„Kumm man röwer (…)“!
Ein erzählerischer Ost-West-Reflex von F.C. Delius: „Die Birnen von Ribbeck“
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. / Ein Birnbaum in seinem Garten stand“… vor welchen Urzeiten war das wohl, frage ich mich, daß man diese Fontanesche Ballade auf die Freigebigkeit eines adligen Gutsbesitzers in der Nähe von Nauen, nordwestlich von Berlin, zurückgehend auf eine alte Sage, derzufolge aus dem Sarg des Toten unter der Erde ein Birnbaum aufschießt, für die Schule auswendig lernen mußte – bis hin zu den beiden Schlußzeilen: „So spendet Segen noch immer die Hand / Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“?
Der Fall der Mauer und die neuen, unkomplizierten Reisemöglichkeiten in den Osten machen es nun naheliegend, auch dieses deutsche Terrain in den Erfahrungsbereich westdeutscher Schriftsteller einzubeziehen und – so hier der Fall – Fontanes Spuren nicht mehr nur per Kopfreise, sondern auch realiter zu folgen. Die Birnen von Ribbeck – unter diesem Titel legt Friedrich Christian Delius in Novellenlänge ein eigenwillig strukturiertes Prosastück vor, das eben hier seinen Aufhänger hat. „Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, (…) Bier und Faßbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten“, startet das Ganze mit einem Szenario, das den so plötzlich möglich gewordenen Ost-West-Tourismus als eine Art besitznehmenden Überall festhält.
Aber – was ist das für ein Ort, den der Besucher-Rummel hier überzieht, was sind das für Leute, die hier leben, was haben sie mitzuteilen; und was sind das für Erinnerungen und Assoziationen, die sich mit dem Namen derer von Ribbecks nicht nur historisch, sondern gerade auch aktuell verbinden? Alle diese Fragen aufzugreifen, schafft sich Delius ein „offenes Erzählmuster“, das keinen Handlungsfaden abspult, sondern ständig die Perspektiven wechselt: das Ganze erscheint als ein einziger über fast achtzig Druckseiten hingezogener Satz (ohne Punkt), in einzelne, überschaubare Abschnitte untergliedert, die eben diesen Wechsel der Blickpunkte inszenieren.
Vom Einfall her läßt es sich so konkretisieren: – da unterbricht einer der Einheimischen die willkommene, aber doch allzu flotte Festivität, die sich mit ihrem Lärm und Alkohol über die ostdeutsche Realität stülpt und setzt in seiner neugewonnenen Redefreiheit zu einem Monolog an, den er sich so leicht nicht nehmen läßt: „Jetzt seid ihr da, und ich red euch die Hucke voll, bin noch nicht fertig, Verzeihung, man will ja nicht lästig fallen, ich quatsche nie so viel (…) wenn ich jetzt nicht rede, red ich nie, denn der Kopf steht kopf und alles so schnell, daß du vergißt, wo dein Herz sitzt, und bald heißt es wieder, kümmer dich nur um dich selbst und wie du deine paar Kröten zusammenkriegst fürs Fressen, Miete, Benzin und gibt auf, was du denkst, was du anders haben willst, und das Wort wird dir abgeschnitten auf die alte neue Art.“
Das also ist die Kontur des Erzählers, dem es redend und ohne Pause immer weiterredend aufgetragen ist, den festtrunkenen „Wessies“ etwas von seiner Sicht auf die lokale Realität zu vermitteln, die sich eben lokalhistorisch nicht nur mit der Birnengeschichte verbindet, wie sie Fontane literarisch traktiert hat. Daß „nach jedem milden Ribbeck ein strenger kam, der knausert und spart, auch wenn sie alle Hans Georg heißen und die gleiche Gewalt hatten als Polizist und Richter und Kirchenherr und Offizier“, läßt sich ja schon der Ballade entnehmen, aber wie ging es weiter mit den Ribbecks und ihrem Ort Ribbeck durch die Zeiten – bis herauf in die jüngste Geschichte und aktuelle Gegenwart – und wie stand und steht es mit dem Leben derer, die als arbeitendes Volk anonym geblieben sind wie der Erzähler, der auch keinen Namen hat?
