Buch: Der Sonntag
Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Erzählung
128 Seiten, HC
€ 12,50 / sFr 22,70
ISBN 978-3-498-01298-4
Rowohlt E-Book
€ 6,99
ISBN 978-3-644-01841-9
rororo taschenbuch Werkausgabe
128 Seiten, € 8,99 [D]
ISBN 978-3-499-26685-0
Übersetzungen ins
– Amerikanische (The sunday I became world champion.
Continuum – The German Library 88, New York 2001. Ü: Scott Williams)
– Dänische (Den sondag jeg blev verdensmester. Forlaget Hovedland 1995.
Ü: Jacob Jonia)
– Französische (Le dimanche où je suis devenu champion du monde.
Fayard, Paris 2008. Ü: Jean-Claude Capèle)
– Italienische (La domenica che vinsi i mondiali. Le Lettere, Firenze 2006.
Ü: Monica Lumachi)
– Schwedische (Söndagen da jag blev världsmästare. Tranan, Stockholm 2006.
Ü: Erik Bornlid)
– Niederländische (De zondag waarop ik wereldkampioen werd. Uitgeverij Van Gennep, Amsterdam 2013. Ü: José Rijnaarts)
Schulausgabe:
Buchners Schulbibliothek der Moderne, Bamberg 2000
Unterrichtsmodelle mit Kopiervorlagen, erarbeitet von Theo Herold. Cornelsen Verlag, Berlin
Hörbücher:
Jürgen Uter liest „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, WDR und
Kontakte Musikverlag, 1997
Peter Lohmeyer liest „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, Hörbuch Verlag
Hamburg, 2002
Am berühmtesten Tag der deutschen Nachkriegsgeschichte, dem Tag an dem Deutschland Fußballweltmeister wird und als krasser Außenseiter den Favoriten Ungarn schlägt, dem Tag, an dem eine besiegte Nation neues Selbstbewußtsein erlangt, am 4. Juli 1954, wird ein elfjähriger Pastorensohn in dem hessischen Dorf Wehrda wie an jedem Sonntag geweckt: vom Lärm der Kirchenglocken, die eine Viertelstunde lang nur eine Botschaft einläuten: Du sollst den Feiertag heiligen!
In der freudigen Spannung auf die Rundfunkübertragung des Spiels erleidet der Junge die Zwänge der Tagesrituale. Umstellt von christlichen Bildern und eingeschüchtert von der Sprachgewalt des Vaters, weiß der Sohn nur mit Stottern und stiller Verweigerung zu antworten.
Am Nachmittag dieses Sonntags hört er jedoch einem „unerhörten Gottesdienst“ zu: Herbert Zimmermanns Rundfunkreportage wird für den verängstigten, in einer „Sprachhölle“ lebenden Elfjährigen zu einer Art Damaskus-Erlebnis. Das religiöse Vokabular des Reporters, das in der Huldigung an den „Fußballgott“ Toni Turek gipfelt, schockiert den Jungen zwar, erleichtert ihm aber den „Abschied von den Eltern“ und ermöglicht eine Identifikation mit den Fußballhelden. Für zwei Stunden dem „Vaterkäfig“ entronnen, erlangt er eine Ahnung von Freiheit – „ich war der glücklichste von allen, glücklicher vielleicht als Werner Liebrich oder Fritz Walter“.
Die Fußballweltmeisterschaft 1954, ein deutscher Mythos, wurde bislang kaum zum Gegenstand der Literatur. Friedrich Christian Delius stellt sie in den Mittelpunkt seiner autobiographischen Erzählung über das autoritäre Klima seiner Kindheit, über die Zwänge und die Enge der fünfziger Jahre. Er nimmt jenen bewegenden Fußball-Sonntag zum Anlaß für eine kleine Parabel über das Janusgesicht der Sprache – die Sprache als unterdrückende Macht und als Möglichkeit der Befreiung.
