Ich bin eigentlich ein 66er
„Ich bin eigentlich ein 66er“
Friedrich Christian Delius über „Mein Jahr als Mörder“ und das Berlin der Fünfziger- und Sechzigerjahre
Ihr Roman spielt teilweise im Berlin der frühen Fünfzigerjahre. Sie beschreiben eine regelrechte antikommunistische Hysterie im Westteil der Stadt. Wie viel von diesem Konflikt wirkt bis in die Gegenwart?
Es wirkt unterschwellig, weil die Geschichte des Kalten Kriegs in Berlin im allgemeinen Bewusstsein verschüttet ist. Wir wissen heute relativ viel über die Nazizeit und über die DDR-Zeit, aber die erste Hälfte der Fünfzigerjahre, die Steinzeit der Demokratie sozusagen, die ist überhaupt nicht präsent. Dass wir da eine Konfrontation hatten, die auf beiden Seiten mit harten Bandagen ausgefochten wurde, steckt eher im Unterbewussten.
Weil die Zeit beiden Seiten, Ost wie West, peinlich ist?
Ja, jedenfalls für die Ideologen auf beiden Seiten nicht brauchbar. Und sie ist weit weg. Weil die deutsche Vereinigung relativ fröhlich und friedlich abgelaufen ist, ist diese Zeit verdrängt geblieben, in der Berlin der Brennpunkt des großen Welt-Konflikts war.
Provokant gesagt war damals doch ziemlich klar, wer die Guten sind.
Es war die Hoch-Zeit der Ideologen auf beiden Seiten, die sich jeweils für die Guten hielten. Erst die Vereinigung hat wieder den Blick auf die Gemeinsamkeiten ermöglicht. Wir wissen, dass es auf beiden Seiten Geheimdienste gab, dass die DDR-Staatssicherheit oder der KGB Menschen aus West-Berlin entführten und viele Leute nicht wiederkamen. Auf der anderen Seite waren, wenn auch nicht auf diese brutale, schlimme Weise, auch die westlichen Geheimdienste aktiv. Es gibt ein Beispiel in meinem Roman, wie sie Ärzte aus der DDR herausgelockt haben, um die DDR zu schwächen. Wenn man das früher in West-Berlin behauptet hätte, wäre das als Propaganda des Ostens abgetan worden.
Andererseits war die Angst vor dem Kommunismus in West-Berlin sehr begründet.
Klar, es gab eine reale Bedrohung. Was die westliche Propaganda sagte, war ja nicht falsch: keine Meinungsfreiheit in der DDR, individueller Terror, keine Justiz, die Blockade gegen West-Berlin. Diese Ängste vor dem Kommunismus waren real. Zugleich aber entlastend, weil man wieder einen Feind hatte. Es half auch, die Nazi-Zeit zu verdrängen. Der Anti-Kommunismus hat so gut funktioniert, weil die Angst begründet war.
Haben Sie das Buch geschrieben, weil man jetzt diese Zeit unbelastet betrachten kann?
Nein, dies Projekt gab es, sehr vage, seit 15 oder 20 Jahren. Mich hat diese Figur der Anneliese Groscurth fasziniert. Mit dem Buch wollte ich meine eigenen Fragen an ihre Geschichte beantworten, also auch die ihres Mannes Georg. Allein die Geschichte der Widerstandsgruppe „Europäische Union“ zu erzählen, wäre mir zu wenig gewesen.
Wollten Sie Anneliese Groscurth, die nach dem Krieg ungerecht behandelt wurde, endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen?
Ach, es ist mit der Literatur viel simpler – und viel komplizierter. Es geht darum, eine gute Geschichte zu erzählen. Wenn man auf eine Geschichte stößt, dann geht es gar nicht um abstrakte Begriffe wie Gerechtigkeit. Man will nur die Geschichte dieser Figur so gut wie möglich erzählen, damit sie für andere anschaulich wird und dann vielleicht Fragen auslöst.
