Friedrich Christian Delius, FCD

Helmut Böttiger: Von den unbotmäßigen Spaziergängen einer deutschen Idealfigur (FR)

Von den unbotmäßigen Spaziergängen einer deutschen Idealfigur

F.C. Delius‘ unterhaltsame Chronik eines illegalen Grenzübertritts aus der DDR

Es gab auch in der DDR einen Hauptmann von Köpenick, es gab einen Kellner in Rostock: Paul Gompitz mit Namen. Als Friedrich Christian Delius die Geschichte dieses Gompitz hörte, muß er sofort elektrisiert gewesen sein: sie eignet sich für eine historische Chronik, für eine Literatur mit Moral und dem Typischen, das im individuellen Fall aufscheint.
Paul Gompitz gefiel es in seiner Heimat. Die DDR war für ihn, den gebürtigen Sachsen, vor allem die Landschaft Mecklenburgs, die Kumpel in den Rostocker Kneipen, die Ostsee mit ihrem herben Charme.
Doch der ständige Blick auf die Ostseewellen vermittelte ihm auch eine ungebärdige Sehnsucht nach Ferne, nach Aufbruch, und so entwickelte sich seine fixe Idee: wie weiland sein sächsischer Landsmann Seume wollte er einmal nach Syrakus, ins Land der Verheißung – nur einmal nach Sizilien, aber dann wieder in die DDR zurück. Und weil die DDR ihm nicht glauben würde, daß er wieder zurückkehrte, mußte er sich nach anderen Möglichkeiten umsehen, seine fixe Idee auf illegale Weise in die Tat umsetzen.
Gompitz braucht sieben Jahre, um seinen Plan auszufeilen: er lernt Segeln, stimmt seine Jobs als Kellner, die er im Sommer an der Ostsee annimmt, mit den Möglichkeiten zu segeln ab, verfolgt gegen alle Widrigkeiten beharrlich sein Ziel. Er studiert Küstenbewachung und Seebewegungen, tüftelt eine Route aus, auf der in die offene See gelangen kann. Und als er eines Morgens, im Sommer 1988, im Radio hört, daß der Wind so ist, wie er es ausgerechnet hat, macht er sich an den Törn um die Südspitze von Hiddensee Richtung Dänemark.
Gompitz schafft es, durch umsichtige Planungen gelangt er tatsächlich bis Syrakus. Doch schneller, als er es sich vorher ausgedacht hat, will er wieder zurück zu seiner Frau, bleibt nicht den Winter über im Westen, verzichtet auf die Reise nach Großbritannien, sondern setzt sich in den Zug nach Rostock. Die DDR, so kleinkariert sie sich ihm in ihren bürokratischen und politischen Erscheinungsformen auch immer zeigte, verzichtet nach einigen Verhören immerhin darauf, ihn anzuklagen: Nach drei Wochen im Auffanglager für Übersiedler darf er wieder zurück zu seiner Frau.
Diese (wahre!) Geschichte ist schon als Plot so literarisch, daß sie Delius nur aufzuschreiben braucht. Er wählt den nüchternen Stil des Chronisten, bleibt immer in der Perspektive der Hauptfigur, nur aufgelockert durch kursive Dialoge im Moritatenstil, die vor jedem Kapitel kurz das ungeheure Geschehen kommentieren. Innere Gefühlswelten treten vollkommen zurück, alles steht im Dienst des Handlungsverlaufs. Es gibt keine langen Reflexionen über den Alltag in der DDR, über den Lebenslauf von Gompitz – immerhin Anhänger des Utopiebegriffs von Ernst Bloch, vielseitiger Leser und intelligenter Bastler. Gompitz ist einfach der Mann, der dies ungeheure und pfiffige Vorhaben des Grenzdurchbruchs und der Wiederkehr minuziös durchführt.
So geraten ein paar Passagen im Erzählverlauf ein bißchen zu pauschal, ein paar wenige Klischees sind im gerafften Chronistenduktus doch nicht zu vermeiden, und die Erlebnisse in Italien, das Erreichen von Syrakus halten manchmal der nüchternen Stilebene nicht stand. Dennoch ist Delius mit der Figur des Paul Gompitz eine deutsche Idealfigur geglückt: Sein Gefühl des Mangels in der DDR, seine Skepsis dem Leben in der Bundesrepublik gegenüber – was sich in der erzählten Zeit 1988 abzeichnet, wirft bereits ein erhellendes Licht auf das, was in der deutsch-deutschen Geschichte danach kam.
Gompitz steht für Menschlichkeit: bescheiden und nicht auftrumpfend, aber unbeirrbar. Daß dies in seiner unmittelbaren Erfahrung vor allem als Spleen, als etwas Abseitiges und Künstlerisches wahrgenommen wird, hat etwas Allgemeingültiges. Durch die konsequente Beschränkung des Blicks kann es sich Delius auch leisten, scheinbar naiv starre Fronten aufzuweichen: Als Gompitz dem Stasi-Verhörer sein Erlebnis auf dem Marktplatz von Mantua erzählt, die Einlösung einer alten Phantasie durch das Hören von „Rigoletto“, kann sich dieser der Suggestion nicht ganz entziehen. Delius ist hier nicht so nah bei sich wie bei seinem letzten Buch Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, als ein zeitgenössischer Erzählstoff plötzlich eine irrationale Eigendynamik entwickelte. Das Subjektive, literarisch sich Verselbständigende tritt in diesem „Spaziergang“ wieder zurück. Und doch könnte er literarisch, wie die Tat des Paul Gompitz selbst, als Schelmenstreich erscheinen.

(Helmut Böttiger, Frankfurter Rundschau, 6.1.1996)

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