Delius öffnet auf diese Weise den Blick für den jüngstgeschichtlichen Horizont, der sich im Festrummel zu verlieren scheint. Er erinnert daran, daß die Adelsfamilie bis ins „Dritte Reich“ hinein ortsansässig war: zwar verweigerte der dazumalige Rittmeister R. den Hitlergruß, weil er auf die Nazis „herabsah“, und doch ließ er die leitenden Herren der IG Farben ins Schloß (…), die im abgesperrten Gelände an lautlosen chemischen Waffen herummurksten und Blendgranaten ausprobierten“, was aber nicht hinderte, daß der letzte Ribbeck auf eine Anschwärzung hin ins KZ Sachsenhausen eingeliefert wurde und dort umkam. Delius kommt auf die Umwandlung des Adelsgutes in eine LPG zu sprechen, auf die Hoffnungen, die sich mit diesem Bodenreform-Versuch verbanden und die enttäuschende wirtschaftliche und politische Wirklichkeit mit Parteifunktionären und Stasi. Doch zeichnen sich – mit der Herstellung alter Besitzverhältnisse – auch schon wieder neue Probleme ab: „Plötzlich wird wieder wichtig, was einem gehört, und was nicht, was einer arbeitet, schon darfst du den nicht mehr anmeckern, der ein paar Hektar hat, schon mußt du die Mütze ziehen vor dem, dem du Pacht zahlst, wiste ne Beer, wiste ne Beer, ich will mehr als die Birnen, verdammt“.
Am Ort Ribbeck festgemacht, liefert dieser durchgehaltene Erzähler-Monolog als Mentalitätsporträt ein anschauliches Stück Alltagsgeschichte der DDR – herausgefordert durch den plötzlichen West-Kontakt vor Ort, aber doch auch selbstbewußt genug, sich nicht gleich wieder eine neue Bevormundung vorsetzen, einen neuen Maulkorb umbinden zu lassen: „Nun laßt mich mal meckern, das muß man doch sagen dürfen, ich laß mir nicht mehr die Schnauze, vierzig Jahre lang hab‘ ich die Schnauze gehalten und soll ich ausgerechnet jetzt dumm dastehn wie die Kühe und brüllen oder das Maul hängen lassen und wiederkäuen, was ich geschluckt habe all die Jahre und jetzt schlucke, was die Herren mit Schlipsen im Fernsehen vorkauen, die Weisheit zwischen Mark und Markt“.
Und die Ballade, die dem Buch den Titel gibt? – Fontanes Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland mit seiner Birnen-Mildherzigkeit bleibt immer im Blickfeld, bald von dieser, bald von jener Seite her beleuchtet. So erfährt der Leser, daß der alte, aus dem Grab gewachsene Birnbaum natürlich längst gefällt worden ist und einzig noch sein Baumstumpf im Restaurant Zum Birnbaum hergezeigt wird: „Da steht er, schwarzes, versteinertes Holz, fünfzehn Jahre unbeachtet, bitte nicht drängeln, bitte nicht mitnehmen, wegkaufen, wegräubern, wie es eure Art zu sein scheint, seit ihr uns nicht mehr Brüder und Schwestern nennt und uns verbindlich und zuversichtlich umarmt mit Eigentumsrecht, Erbrecht, Vorkaufsrecht, ein ständiges Kommen und Gehen.“ „Schwarz“, „versteinert“, so die Stichworte der Erinnerung, die sich mit dem Namen Ribbeck auf Ribbeck und dem Lauf der Geschichte verbinden, und doch darf man jetzt und immer noch „Es lebe der Birnbaum, prost“ rufen. Nicht, weil man inzwischen west-ost-verbrüdert allzu viel vom Birnenschnaps getrunken hat, sondern weil das Gedicht, das diesen Namen tradiert, trotz aller schulmeisterlichen Nachstellungen lebendig, d.h. für neue Deutungen offen geblieben ist.