Direkt nach dem Krieg waren auch viele bürgerliche Intellektuelle überzeugt, dass im Osten das bessere Deutschland entsteht. Auch Frau Groscurth dachte wohl so. Aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar.
Frau Groscurth war wichtig, dass die DDR sagte, wir sind antifaschistisch, wir schmeißen die Nazis raus. Das hat der Westen so nicht gesagt oder getan. Und sie war gegen die von Adenauer betriebene westdeutsche Wiederbewaffnung – wie auch Bundesminister Gustav Heinemann, der deswegen zurücktrat. Weil sie gegen die Militarisierung eine Volksbefragung unterstützte, wurde Frau Groscurth in West-Berlin unbarmherzig verfolgt.
Wollten Sie Frau Groscurth ein Denkmal setzen?
„Denkmal“, ach nein. Ein spannendes Buch zu bauen ist schwerer als ein Denkmal. Die Geschichte der Groscurths zu erzählen, ihre Erlebnisse zur Sprache zu bringen, das war mir wichtig. Aber es scheint so, dass etwas von meiner Empörung, die ich bei der Arbeit empfunden habe, nun bei der Leserschaft wirkt.
War Frau Groscurth nicht naiv zu glauben, in dieser Blockkonfrontation auf diese Art zu bestehen? Konnte sie nicht erkennen, dass sie von der DDR und von Robert Havemann, dem ehemaligen Mit-Widerständler ihres Mannes, funktionalisiert wurde?
Mit dem Besserwissen von heute ist leicht urteilen. Und Havemann war ein verlässlicher Freund. Trotzdem, der damals noch überzeugte SED-Funktionär hätte sehen müssen, dass er Anneliese Groscurth nicht nützt damit, sie zur Mitarbeit im Groscurth-Ausschuss zu bewegen.
Der Ausschuss trug den Namen ihres Mannes und sollte die Rolle der West-Berliner Polizei bei den Unruhen um die Jugendfestspiele 1951 untersuchen.
Weil sich Frau Groscurth so ausgestoßen fühlte im Westen, so fertig gemacht wurde, schien ihr die Unterstützung aus dem Osten wie ein Hoffnungsschimmer. Sie wurde ja im Westen als Kommunistin und rote Propagandistin diffamiert – auch im Tagesspiegel, mit Adresse.
Der Tagesspiegel schrieb damals unter anderem von der „West-Berliner Kommunisten-Filiale“. Das hatte schlimme Folgen.
Ja. Der Tagesspiegel-Text, eine Kurzmeldung, eine Unterstellung, wurde in den Verfahren gegen sie immer wieder als Beweis herangezogen. Sie verlor ihren Job und ihre Kinder die Rente als Nazi-Opfer, sie erfuhr schlimmsten Telefon-Terror und Bedrohungen. Auf der anderen Seite war eben in den frühen Fünfzigerjahren nicht so klar, wohin es mit der DDR gehen würde. Es gab ja viele Idealisten, die aus dem Westen in die DDR gingen. Die haben gebraucht, bis zum 17. Juni 1953, oder später, bis sie die Illusionen über den Sozialismus verloren hatten. Aber Anfang der Fünfziger, da war die Entwicklung noch offen, trotz der Blockkonfrontation, da konnte man sich noch vorstellen, dass es sich in der DDR besser entwickelt. Das war nicht so eindeutig, wie es heute erscheint.
Warum war es trotz aller Repressalien für Anneliese Groscurth nie eine Alternative, ganz nach Ost-Berlin zu gehen?
Sie kam aus dem Großbürgertum. Die DDR lag ihr doch zu fern, um überzusiedeln. Sie hat auch nicht zugelassen, dass die Urne ihres hingerichteten Mannes auf dem Ehrenfriedhof der Sozialisten in Friedrichsfelde beigesetzt wurde. Sie wollte sich da nicht vereinnahmen lassen.
