“ war noch gut zwei Kilometer entfernt. Ich wusste sehr wohl, dass die Saale keinen Strand hat, geschweige denn einen hellen, jedenfalls im Stadtgebiet von Halle. Und wusste ebenso, dass die Duden-Redaktion die Sprach- und Wortentwicklung nur beobachtet und registriert und keinen von mir oder sonstwem geäußerten Wunsch in einen Regelbefehl verwandeln kann.
Wir saßen auf der Würfelwiese, ein Parkstück, das seinen Namen von den Volksfesten früherer Jahrhunderte hatte, bei denen offenbar die Glücks- und Würfelspiele am populärsten waren. Meine Gefährtin und ich ließen die Phantasie sprießen, wir überlegten, wie man an Rebellen erinnern, wie man einen alten Rebellen der Vernunft ehren könnte, den heute außerhalb der Fachwelt keiner mehr kennt. Einen Philosophen, der mir schon wegen seiner langen Buchtitel gefiel, die mit „Vernünfftige Gedancken“ beginnen, dann den Gegenstand benennen, Logik, Ethik, Natur, Metaphysik usw., und mit „den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet von Christian Wolffen“ enden. Was fangen wir 2021 mit einem fast vergessenen deutschen „Frühaufklärer“ an, wie manche etwas abschätzig sagen, der vor exakt dreihundert Jahren, im Juli 1721, die denkende Menschheit und „Liebhaber der Wahrheit“ einen markanten Schritt voran gebracht hat?
Kaum bekannt ist heute die Geschichte von Christian Wolffs skandalöser „Rede von der Sittenlehre der Sineser“, die er auf Lateinisch gehalten hatte und die in modernem Deutsch als „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ nachzulesen ist. Ein Grund mehr, den Mut dieses Hallenser Professors heute besonders zu belohnen. Mit einem einzigen Auftritt gelang es ihm, die Deutungshoheit der Theologen über Gut und Böse infrage zu stellen, sich danach auch vom preußischen König nicht einschüchtern zu lassen, für die Meinungsfreiheit ins Exil zu gehen und damit auf die Intellektuellen in ganz Europa einzuwirken und die Aufklärung entscheidend voranzutreiben.
Wolff (1679-1754) gilt heute nicht mehr als Starphilosoph. Er war wohl nicht so umfassend gebildet wie Leibniz, nicht so weise wie Mendelssohn, nicht so menschenfreundlich und ästhetisch versiert wie Lessing, nicht so systematisch und radikal wie Kant. Doch allein für seine Entscheidung zur Weitsicht, über Preußen und den abendländischen Kulturkreis hinaus, von Halle bis nach Peking, von der Würfelwiese bis zu Konfuzius zu schauen, daraus „vernünfftige Gedancken“ zu entwickeln und dafür bestraft und vertrieben zu werden, hätte er heute mehr als die übliche Festrede und die übliche zoomgestützte Tagung verdient.
„Die Chinesen“ waren schon vor dreihundert Jahren ein heikles Thema. Die Europäer hatten immer noch mit der schweren Kränkung zu kämpfen, dass es in China eine sehr viel ältere und solidere Kultur als die ihre gegeben hatte. Noch schlimmer, allem Anschein nach hatten im fernen Osten über viel längere Zeiträume mehr Vernunft, Toleranz und effektive Verwaltung geherrscht als im Westen. (Was Leibniz auf den Gedanken brachte, chinesische Missionare einzuladen, um die konfuzianischen Tugenden den kriegerisch stets aufs Neue zerstrittenen Europäern beizubringen und ihren moralischen Verfall zu bremsen.) Und nun kam ein Hallenser Mathematikprofessor, der sich zu einem Moralphilosophen fortgebildet hatte, der protestantischen Perückengesellschaft mit der Weisheitslehre des von jesuitischen Missionaren ins Lateinische übersetzten Konfuzius. Er nutzte den höchsten Universitätsfeiertag, die Übergabe des Prorektorats, um nachzuweisen, dass konfuziusgeschulte Chinesen tugendhafte, gute Menschen sein konnten, ohne Christen zu sein. Die Provokationen standen zwischen den Zeilen: das konfuzianische Gebot der praktischen Nächstenliebe schien effektiver als das christliche, Heiden konnten besser als viele Christen sein. Eher als der Glaube seien gute Beispiele und die Orientierung am Gemeinwohl geeignet, die Welt zu bessern. Im übrigen habe sich erwiesen, dass Erbfolge bei Herrschern eher schade. Außerdem trage der freie Wille, nicht die Furcht vor einem Herrn an meisten zur Erziehung, zur Tugendbildung bei. Gute Vorbilder seien für das Volk besser als Befehle.