Jetzt könne er es ja zugeben, wendet sich der Erzähler zum Schluß seiner langen Rede an den toten Adligen unter der Erde, daß die ganze Geschichte, die man ihm angedichtet habe, nur erfunden sei; in Wirklichkeit sei der berühmte Birnbaum einem einfachen Ribbecker Bauern aus dem Grab gewachsen, dem nach seinem Tod – aus purem Zufall, weil man auf derlei nicht achtete – eine Birne in der Jacke geblieben war, „jetzt kommt es raus, alles kommt raus nach und nach“.
(Karl Riha, Frankfurter Rundschau, Literatur-Rundschau, 30.03.1991)
Das Flüchtige, das bleiben wird
F.C. Delius‘ Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“
Es rührte alle an, als Stefan Heym, der letzte unter den Berühmten, die den Verband deutscher Schriftsteller (VS) noch beehrten, auf dem Travemünder Vereinigungskongreß von den großen Themen sprach, die Deutschland der Literatur beschert. Es brauche ein, zwei, viele Balzacs, rief er aus, die Abwicklung eines ganzen Landes zu beschreiben, den Ausverkauf dessen, was gewesen ist und was nun nicht mehr werden kann. Und wer, wenn nicht die Schriftsteller, sollte das tun?
Nun soll der Noelle-Neumann-Maier-Leibnitz bleiben, was der Statistik Sache ist: an Daten fehlt es uns nicht. Auch die Schicksalsetüden, von der Presse, im Tiefdruck bis Regenbogen, gern und ausführlich gespielt, sind uns im Westen schon geläufig. Die Stasi-Opfer und die Stasi-Täter, die stockend oder endlich befreit erzählen und denen wir glauben können oder auch nicht… Und die Hochschullehrer und Manager der Industrie aus Hamburg und Essen, die kopfschüttelnd und freundlich berichten, was das für Menschen und Verhältnisse sind im Osten … Stefan Heyms Ansinnen in Ehren, aber auf den großen Roman über das rückgewickelte Erbe der Guldenburgs in der Mark Brandenburg werden wir noch ein Weilchen warten müssen. Die Tinte auf den Überführungspapieren ist noch nicht trocken, die Gelände sind noch nicht ganz und gar verteilt. Inzwischen beschäftigt uns im Goldenen Westen, informiert und unwissend zugleich, mit Geschichten und Zahlen zum Vergessen voll, doch nun schon seit einem Jahr etwas anderes, schwer Faßbares: eine mulmige Ahnung, ein übler Verdacht.
