Friedrich Christian Delius, FCD

Es gibt nichts Spannenderes als die Gegenwart

„Es gibt nichts Spannenderes als die Gegenwart“

Interview Rhein-Neckar-Zeitung, 25. Februar 2006


Herr Delius, Ihre Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ steht im Zentrum der großen Leseaktion „1 Buch im Dreieck“ mit rund 560 Veranstaltungen in der gesamten Metropolregion Rhein-Neckar. Was bedeutet dieser Veranstaltungsmarathon für Sie als Schriftsteller?

Zugegeben, ich finde das alles großartig. Diese Aktion widerlegt das dumme Gerücht,die zeitgenössische Literatur sei nur etwas für Experten. Die Literatur, ich verallgemeinere mal mit Absicht, hat den Leuten, wenn sie ihnen nur richtig nahegebracht wird, mehr zu sagen, als man im sog. Literaturbetrieb und unter den Deutsch-Profis in Schulen, Universitäten, Redaktionen usw. im allgemeinen ahnt. Und ein bisschen stolz bin ich natürlich auch, dass so ein Büchlein im Mittelpunkt eines literarischen Volksfestes steht.

Welche Erfahrungen haben Sie in der Vorbereitungszeit gemacht?

Da wird angenehm professionell gearbeitet. Das große Interesse von allen Seiten und die Vielfalt der Einfälle haben mich sehr überrascht. Ich wollte ja zuerst nur eine Woche meinen Schreibtisch, meine neue Arbeit im Stich lassen, nun komme ich fast für zwei Wochen.

Paul Gompitz, der Protagonist Ihres Buches, macht einmal kurz Station in Heidelberg. Und der aus Ludwigshafen stammende Ernst Bloch ist sein Lieblingsphilosoph. Welche Verbindungen haben Sie zur Rhein-Neckar-Region?

Ich kenne die Pfalz ein wenig, war zu Lesungen xmal in Heidelberg und Mannheim. Und in Mannheim, am Nationaltheater, wurde mein Stück „Die nachlassende Geschmeidigkeit der Lippen“ vor einigen Jahren uraufgeführt.

Für das gesamte Leseprojekt liegen elf lokale Programmhefte vor. Auf welche Veranstaltungen in unserer so verschiedenartigen Region sind Sie besonders gespannt?

Ich bin ja mit meinen Veranstaltungen voll ausgelastet. Sehr neugierig wäre ich zum Beispiel, wie die Schüler in Seeheim mein Stück „Waschtag“ spielen – vier alte Nazis, darunter Albert Speer, waschen im Spandauer Gefängnis ihre Wäsche …

Welche Vorhaben finden Sie originell?

So vieles, das kann ich gar nicht alles aufzählen, die Kinderprogramme, die Sicht von Frau Gompitz auf die ganze Geschichte, die Italien-Bezüge, die Vorträge zu anderen meiner Bücher. Und wenn in Lampertheim die Spargelkönigin das 8. Kapitel liest, das hat doch was.

Die kommenden zahlreichen Veranstaltungen vor Augen: Inwieweit muss der Schriftsteller im Internet- und Medienzeitalter auch eine Art Popstar sein, der öffentliches Interesse auf sich zieht?

Keiner muss. Man kann sich wie Botho Strauß zurückziehen und trotzdem Einfluss haben. Oder man kann sich bei jeder Gelegenheit aufdrängen, aber dann ist der Ruf bald verschlissen. Kennen Sie noch die literarischen Popstars von 1996 oder 2001? Beim Internet ist das anders, das bietet ja eine geniale Lösung. Da „besuchen“ mich auf www.fcdelius.de monatlich etwa 7000 Menschen – ohne mich zu belästigen.

Wie ist das bei Ihnen? Freuen Sie sich auf die Begegnung mit vielen Menschen, oder ziehen Sie eigentlich die Abgeschiedenheit des Arbeitszimmers vor?

Ich brauche beides. Intensive Arbeitsphasen – und dann, wenige Wochen im Jahr, mache ich Lesungen, bin neugierig aufs Publikum und gebe mir Mühe, Neugier auf meine Bücher zu wecken.

Die Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“, in welcher der Rostocker Kellner Gompitz während der Endphase der DDR auf skurrile Weise seinen Ausbruch in den Westen bewerkstelligt, erschien 1995. Warum haben Sie diese Ost-West-Story nach dem Mauerfall geschrieben?