Der Philosoph hatte die Prorektoratswürde (den Titel Rektor führte der preußische König) einem Theologen übergeben, mit vielen theologischen Absicherungen und Komplimenten, nicht ohne gebräuchliche akademisch-ironische Floskeln: „Männer von übermenschlicher Weisheit – wir verehren sie unter dem Namen der Theologen“. Ihr Aufschrei der folgte prompt, sie waren eifrige Pietisten, geschart um den sonst so verdienstvollen August Hermann Francke. Dieser verlangte das Manuskript zu lesen, Wolff sah keinen Grund, es herzugeben, sein Vorteil war, dass das kompakte Latein der Rede niemand verlässlich im Kopf behalten oder protokolliert haben dürfte. So begann der „Hällische Streit“ – ohne jede Textgrundlage (erst 1726, im hessischen Exil, rückte Wolff die Rede heraus, mit vielen Anmerkungen). Wer behauptet, Atheisten oder Nichtchristen könnten auch gute Menschen sein, selbst wenn sie Chinesen sind, der rüttelte nach Ansicht der Theologen an den Fundamenten der Religion und musste ein Sympathisant der Atheisten sein. Francke schickte Studenten als Spione in Wolffs Vorlesungen, sammelte die angeblichen Anstößigkeiten und hatte das Ohr des Königs Friedrich Wilhelm I. von Preußen. Wolff spottete über den Kleingeist der Theologen, machte sich mit Sturheit auch in Berufungsfragen unbeliebt, und so fort. Auch am preußischen Hof gab es rivalisierende Berater, und so dauerte es über zwei Jahre, bis es Francke gelang, den König vom angeblichen Atheismus Wolffs zu überzeugen und zu dem Geständnis zu bringen „ich habe das nit gewuhst das der wolf so gottlohse ist“. Für alle überraschend erhielt Wolff im November 1723 den Befehl, „binnen 48 Stunden nach Empfang dieser Ordre die Stadt Halle und alle unsere übrige königl. Lande bey Strafe des Stranges“ zu verlassen.
Todesstrafe oder Verbannung, das war selbst für den Tabakskollegiums-Soldatenkönig stärkster Tobak. Doch dieser Akt führte zu einer enormen Aufwertung der Philosophie. Die Aufklärung war zu einer politischen Sache geworden. Selbst wenn Wolff „die Chinesen“ nur als Mittel zum Zweck benutzt hätte, die Philosophie von der Theologie zu befreien, der Erfolg gab ihm recht. Der Skandal machte den Redner zum Helden, seine Gegner zu Deppen, das Ereignis einer kleinen, rhetorisch eher mittelmäßigen lateinischen Rede zum Markstein der europäischen Philosophiegeschichte. Die Rolle des Märtyrers muss man Wolff nicht zuschreiben, das Exil an der Marburger Universität war komfortabler als das Leben in Halle. Nach fünfzehn Jahren erreichte man beim alten König die Neigung zur Rehabilitierung, doch erst der neue König, der junge Fritz, hob 1740 die Verbannung auf, es war eine seiner ersten Amtshandlungen. Wolff kehrte im Triumph zurück, seine Wirkung auf die nächste Studentengeneration soll für ihn enttäuschend gewesen sein. Dafür gab es nun einen Herrscher, der viele seiner Ansichten teilte.
Das alles ist heute gut dokumentiert, etwa im Ausstellungskatalog „Die Causa Christian Wolff“ der Franckischen Stiftungen von 2015, in einer neuen Biographie von Hans-Joachim Kertscher, in wissenschaftlichen Editionen. In Halle gibt es eine Christian-Wolff-Gesellschaft und eine Initiative für ein Wolff-Denkmal. Aber das ist zu wenig, sagte ich auf der Würfelwiese rechts der Saale, wie könnte Europa, wie könnten die Deutschen ihren unterschätzten Wolff ins allgemeinere Bewusstsein rücken? Was tun anlässlich des 12. Juli 2021, exakt dreihundert Jahre nach der „oratio de sinarum philosophia practica“?
Eine Festrede? Geschenkt. Eine Briefmarke? Das war einmal. Einen Preis? Ja, warum nicht den nächsten Frankfurter Adorno-Preis oder den Stuttgarter Hegel-Preis posthum für Christian Wolff, was sind schon dreihundert Jahre? Das wäre mal ein Anfang, doch so viel philosophischen Humor traue ich diesen Juries dann doch nicht zu.
Nein, man müsste Wolff auf das Debattierfeld holen, das zu einem der letzten intellektuellen Schlachtfelder geworden ist, auf das Feld der Rechtschreibung. Ein paar vernünftige oder vernünfftige Leute könnten noch in diesem Jahr damit anfangen, in bestimmten Fällen Vernunft mit zwei f und Gedanke mit ck zu schreiben und, wo immer das möglich ist, gegenüber Korrektoren und anderen Kontrollinstanzen durchzusetzen. Auch die winzige und eher schweigende als zwitschernde Minderheit derer, die noch auf Vernunft, Aufklärung, geprüfte Wahrheiten und „hochtouriges Denken“ (George Steiner) setzen, hat ein Recht auf Gehör und auf Minderheitenschutz gerade in Zeiten permanenter Verhöhnung und Diskriminierung dieser zugegeben etwas altmodischen Errungenschaften des „Vermögens, den Zusammenhang der Wahrheiten zu erkennen“, wie Wolff die Vernunfft definierte. Es bedarf freilich einiger Lobbyarbeit, bis auch die Sprachwissenschaft, die Feuilletons, die akademische Welt und am Ende der Duden uns beispringen werden: das Licht der Aufklärung soll im Sinne Christian Wolffs bis in die Orthographie, bis in die Buchstaben hinein leuchten!
So schweiften unsere unvernünfftigen Gedancken über die Würfelwiese, ehe wir aufstanden und weiterliefen. Die schöne Strecke bis zum „Krug zum grünen Kranze“ lag noch vor uns. Über die Pointe, dass „die Chinesen“ einst den Deutschen Entwicklungshilfe bei der Aufklärung leisteten, heute aber in ihrem Einflussbereich Aufklärung und Meinungsfreiheit mit aller Macht bekämpfen, mochte ich jetzt nicht räsonieren. Lieblich war der Sommertag.
(FAZ vom 10. Juli 2021)