lernen betteln vor denen, die mit einem zupackendem Blick alles zu Geld machen, was ihnen vors Auge kommt, die alten Schränke, die Ziegelsteine mit Prägung Ribbeck, die Truhen, die Häuser, die Landschaft plötzlich ein einziger Golfplatz rund um Berlin
Wie kann man in eine Erzählung fassen, was noch nicht erzählbar ist, weil alles drunter & drüber geht und, während gehandelt wird auf der einen Seite, die andere noch mit verschränkten Armen dasteht, überflutet von Gerede und Reklame, Versprechungen und Hoffnungen, von einer zupackenden Ordnung, einer optimistischen Logik, die weniger daran interessiert ist zu halten, was zu halten ist, als das Gelände freizumachen für den neuen Plan der Wirtschaft und des Lebens, der sich so gut bewährt hat, wo er 40 Jahre laufen durfte? Wie kann man einem Gefühl Ausdruck verleihen, das zwischen den Koordinaten der Freude und des schlechten Gewissens im Westen, der Erleichterung und der erinnernden Ahnung im Osten schwankt, beispielsweise im Havelland:
plötzlich ein einziger Golfplatz rund um Berlin, weg mit den Kartoffeln, weg mit dem Roggen, die ganze Ernte in die Schweine, da haben wir Erfahrung, und dann weg mit den Schweinen, und dann
liegen über den alten Geschichten von Birnen die neuen Geschichten von Geben und Nehmen, und sind schon von gestern
Denn unter die Freude der Gegenwart, die einbricht als spendables Fest des Westens, der in fünfzig Karossen gekommen ist, für Fontane einen Birnbaum Marke „Gräfin von Paris“ zu pflanzen und bei der Gelegenheit alle im Dorf mit Holzbänken, Sonnenschirmen, Erbsensuppe und Birnenschnaps zu bedenken, selbst an neue Matratzen für die Insassen des Altenheims im Schloß von Ribbeck wurde gedacht – unter diese spendierte Gegenwartsfreude mischt sich eine Erinnerung, die ist
schon von gestern, was hatten wir das eine Jahr Gurken im Überfluß, damit hätte einer die Kinder vom ganzen Kreis Nauen ernährt, aber die paßten nicht in den Plan, einige konnten wir lagern oder essen, und dann die Russen mit Stiefeln durch und sich die besten rausgesucht, und der Rest in die Mastanstalt, in ganz Thüringen keine Gurken, und wir fahren die Gurken in die Schweine und kriegen trotzdem gutes Geld dafür, egal wo die Gurken landen, und andere jammern und bieten eine Lichtmaschine für einen Sack Gurken, ein Auspuffrohr für einen Sack Gurken, halbe Autos gegen Gurken zu tauschen, und wir kippen die Gurken in die Schweine,
ein Prost auf die Verteilung
Und etwas an dieser Erinnerung stimmt uns aufs Neue mulmig, weil man weiß, daß auch die freie Wirtschaft einen Plan verfolgt, dessen Soll nur mit Großzügigkeit zu erreichen ist, und daß diese Großzügigkeit dem großen Ziel zuliebe schon einmal hier und da über die Kleinigkeiten hinwegsehen muß. Und daß bei dieser neuen Ordnung in einer Zwischenphase, die dem Gesetz gehorcht, so manches auf den Feldern nicht nur in Ribbeck liegen blieb, weil der, dessen Logik nun Gesetz geworden ist, sich damit nicht mehr abgeben kann:
sogar euch haben wir mit unserem Gemüse beliefert, und nun ist unseren Leuten auf einmal nichts mehr kernig und farbig und saftig genug, und wir sehen zu, wie eure Produkte hier reibungslos einfließen, und da versteh ich nun gar nichts mehr, das haben sie im Fernsehen erklärt, daß wir für den Export jeder Ladung Gemüse an euch eine Genehmigung eures Ministers brauchen, weil die EG nicht zuläßt, daß preiswertere Produkte auf eurem übervollen Markt landen, und wir sehen zu wie die Blöden, wie staatliche Schutzbestimmungen für unsere Produkte abgeschafft werden, da komm ich nun gar nicht mehr mit, von Tag zu Tag mehr werden unsere Märkte und Regale geöffnet für die Produkte von drüben, du bei uns alles Sense, erklär mir das mal, muß man denn, wenn man den Staat schlachtet, gleich die ganze Wirtschaft notschlachten