In Ihrem Buch verschränken sich drei Zeiten: Die letzten Nazi-Jahre, der Kalte Krieg und die Zeit der Studentenunruhen nach 1968. Kommt das Staunen Ihrer Zuhörer auch daher, dass eine neue Generation mit Ihrem Buch nun begreift, woher die Wut derer kam, die 1968 auf die Straße gingen?
Mag sein. Aber Sie sollten das Buch nicht überschätzen. Es gibt erst ein paar Einzelstimmen. Gerade Jüngere haben mir gesagt, sie hätten zum ersten Mal verstanden, was 1968 passiert ist, woher die Empörung kam. Die alten Nazis und der Freispruch für den Nazi-Richter Rehse waren ein ganz wichtiger Anlass für Empörung. 1968 bestand eben nicht aus dem, was die Fernsehbilder zeigen, aus der ersten Demo-Reihe und den Fahnen, den wilden Wohngemeinschaften und den Barrikaden. Das gab es auch – aber das war nur die Spitze, die so genannte Avantgarde. Dahinter gab es eine große Zahl von Menschen, die einfach empört waren über die Verhältnisse und die Ungerechtigkeiten.
Wie viel von Ihnen selbst steckt in dem Helden und verhinderten Mörder?
Der Erzähler hat mit meiner freundlichen Genehmigung einige biografische Elemente von mir übernommen. Ich bin tatsächlich mit den Groscurth-Söhnen aufgewachsen, habe sie all die Jahre in den Sommerferien gesehen. Das ist der biografische Kern. Was 68 angeht: Ich bin eigentlich ein 66er, aus der Phase, wo alles anfing: Die erste Vietnam-Demonstration, der Blick auf die Dritte Welt, alte Nazis, neue Notstandsgesetze, die Beatles, die Rolling Stones, die Haare wurden länger und so weiter. 68 fing schon die Verhärtung an und die Dogmatisierung. Ich fühlte mich schon 68 zurückgeblieben.
Können Sie sich vorstellen, gegen einen freigesprochenen Nazi-Richter Mordgedanken zu hegen?
Nein. Ich persönlich nicht. Aber inzwischen hat mir jemand gesagt, dass er ganz ähnliche Gedanken damals hatte. Das Schrammen an der Gewaltfrage entlang, das interessierte mich. Das habe ich bewusst getan, der Ich-Erzähler schwankt ja hin und her. Die Ambivalenz ist ja da und die ist auch gewollt. Manche sagen, man weiß schon am Anfang, dass der Erzähler die Tat nicht begehen wird, aber das ist für mich kein Einwand, weil ich mit diesen Widersprüchen spiele. Ohne Ironie geht’s nicht bei so einem ernsten Thema.
War das Rehse-Urteil für manche der Anfang für den Weg in den Terrorismus?
Das hat Argumente geliefert. Aber ein wichtigerer Punkt war die so genannte Schlacht am Tegeler Weg im Herbst 68.
Eine militante Demo, bei der viele Polizisten durch Steinwürfe verletzt wurden.
Ich kann mich erinnern, wie da einige ganz begeistert waren: O, wir sind stärker als die Bullen! Jetzt wird das alles ganz schnell gehen. Mir war sehr unwohl dabei. Ich habe mir gedacht: Das ist jetzt ein Schritt, der ist nicht meiner. Und es gab viele Leute, die so gedacht haben.
Wobei könnte uns die Aufarbeitung der Fünfzigerjahre helfen?
Je mehr wir über unsere Geschichte wissen, desto sorgfältiger gehen wir damit um. Demokratie ist in Deutschland immer noch eine Ausnahme, ein sehr kurzer Abschnitt, mühsam erkämpft. Auch was sich innerhalb dieser Demokratie seit 1949 entwickelt hat, ist mühsam erkämpft. Mit vielen Verlusten. Anneliese Groscurth ist so ein „Verlust“.
Das Gespräch führten Markus Hesselmann und Gerd Nowakowski
(Der Tagesspiegel, 27.12.2004)