„Das Buch hat mich so sehr mitgerissen, dass ich den Schluss heulend gelesen habe. Obwohl ich wirklich kein Deutscher bin… Wer bislang noch kein reales Bild über Deutschland hatte, dem ist dieses Buch zu empfehlen.“ Péter Nádas
„Der Blickwinkel des Elfjährigen, in der deutschen Provinz, geprägt vom protestantischen Pfarrhaus, fängt genau die Atmosphäre der bundesdeutschen fünfziger Jahre ein. Der Elfjährige wird zum Brennspiegel, und seine Biographie wird für diese literarische Teststrecke zum Glücksfall.“ Helmut Böttiger, Frankfurter Rundschau
„So glänzend komprimiert gab es deutsche Nachkriegszeit weder bei Böll noch Walser noch Enzensberger. Da mußte erst Delius mit seiner Erzählung kommen… Was gibt es Schöneres als ein 3:2 gegen Ungarn? Ein 6:0 für die Literatur. Und für Delius, der endlich seinen großen Wurf gelandet hat.“ Abendzeitung, München
„Ungewohnt eindringlich …, ungewöhnlich intensiv …“ FAZ
„Ein ganz wunderbar berührendes Buch.“ Klaus Modick, NDR
„Die Präzision eines virtuosen Erzählers.“ Rheinischer Merkur
„Delius ist mit dieser Erzählung ein kleines Meisterwerk gelungen. Sie sollte wenigstens so viele Leser finden wie ein Fußballstadion Zuschauer faßt.“ Hessischer Rundfunk
„Es ist ein Buch zur Weltmeisterschaft.“ Die Zeit
„Sein schönstes und poetischstes Buch über den Tag, an dem wir alle Weltmeister wurden.“ Elke Heidenreich, Radio Bremen
„So unangestrengt und lesbar hat Delius bisher noch nicht erzählt, und das bei so viel Selbstironie.“ Nürnberger Zeitung
„Daß die Hingabe an den Ball geradewegs emanzipatorischen Charakter haben und ein von Hause aufgezwungenes Weltbild aufbrechen kann, war so in der deutschen Literatur noch nicht beschrieben worden.“ Kölner Stadtanzeiger
Bilder eines Sonntags
Eine autobiographische Erzählung von F.C. Delius: „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde.“
Vielleicht ist’s ein Alterssyndrom, wenn die seichte Vielfalt täglicher Sportsendungen gelegentlich wehmütige Erinnerungen an jenen Julitag vor vierzig Jahren weckt, da „wir“ Fußballweltmeister wurden und ich zum ersten Mal so etwas wie kollektives Glück empfunden zu haben glaubte. Ja, ich kenne die einschlägigen Theorien über die strukturelle Gemeinsamkeit von Adenauerscher Politik und Herbergerschem Fußball und halte sie für plausibel, aber mit meinen Erinnerungen haben sie nichts zu tun. Die setzen sich zusammen aus ungläubigem Staunen beim Erreichen des Finales, einer Gänsehaut vor dem Radio, Furcht, beim unaufschiebbaren Pinkeln ein Tor zu verpassen, Stolz auf Helmut Rahn und Angst vor der Schule am nächsten Morgen.
Dazu hat Friedrich Christian Delius jetzt eine wunderschöne Erzählung geschrieben. Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde ist kein Fußballbuch; vielleicht ein Buch über Väter oder über Befreiung und Unterdrückung durch Sprache; vielleicht eines übers hessische Dorfleben in den fünfziger Jahren, über die Nachkriegszeit, übers Heranwachsen im Schatten der „Zonengrenze“, über pubertäre Sehnsüchte und Ängste. Auf jeden Fall eine Kindheitsgeschichte, mit allem was dazugehört. Obschon kaum verhüllt autobiographisch und exakt datierbar auf den 4. Juli 1954, entfaltet der Text typische Strukturen von Kindheit. Erinnerungssplitter, Assoziationen und bernsteinklar konservierte Beobachtungen gruppieren sich zum Tableau der fünfziger Jahre. Am Sonntagmorgen „zerhacken“ Kirchenglocken „die Traumbilder“; zwar ist das Frühstück an diesem Tag weniger gehetzt als an Schultagen, dafür verhindern „Geleetrübsinn“ und kleidungsbedingte „Sonntagsvorsicht“ Ausbrüche aus der festgefügten Welt des wohlgeordneten Pfarrhaushaltes; sogar das Sanella-Brot ist biblisch aufgeladen, bloß der Kakao mangels einschlägiger Bibelsprüche „nicht von Gottes Gnade“ vergiftet. Zum Glück gibt’s die Vorfreude auf den Nachmittag, an dem mit väterlicher Erlaubnis die Übertragung aus dem Berner Wankdorfstadion gehört werden darf – und danach ist fast alles ganz anders.