Ja, das mußte man wohl. Und wer gegen diese Umstandslosigkeit Bedenken anzumelden wagte, wer laut oder leise fragte, wo denn die ganze Ernte aus der DDR geblieben sei, der wurde schnell des Unverstandes gescholten, oder, fragte er zum Beispiel in Ribbeck, der krassen und blöden Undankbarkeit. Denn schnell und gründlich mit untergepflügt wurde ja mit dem Blumenkohl und den verfaulten Gurken auch eine andere Erinnerung, die, nach 30 Jahren unvermutet wieder an die Luft gekommen, als ein nicht eingelöstes Versprechen weiterwirkte bis gestern, bis zu diesem einen Abend der Erzählung, in der einer am spendierten Holztisch sitzt und in Birnengeist und Monolog auch dieses noch zur Sprache bringt:
denn was mich angeht, ich möcht nicht verzichten auf den winzigen Stolz nach der Bodenreform, wenn das Getreide gut stand, da hast du dich gefreut, was du geschafft hast mit Frau und Kindern, was hätte da werden können aus uns und aus Ribbeck, wenn sie das Soll nicht so hochgedrückt hätten
Wo sich die Erinnerung an die mankierten Pläne von vorgestern mit einer festlichen Gegenwart mischt, in der das eine große Manko DDR schnell zum Verschwinden gebracht wird, drängen sich auch andere Bilder auf, die, immer wieder neu gedeutet und den Verhältnissen entsprechend umschrieben, umgeschrieben, untersagt, zum Geschichtsbuch im Kopf des Erzählers wurden. Das Geschlecht derer von Ribbeck zum Beispiel, die mehr als siebenhundert Jahre lang, als hätten sie das ewige Leben, immer wieder unter dem selben Namen Hans Georg das Land vermaßen und die Bauern duckten. Das Ende des Vorletzten von ihnen, von dem die einen sagen, er sei von den Russen vor den Augen „seiner“ Bauern und Fremdarbeiter erschlagen worden, die anderen, er sei einer heimlichen Schweineschlachtung wegen im KZ Sachsenhausen verendet. Das Schicksal des vorläufig letzten, der vor der drohenden Enteignung oder womöglich den Erinnerungen in den Westen flüchtete, wo er zum Zeitpunkt der Erzählung noch durchaus hoffen durfte, nach der Entschädigung der BRD nun doch noch Herr über Land, nicht mehr über Leute immerhin, zu werden… Und die mehr als hundert Soldaten der Wehrmacht, die am Ende des Krieges noch desertierten und im Ribbecker Wald von der SS mit Benzin übergossen und verbrannt wurden und für die nichts da steht als ein verwittertes Holzkreuz mit einem Stahlhelm drauf, weil Desertation selbst in den letzten Tagen vor dem endlichen Frieden weder im alten noch im neuen Deutschland eine Erinnerung wert ist. Und der legendäre Ribbeck schließlich, dessen Großzügigkeit so weit ging, daß er Birnen an die Kinder verteilte, die auf seinen Feldern jäteten, statt zur Schule zu gehen, und dessen Memorierung in Ballade wie Erzählung vom Antifeudalstaat untersagt worden war.
Wie Erinnerung funktioniert, ist nicht eigentlich Delius‘ Thema, aber das Gedächtnis eines Einzelnen bildet den Raum seiner Erzählung – einem Monolog in einem einzigen Satz, in dem die Themen und Bilder sich überlagern, verschränkt durch die Logik der Assoziation, die sich an einem Ort und dessen Geschichte entlang bewegt. Delius ist zweierlei gelungen: Eine Phase in der Historie der Bundesrepublik so zu beschreiben, wie sie von den allermeisten erlebt wurde – nicht handelnd, sondern passiv, mit einer mulmigen Ahnung auf der einen Seite, mit einer vergeblichen Erinnerung auf der anderen. Daß diese vergebliche Erinnerung, gepaart mit einer wirren und hilflosen Hoffnung, mit Demütigung einhergeht, ist oft appellierend beschworen worden, aber nie so genau gezeigt. Und zum Zweiten hat der Autor mit diesem Text eine andere Einsicht zu Literatur gemacht: daß das Gedächtnis eines einzelnen der offiziellen Geschichtslogik Widerstand entgegensetzt. Der systematischen Betrachtung der Ereignisse, die rückschauend immer recht behält, und darauf zielt, Kontinuität und Allgemeines zu behaupten, wo der Zufall Akteur und der Einzelne Opfer waren, hält Delius dieses Delirium der anderen Erinnerung entgegen.
