Friedrich Christian Delius, FCD

Iris Denneler: Gott als Abseitsfalle? (Tagesspiegel)

Gott als Abseitsfalle?

Friedrich Christian Delius‘ Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“

Sonntagmorgenidyll: im Bett liegen und wissen, daß es heute keine Schule gibt. Also noch einmal hinabsinken, in den Schlaf, die Träume fortspinnen, den bettwarmen Schwebezustand bis in alle Ewigkeit verlängern. Doch jählings zerfetzt ein ohrenbetäubender Lärm die Stille: das Zimmer liegt Wand an Wand mit dem Glockenturm einer Dreitausend-Seelen-Gemeinde, von dem dreistimmig zum Gottesdienst geläutet wird. Haus, Kirche, Bett und Junge gehören ins hessische Dörfchen Wehrda, unweit von Bad Hersfeld. Dort ist, nicht zufällig, auch der Autor Delius geboren.
Der junge Schläfer weiß nur zu gut, daß mit dem unsanften Erwachen zugleich ein allsonntägliches Pflichtenprogramm beginnt, bei dem es kein Pardon gibt: nicht beim Kirchgang, nicht bei den mütterlichen Ermahnungen, den Feiertag durch Bravsein zu heiligen und nicht beim strafenden Blick des Vaters, wenn er bemerkt, daß sein Sprössling während der Predigt nicht bei der Sache ist.
Und tatsächlich plagt den Kleinen gerade reuig das schlechte Gewissen, weil ihm beim Vaterunser zu „Kraft und Herrlichkeit“ nur Fritz Walter einfiel. Erst der Autor wird mit bitterem Ton registrieren, daß solche heimlichen Ausbruchsversuche viel zu selten blieben, denn schließlich hat Fritzchen über die Jahre gelernt, wie man sich am Tag es Herrn zu benehmen hat: am Sonntag sind Lederhosen verboten, Manchesterhosen erlaubt, ein Blick ins Lateinbuch verboten, andere Bücher erlaubt, Fahrradfahren zur Gottesdienstzeit verboten, nachmittags erlaubt…
Delius beschreibt minutiös aus der Perspektive des Knaben, wie eine partriarchalische Familie funktioniert; wobei fatalerweise in diesem Haushalt die Machtworte der väterlichen Autorität neben dem leibhaftigen Erzeuger zusätzlich Gott = Vater durchsetzt. Träume nach einem warmen Bett werden da zu Sünden wider den Heiligen Geist und der kräftige Appetit des Heranwachsenden zur Gefräßigkeit (was ihn zusammen mit Mutters Spruch, es sich ja schmecken zu lassen, in doppelte Seelenqualen stürzt).
So geht es Jahr und Tag, und der Ich-Erzähler leidet: er leidet an Schuppenflechte und stottert, ist unkonzentriert und eigenbrötlerisch. Müpft er einmal gegen die häuslichen Verbote auf, dann fällt ihm prompt das Bild von unserem Herrn Jesu ein, der angeblich seine Gemeindemitglieder wie Fische einsammelt – und dabei gräbt sich der Angelhaken Gottes immer tiefer in den Rachen des Kindes. Angsterfüllt ist er ist er bis zur Atemnot und hilflos, denn „er wusste das alles nicht zu sagen…“ Kein Zweifel, die christliche Botschaft, die doch eigentlich eine frohe sein soll, erfuhr unser Pfarrersohn als Unterdrückungssystem, in dem man Unmögliches zu leisten hat, nämlich den, den man fürchtet, gleichzeitig zu lieben. Doch diese persönliche Erfahrung, so zeigt Delius auch, hat ihre breite, gesellschaftliche Zustimmung. Wütend, nur manchmal amüsiert, rekonstruiert er die Deformationen, die die Subjekte durch das unerbittlich pietistisch getrimmte Gewissen seit Jahrhunderten erleiden (weshalb man bereits bei Kleist oder Lessing die tödliche Brisanz der Gewissensinquisition nachlesen kann).
Nicht nur Bibelsprüche und Gemeinplätze, auch die Klassiker sind längst in diesem Normensumpf vereinnahmt: „Es war ein Kind, das wollte nie zur Kirche sich bequemen…“, droht Goethes Gedicht, das der Autor noch heute auswendig und mit Schaudern herunterbeten kann – das Pfarrhaus, ein schlimmes Kapitel aus der kindlichen Hölle.