Ruhig und diszipliniert beschreibt Delius den Verlauf des Sonntags – mitunter fast emotionslos, aber hinter lakonisch zugespitzten Begriffen lauern Angst und erstickter Aufruhr. Diese kunstvolle Spannung zwischen Geborgenheit und Terror begreifen auch Leser, denen eine Kindheit im protestantischen Pfarrhaus erspart blieb. Neben vertraute Idylle und Nähe signalisierende Feiertags-Komposita („Sonntagsläuten“, „Sonntagspredigt“, „Sonntagsbraten“) treten nie gehörte „Sonntagsblicke“, „Sonntagsängste“, „Sonntagsregeln“. In den Stolz des Erzählers auf einen souveränen, wortgewaltigen, scherzenden Vater mischt sich Angst vor dessen vitaler Rigidität; in seine Sehnsucht nach einem wärmenden Blick der Mutter Schauder über deren unnahbare Gerechtigkeit. Selbst die geliebte Literatur gerät zum Züchtigungsinstrument, weil sie „zu denen hielt, vor denen ich zittern mußte“. „Hoffnung auf etwas Neues, auf eine bessere Aussicht“ keimt ebenfalls in den Nischen: „im Fußball, auf dem Fahrrad, in der Arithmetik der Lügen und in flüchtigen Phantasien“; erst bei der Lektüre des Sportteils der Heimat-Zeitung stellt sich „das bebende Glück des Lesenden“ ein, der „im Text eines anderen so viel Eigenes“ entdeckt. Dieses Glück kulminiert in der – elterlichen Mittagschlafes wegen nur gedämpft genießbaren – Übertragung des Endspiels; hier gelingt sogar der Ausbruch aus „dem Vaterkäfig, den unsichtbaren Gottesfallen“. Der mediale Antigottesdienst, der – frevlerisch-befreiend – die züchtigende Sprache des Vaters missbraucht, wenn er den „Fußballgott“ beschwört, erzeugt schließlich einen „Zustand des Glücks“, der sogar die körperlichen Symptome täglicher Versagensängste („Stottern, Schuppen und Nasenbluten“) vergessen läßt.
Delius‘ Erzählung ist unspektakulärer als die „Väterbücher“ von Härtling, Meckel oder Vesper – und zugleich beklemmender. Nicht mit finsterer Nazi-Vergangenheit wird hier der tägliche Terror konnotiert, sondern mit der Idylle kindlicher Geborgenheit. Des Erzählers Streifzug durchs Dorf, sein Blick auf die Kirchgänger, seine Schilderung einer sommerlichen Gewitterwiese – all das könnte auch nostalgische Sehnsucht evozieren, wenn da nicht immer diese harte, unangreifbare Gerechtigkeit der Erwachsenen wäre, die alles kennen, nur keine Selbstzweifel. So formiert sich der scheinbar zufällige Bilderbogen eines Sonntags zur Ikonographie deutscher Nachkriegskindheit, und nach der Lektüre blickt der Leser milder auf die eingangs beklagte Oberflächlichkeit. Beim Fernsehen kann er wenigstens ein- und ausschalten wann er will.
(Hannes Krauss, Freitag, 18.3.1994)
Gott als Abseitsfalle?
Friedrich Christian Delius‘ Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“
Sonntagmorgenidyll: im Bett liegen und wissen, daß es heute keine Schule gibt. Also noch einmal hinabsinken, in den Schlaf, die Träume fortspinnen, den bettwarmen Schwebezustand bis in alle Ewigkeit verlängern. Doch jählings zerfetzt ein ohrenbetäubender Lärm die Stille: das Zimmer liegt Wand an Wand mit dem Glockenturm einer Dreitausend-Seelen-Gemeinde, von dem dreistimmig zum Gottesdienst geläutet wird. Haus, Kirche, Bett und Junge gehören ins hessische Dörfchen Wehrda, unweit von Bad Hersfeld. Dort ist, nicht zufällig, auch der Autor Delius geboren.
Der junge Schläfer weiß nur zu gut, daß mit dem unsanften Erwachen zugleich ein allsonntägliches Pflichtenprogramm beginnt, bei dem es kein Pardon gibt: nicht beim Kirchgang, nicht bei den mütterlichen Ermahnungen, den Feiertag durch Bravsein zu heiligen und nicht beim strafenden Blick des Vaters, wenn er bemerkt, daß sein Sprössling während der Predigt nicht bei der Sache ist.