Es braucht Geduld und Behutsamkeit, ein Bewußtstein sprechen zu lassen, das nichts Fertiges aufzuweisen hat. Und vermutlich bedarf ein Autor des Wagemuts, etwas zur Sprache zu bringen, das nur in einer Zwischenzeit überhaupt Sprache werden kann. Delius hat das Vorläufige zu einem Text gemacht und das ganze Risiko für sich entschieden: Es ist ein Buch geworden, das noch gelesen werden wird, wenn das Vorläufige längst Vergangenheit geworden ist.
(Elke Schmitter, Die Tageszeitung, 14.06.1991)
Nach den Herrschenden sprechen die Beherrschten
Friedrich Christian Delius‘ Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“
Eine Hotel-Lobby in Westberlin im Frühjahr 1991: Im ARD-Regionalfernsehen spricht gerade der jüngste Nachfahre der Adelsfamilie von Ribbeck. Die Verhandlungen mit den örtlichen Behörden seien zwar zäh vorangekommen, lässt der spätzeitliche Junker verlauten, nun sei er aber zuversichtlich, das Landgut seiner in die Literaturgeschichte eingegangenen Ahnen wieder in den rechtmässigen Familienbesitz zurückzuführen. Werden also die vormaligen Fontaneschen Herren von „Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ die Restauration nach der deutsch-deutschen Revolution von 1989 vollziehen? Nicht doch, ganz so einfach dürfe man es sich nicht machen und nicht vorstellen, meinte der jüngste Träger des berühmten Namens im besagten Fernsehinterview. Man suche noch nach Kapital für eine zu gründende Trägerschaft, welche aus dem gegenwärtigen Pflegeheim Schloss Ribbeck und seinen umliegenden Ländereien der bisherigen LPG einen gewinnträchtigen Freizeitpark für das grosse Berliner Publikum machen solle.
So vollzöge sich dann die Wende vom DDR-Staatskapitalismus zur freien Marktwirtschaft – über die Köpfe der sich teilweise noch wiedersetzenden ortsansässigen Bevölkerung hinweg. So sieht es jedenfalls der Erzähler von Delius, der in seinem langgezogenen Lamento brechtisch Partei ergreift für das Volk und damit vom westlichen Ufer aus engagierte Literatur ausformt, die zweifellos etwas démodée ist. Dieser Befund dispensiert aber nicht davor, hinzuschauen, wie hier die Funktion erfüllt ist, die dieser Prosa zugedacht wurde.
„Kumm man röwer, ich hebb‘ ne Birn“ – was noch heute Heerscharen von Schulkindern deutscher Zungen auswendig lernen (dürfen), diese Worte sind, genau hundert Jahre nachdem sie Theodor Fontane in die Welt gesetzt hatte, mit neuer doppelbödiger Ironie des Schicksals aufgeladen. Die legendären Birnen des milden, grosszügigen Herrn von Ribbeck haben das Auf und Ab der eisernen Geschichte Brandenburgs ideel ohne Schaden und Tadel überlebt. Im Frühjahr 1990 setzt Delius mit dem Gestus schierer Empörung seinen Text an:
„Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiss lackierten Autos … und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten … und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Photoapparaten und Sonnenschirmen und zuerst die Kinder, dann uns nach und nach aus Stuben und Gärten lockten uns Bier und Fassbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten …“