Rettung, wir ahnen es schon, bietet da wieder einmal die Kunst, auch wenn sie zunächst ziemlich profan als Fußballartistik daherkommt. Denn heute, man schreibt den 4. Juli 1954, ist ein besonderer Tag: die deutsche Nationalelf spielt gegen Ungarn, und für anstandslos erfüllte Sonntagsregeln winkt ein Nachmittag vor dem Radio. Da wird, in Erwartung der live-Übertragung aus Bern, das lächerliche Absingen von Tischgebeten erträglicher, und das durch vage sexuelle Ahnungen unangenehm überlagerte Mittagsschläfchen der Eltern kommt ausnahmsweise gerade recht.
Und dann geschieht das Ungeheuerliche: durch den Äther dringen sensationelle Worte in die dumpfe Stube, Worte wie „Fußballwunder“ oder „Allmacht“ des liebreichen Liebrich, der „rettet rettet rettet“. Endlich begreift der Junge, was es heißt, die Ersten werden die Letzten sein; schließlich, er ist vor Aufregung kaum mehr zu bändigen, vernimmt der fiebernde Zuhörer den Sieg seiner Fußballelf, die angetreten war, „den Himmel stürmen“.
Die ungeheure Ernsthaftigkeit, mit der zuvor die Worte des Vaters internalisiert wurden, sie werden auf einmal zu Retter gegen seine erdrückende Autorität: ein winziger Befreiungsschlag, ein kleiner eineinhalbstündiger Ausflug in das glückliche Reich des Spiels, das der Knabe zugleich mit der befreienden Kraft der Sprache entdeckte.
Am Schluß also ist es heraus: Friedrich Christian Delius‘ Erzählung ist, gut christlich, selbst ein Gleichnis, die Parabel von den Verheißungen der Phantasie, wo der Mensch sein darf, weil er spielt. Jetzt endlich beantwortet sich auch die Frage, die uns Pfarrertöchter schon die ganze Zeit beschäftigt, was nämlich den Autor dazu trieb, noch einmal seine Kindheit zu beichten. So schmerzhaft diese Erfahrung war, sie provozierte auf der anderen Seite jenen Impuls zur Aufklärung, der Delius‘ sozialengagiertes Werk prägt. Wie seine berühmten Kollegen Lessing, Lenz, Seume, Dürrenmatt… (die Liste ist schier endlos fortzusetzen) kam auch dieser Pfarrerssohn zur Schriftstellerei gerade auf Grund des engen Normenkorsetts, das ihn einst zu ersticken drohte.
Ist die Erzählung des Alt-68ers bei aller Kritik also unterschwellig ein Plädoyer für Gewissensnot und Zuchtrute aus guter alter Zeit? Schließlich wird in diesem Tagen wieder ernsthaft darüber nachgedacht, ob nicht die lasche antiautoritäre Erziehung für den Werteverlust der heutigen Jugend verantwortlich ist. Immerhin kann man Delius‘ Kritik am häuslichen Katechismus auch so verstehen, daß es gerade die destruierte Gläubigkeit gegenüber der Sprache und das latent schlechte Gewissen waren, die Sensibilität und soziales Engagement entwickeln halfen. „Konservative Argumente gegen die Angriffe, denen gerade die Linken neuerdings ausgesetzt sind“.
„Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ ist ein Buch, das erst auf den zweiten Blick verwirrt und deshalb bei aller Grundsolidheit provoziert. Zu einer Zeit, da deutscher Untertanengeist und Neonazi-Selbstbewußtsein unheilvolle Allianz eingehen, versucht Delius an seiner Biographie klarzumachen, daß man sich nicht nur wünschen kann, solche Väter wie der seine wären ausgestorben. Delius‘ Kindheitsrückblick ist märchenhaft weit vom heutigen realen Sportgeschehen entfernt, aber gerade deshalb verkündet er die frohe Botschaft der Literatur, die wieder einmal beweist, daß es Dinge gibt, womit man Eigentore meistern kann.

(Iris Denneler, Der Tagesspiegel, 1.5.1994)

Impressum