Und tatsächlich plagt den Kleinen gerade reuig das schlechte Gewissen, weil ihm beim Vaterunser zu „Kraft und Herrlichkeit“ nur Fritz Walter einfiel. Erst der Autor wird mit bitterem Ton registrieren, daß solche heimlichen Ausbruchsversuche viel zu selten blieben, denn schließlich hat Fritzchen über die Jahre gelernt, wie man sich am Tag es Herrn zu benehmen hat: am Sonntag sind Lederhosen verboten, Manchesterhosen erlaubt, ein Blick ins Lateinbuch verboten, andere Bücher erlaubt, Fahrradfahren zur Gottesdienstzeit verboten, nachmittags erlaubt…
Delius beschreibt minutiös aus der Perspektive des Knaben, wie eine partriarchalische Familie funktioniert; wobei fatalerweise in diesem Haushalt die Machtworte der väterlichen Autorität neben dem leibhaftigen Erzeuger zusätzlich Gott = Vater durchsetzt. Träume nach einem warmen Bett werden da zu Sünden wider den Heiligen Geist und der kräftige Appetit des Heranwachsenden zur Gefräßigkeit (was ihn zusammen mit Mutters Spruch, es sich ja schmecken zu lassen, in doppelte Seelenqualen stürzt).
So geht es Jahr und Tag, und der Ich-Erzähler leidet: er leidet an Schuppenflechte und stottert, ist unkonzentriert und eigenbrötlerisch. Müpft er einmal gegen die häuslichen Verbote auf, dann fällt ihm prompt das Bild von unserem Herrn Jesu ein, der angeblich seine Gemeindemitglieder wie Fische einsammelt – und dabei gräbt sich der Angelhaken Gottes immer tiefer in den Rachen des Kindes. Angsterfüllt ist er ist er bis zur Atemnot und hilflos, denn „er wusste das alles nicht zu sagen…“ Kein Zweifel, die christliche Botschaft, die doch eigentlich eine frohe sein soll, erfuhr unser Pfarrersohn als Unterdrückungssystem, in dem man Unmögliches zu leisten hat, nämlich den, den man fürchtet, gleichzeitig zu lieben. Doch diese persönliche Erfahrung, so zeigt Delius auch, hat ihre breite, gesellschaftliche Zustimmung. Wütend, nur manchmal amüsiert, rekonstruiert er die Deformationen, die die Subjekte durch das unerbittlich pietistisch getrimmte Gewissen seit Jahrhunderten erleiden (weshalb man bereits bei Kleist oder Lessing die tödliche Brisanz der Gewissensinquisition nachlesen kann).
Nicht nur Bibelsprüche und Gemeinplätze, auch die Klassiker sind längst in diesem Normensumpf vereinnahmt: „Es war ein Kind, das wollte nie zur Kirche sich bequemen…“, droht Goethes Gedicht, das der Autor noch heute auswendig und mit Schaudern herunterbeten kann – das Pfarrhaus, ein schlimmes Kapitel aus der kindlichen Hölle.
Rettung, wir ahnen es schon, bietet da wieder einmal die Kunst, auch wenn sie zunächst ziemlich profan als Fußballartistik daherkommt. Denn heute, man schreibt den 4. Juli 1954, ist ein besonderer Tag: die deutsche Nationalelf spielt gegen Ungarn, und für anstandslos erfüllte Sonntagsregeln winkt ein Nachmittag vor dem Radio. Da wird, in Erwartung der live-Übertragung aus Bern, das lächerliche Absingen von Tischgebeten erträglicher, und das durch vage sexuelle Ahnungen unangenehm überlagerte Mittagsschläfchen der Eltern kommt ausnahmsweise gerade recht.
Und dann geschieht das Ungeheuerliche: durch den Äther dringen sensationelle Worte in die dumpfe Stube, Worte wie „Fußballwunder“ oder „Allmacht“ des liebreichen Liebrich, der „rettet rettet rettet“. Endlich begreift der Junge, was es heißt, die Ersten werden die Letzten sein; schließlich, er ist vor Aufregung kaum mehr zu bändigen, vernimmt der fiebernde Zuhörer den Sieg seiner Fußballelf, die angetreten war, „den Himmel stürmen“.
Die ungeheure Ernsthaftigkeit, mit der zuvor die Worte des Vaters internalisiert wurden, sie werden auf einmal zu Retter gegen seine erdrückende Autorität: ein winziger Befreiungsschlag, ein kleiner eineinhalbstündiger Ausflug in das glückliche Reich des Spiels, das der Knabe zugleich mit der befreienden Kraft der Sprache entdeckte.