Die Geschichte ist mir 1992 zugefallen. Ich fand sie so toll, dass ich nur dachte: Einer muss sie schreiben. Offenbar wollte sie von mir geschrieben werden.

Haben Sie auch an die innere Einheit Deutschlands gedacht? Denn Gompitz’ Odyssee führt zwar zunächst durch den Überwachungsstaat DDR, dann aber auch durch die oftmals konturlos wirkende Bundesrepublik. Und der Rostocker will auf jeden Fall in seine Heimat zurück.

Wissen Sie, ich schreibe Geschichten und denke dabei nicht an Begriffe wie „innere Einheit“. Aus dem, was Klaus Müller mir berichtet hat, sollte einfach ein gutes Buch werden, mehr nicht. Und da er die Bundesrepublik so erlebt hat, habe ich auch Gompitz sie so erleben lassen, ohne politische Absichten.

Für den bildungshungrigen Gompitz, der sein Studium früh abbrach, scheint die gemeinsame deutsche Kulturnation mit ihrem klassischen Erbe wichtig zu sein. Sein großes Vorbild ist Johann Gottfried Seumes Reisebericht „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Welche Rolle spielt die Italiensehnsucht des Goethe-Zeitalters für den DDR-Bürger?

Zur Immunisierung gegen den Parteidogmatismus orientierte man sich in der DDR gern an der Klassik. Da sich auch der Staat auf Goethe berief, hatte man hier einige Freiheit. Und Gompitz, der ja alles ganz allein ausheckte, brauchte ein reales Vorbild, das war dann sein sächsischer Landsmann Seume.

Zeitgenössische kulturelle Tendenzen innerhalb der DDR spielen für Gompitz kaum eine Rolle, obwohl Sie ja auch Verbindungen in die dortige Szene hatten.

Ich bin ja nicht Gompitz! Ihm hätte ich meine Sicht auf die DDR-Literatur, meine Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen zu Wolf Biermann, Thomas Brasch oder Heiner Müller und die Kenntnisse, die ich daraus gewonnen habe, doch nicht aufladen können!

Dafür liegt der Kellner mit dem System im Dauer-Clinch, und diese Themen haben Sie sehr genau recherchiert. Auch liegt Ihrem Buch der reale Fall des Rostockers Klaus Müller zugrunde. Ist Ihre literarische Kritik also primär politischer Natur?

Nein! Ich denke stets von der Sprache her … Es gibt nur ein einziges Kriterium für Literatur: Gut gebaute Sätze.

Welche Bedeutung hat das politische Geschehen grundsätzlich für Ihr Schreiben?

Es gibt für mich nichts Spannenderes als unsere Gegenwart. Und ich versuche, möglichst viel davon mit meinen bescheidenen Mitteln zu erfassen. So unvoreingenommen und unideologisch wie möglich. Gerade, wenn es um das politische Geschehen geht, wie Sie sagen. Dieses Geschehen beeinflusst uns im Alltag viel mehr als wir zugeben wollen. Also gehört das auch, neben vielem anderen, in die Literatur. Aber eins muss ich noch sagen: Wenn ich ein Buch schreibe, dann nicht, weil ich eine bestimmte Meinung zu einer Sache habe und andern aufdrängen will, sondern im Gegenteil: weil ich selbst genauer wissen will, was da los war. Da beginnt die Arbeit des Differenzierens, mit Hilfe von Fakten, Intuition – und Phantasie. Erst hinter den Schlagzeilen, hinter den Begriffen, hinter den Klischees, hinter dem Geschwätz beginnt die Literatur, also, wenn Sie erlauben, die Wahrheit.

Schon in der abgekürzten Version Ihres Namens – F. C. Delius – scheint Fußballbegeisterung durch. Und dann haben Sie auch noch 1994 die Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ vorgelegt. Kann es demnächst in Deutschland wieder so einen Jubel wie im Jahr 1954 geben?

Nein. Erstens wäre es ja schon ein Wunder, wenn die deutsche Mannschaft unter die letzten vier käme. Und selbst wenn sie den Titel gewönne, der Jubel käme nicht mehr so von Herzen wie 54. Ich finde, wir könnten heute mal einen Teil unserer Sport-Emotionen darauf lenken, dass wir – und hier ist die erste Person Plural angebracht – ja Weltmeister sind, immer noch, nämlich Export-Weltmeister. Das erfreut mich, ehrlich gesagt, im Jahr 2006 mehr als ein Fußball-Titel.
Die Fragen stellte Heribert Vogt.

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