Am Schluß also ist es heraus: Friedrich Christian Delius‘ Erzählung ist, gut christlich, selbst ein Gleichnis, die Parabel von den Verheißungen der Phantasie, wo der Mensch sein darf, weil er spielt. Jetzt endlich beantwortet sich auch die Frage, die uns Pfarrertöchter schon die ganze Zeit beschäftigt, was nämlich den Autor dazu trieb, noch einmal seine Kindheit zu beichten. So schmerzhaft diese Erfahrung war, sie provozierte auf der anderen Seite jenen Impuls zur Aufklärung, der Delius‘ sozialengagiertes Werk prägt. Wie seine berühmten Kollegen Lessing, Lenz, Seume, Dürrenmatt… (die Liste ist schier endlos fortzusetzen) kam auch dieser Pfarrerssohn zur Schriftstellerei gerade auf Grund des engen Normenkorsetts, das ihn einst zu ersticken drohte.
Ist die Erzählung des Alt-68ers bei aller Kritik also unterschwellig ein Plädoyer für Gewissensnot und Zuchtrute aus guter alter Zeit? Schließlich wird in diesem Tagen wieder ernsthaft darüber nachgedacht, ob nicht die lasche antiautoritäre Erziehung für den Werteverlust der heutigen Jugend verantwortlich ist. Immerhin kann man Delius‘ Kritik am häuslichen Katechismus auch so verstehen, daß es gerade die destruierte Gläubigkeit gegenüber der Sprache und das latent schlechte Gewissen waren, die Sensibilität und soziales Engagement entwickeln halfen. „Konservative Argumente gegen die Angriffe, denen gerade die Linken neuerdings ausgesetzt sind“.
„Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ ist ein Buch, das erst auf den zweiten Blick verwirrt und deshalb bei aller Grundsolidheit provoziert. Zu einer Zeit, da deutscher Untertanengeist und Neonazi-Selbstbewußtsein unheilvolle Allianz eingehen, versucht Delius an seiner Biographie klarzumachen, daß man sich nicht nur wünschen kann, solche Väter wie der seine wären ausgestorben. Delius‘ Kindheitsrückblick ist märchenhaft weit vom heutigen realen Sportgeschehen entfernt, aber gerade deshalb verkündet er die frohe Botschaft der Literatur, die wieder einmal beweist, daß es Dinge gibt, womit man Eigentore meistern kann.
(Iris Denneler, Der Tagesspiegel, 1.5.1994)
Ausrufung von Fussballgöttern
F.C. Delius‘ Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“
Im Jahr der Fussballweltmeisterschaft eine schmale Erzählung mit dem Titel „Der Tag, an dem ich Weltmeister wurde“ zu veröffentlichen, mit Fritz Walter und dem WM-Pokal auf dem Einband und den rot hervorgehobenen Worten „Weltmeister“, „Deutschland“ und „Dreizuzwei!“ auf der Rückseite, soviel geschicktes Marketing sieht dem nachdenklichen und zurückhaltenden F.C. Delius gar nicht ähnlich.
Tatsächlich kommt, wer das Bändchen wegen der nostalgischen Erinnerung an jene kuriosen Konvulsionen des deutschen Nationalgefühls im Sommer 1954 liest, an jenem 4. Juli, als die deutsche Nationalmannschaft die favorisierte ungarische im Berner Wankdorf-Stadion mit 3:2 besiegte, tatsächlich nicht auf seine Kosten. Denn das nationalpsychologische Grossereignis gewinnt in der Erzählung nur in der genau umrissenen Perspektive eines elfjährigen Pfarrerssohnes Bedeutung; eines stotternden, unter Schuppenflechte und religiösem Zweifel leidenden Knaben, in dessen abgeschottete Welt die Stimme des Radiokommentators Herbert Zimmermann als das Unerhörte schlechthin einbricht.
Es beginnt mit einem grossen Geläute. Der Elfjährige, ältestes von vier Kindern im evangelischen Pfarrhaus in der tiefsten hessischen Provinz, wird an jenem Sonntagmorgen von einem viertelstündigen Glockenlärmen geweckt. Delius beschreibt die akustischen Einschläge ins halbwache Kindergemüt mit forcierter Eindringlichkeit. Nicht weniger detailliert folgt die Prozedur des Sonntagsfrühstücks, mit den dünnen Brotscheiben, dem gleichmässigen Verstreichen der Sanella-Margarine, dem Tropfen des Johannisbeergelees und dem Anflug von Exotik, den „Kaba – der Plantagentrank“ dem diszipliniert-kargen Mahl verleiht. Es ist alles wohlgeordnet, materiell bescheiden zwar, dafür aber spirituell reich.
Sanfte Erziehung
Nichts in der Welt des Pfarrersohnes ist nicht von Gott gegeben. Und Gott zu denken, ihm zu danken, ist die geistige Tätigkeit, die alle seine Handlungen begleitet, begleiten soll, nach dem Willen von Mutter und Vater und jenem Vater des Vaters, des allsehenden Auges und allwissenden Geistes in den Höhen. Dies ist der Terror der sanften Erziehung: dass jedes Brot und jede Scheibe Sonntagsbraten vom Wüstenmanna und vom Abendmahl her seine Bedeutung erfährt, jede Rede vom Wort Gottes, und dass jede Geste von der Sicherheit seiner Anwesenheit zeugt. Es ist der Terror des protestantisch-gottgefälligen Lebens, das den sinnlichen Zugang zur Welt verstellt, sie demutsvoll mit geistiger Bedeutung bestreicht wie dünnes Brot mit klebrigem Gelee und einen fragenden Jungen unter der Schwere und Sicherheit religiös-paternaler Allmacht zu ersticken droht. Und das ist ihre Perfidie: dass sie bescheiden, sanft und freundlich auftritt und keine Lücke lassen will. Die Allmacht hat ihren Sitz nicht im Gesetz, ist nicht verkörpert in einer Figur; sie hat das Innerste des Kindes erreicht.
Dass sie es nicht ausfüllt, dabei setzt die Erzählung an: Der Junge zweifelt. Vor allem an sich selbst. Warum stottert er? Die Turmbauer zu Babel waren bestraft worden, weil sie sich „einen Namen“ hatten „machen“ wollen. Woran war er schuldig, dass sich ihm die Haut schuppt?
Delius schafft es ganz geschickt, die Zweifel des Jungen in eben jenen religiösen Bildern und Begriffen auszudrücken, die sein Leben umstellen und einengen. Hier ist er meist ganz nah an der Ich-Perspektive seines Helden. Doch schmuggeln sich in die durchgehende Ich-Erzählung auch häufiger Wendungen, die nur von einem distanzierteren, gereiften Bewusstsein aus formuliert werden können. Wie überhaupt die Sprache des Jungen von einer gleichsam poetischen Akkuratesse durchdrungen ist. Ein gelernter Dichter gibt dem Jungen zu sagen, was er leidet. Stimmig, bibel- und bildgesättigt, oft zu perfekt, um wahr zu sein, das heisst zu schön, um ganz authentisch zu wirken. Rauh und kantig ist hier nichts; wohlformuliert, motivsicher, manchmal rhythmisch-gestrafft dominiert eine gekonnte Erzählsprache die Expression des aufgewühlten Jungen. Man mag das manchmal bedauern, doch verleiht der „poetische“ Glanz der eindringlichen Geschichte auch einen gewissen äusserlichen Reiz.
Die Erzählung hat zwei Höhepunkte. Der eine ist die Predigt des Vaters in der Sonntagsmesse, in der die Macht seiner in Namen Gottes deklamierenden Stimme zur vollen Wirkung kommt. Der zweite ist die Fussballübertragung am Nachmittag desselben Tages. „Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek, du bist ein Fußballgott!“ „Drei zu zwei führt Deutschland, fünf Minuten vor Spielende! Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt!“ – In den ekstatischen Kommentaren Herbert Zimmermanns erlebt der Junge dreierlei: eine beseelte Rede, die aus dem Profanen aufsteigt; einen Welt- und Sprachraum, in dem der Vater nichts verloren hat; und die Ausrufung von Fussballgöttern, die dem Jungen den Verstoss gegen das erste Gebot beglückt erleben lassen. Ähnlich und gegensätzlich zugleich ist die Erfahrung der Radiostimme der Vatererfahrung des Kindes; eben deshalb ermöglicht sie ihm eine Öffnung in eine andere Welt. Damit endet die Erzählung.
Stilsicheres Buch
Ob die Befreiung Folgen für das Leben hatte, kann der Leser nur vermuten. Eins kann er jedoch, so wahr im elfjährigen Pfarrerssohn sich der Autor selbst porträtiert hat, mit ziemlicher Sicherheit sagen: Literarisch an den Ort seiner frühen Peinigungen und Beglückungen zurückgekehrt, hat er ein (kleines) dichtes und stilsicheres Buch geschrieben, sein schönstes bisher.
(Hubert Winkels, Tages-Anzeiger Zürich, 17.5.1994)