Der Furor hält den einmal angeschlagenen Tonfall schematisch durch, ohne Punkt, bis nach achtzig Seiten der Kreis geschlossen ist. Die vox populi des Erzählers führt im inneren Monolog Klage über den Preis für die im Eiltempo durchzuziehende Wiedervereinigung, emporgetragen und wieder fahrengelassen nur von den Wogen der Freibierseligkeit anlässlich der ost-westlichen Wiederauferstehungsfeier auf Schloss Ribbeck. Ist der neue Segen aus der goldenen alten Bundesrepublik noch dem „Segen … des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ gleichzusetzen? Keineswegs natürlich. Denn diese emphatische Widerrede ist die Demontage des Mythos, den die Nachwelt aus Fontanes Gedicht konstruiert hat. Die wechselnden Herren waren wohl auch in Brandenburg in der Regel nicht ausgeprägt altruistisch veranlagt – seien es nun die letzten Adeligen gewesen, die Nazis oder zuletzt die DDR-Altstalinisten. Das rechnet der vom Rausch geschüttelte Zweifler seiner kleinen havelländischen und der grossen weiten Welt vor. Er operiert in seiner Brandrede mit ziemlich grobkörnigen Bildvergleichen, die Geschichte im Eilzugtempo durchmessend. Der authentische Hinweis auf den aktiven Widerstand der Dynastie von Ribbeck im Dritten Reich gegen die Nationalsozialisten ist eine der Ausnahmen, wo Delius der sonst inhärenten Vergröberung eines derartigen Textes ausweicht.
Im Hintergrund steht die indirekt für Behutsamkeit plädierende, aber in erster Linie Ratlosigkeit verbreitende Frage, was denn die Alternative zum Verlauf der allerjüngsten Geschichte gewesen wäre. Da reduziert sich dann schnell manches auf den vielzitierten Gemeinplatz, dass vielleicht nicht gleich alles gar so schlecht gewesen sei, wie es in der allgemeinen Blindheit angesichts der Mühen des Umbaus der Ex-DDR den Anschein mache. Jetzt aber muss der Desillusionierte seinen Verzweiflungs- und Warnschrei hinausposaunen, bevor einem das Wort wieder „abgeschnitten wird auf die neue alte Art“.
Delius versucht, der ganzen Ex-DDR-Gesellschaft aufs Maul zu schauen. Durch seinen als Entlassener zwischen Stühle und Bänke gefallenen Sprecher lässt er im Predigtton verkünden, wie die alten Verlierer im Begriff sind, die neuen zu werden. Das führt zwangsläufig zu einer etwas verallgemeinernden Darstellung „des Volks“ als integral schuldloses, von den jeweiligen Machthabern gebeuteltes Kollektivopfer. Inzwischen weiss man, wie verheerend stark die Abhängigkeiten aller Segmente der DDR-Gesellschaft voneinander waren, so dass dieses Bild von Gut und Böse zuweilen noch etwas mehr Differenzierung ertrüge. Mit grösster Wahrscheinlichkeit führte dies aber andererseits über den legitimen, aber zugleich auch limitierten Anspruch dessen hinaus, was Delius jedenfalls leistet.
Es gilt zu bedenken, dass der ausgewiesene Dokumentarist dieses Mal als einer der ersten bundesrepublikanischen Autoren mit literarischen Mitteln auf einen politischen Vorgang reagierte, der so sehr im Fluss ist, dass man gerechterweise auch nicht mehr erwarten darf als das, was diese Erzählung bietet. Sie ist als Einspruch und Appell zu verstehen gegen die Gefahren des ohne Rücksicht auf Verluste schnellstmöglichen Vollzugs der „Rückeroberung“ mit den Mitteln der nicht alle seligmachenden Marktwirtschaft. Insofern ist dieses kleine Lehrstück im traditionellen Sinn politisch engagierter Literatur nicht abzutun mit der angeblich fragwürdigen Legitimation des Autors, seinen Stoff in dieser Art umzusetzen, wie sie Reinhard Baumgart in der „Zeit“ Delius relativ apodiktisch absprach. Er unterstellte, Leute aus dem Inneren wie etwa Christa Wolf oder Volker Braun würden sich da besser aus der Affäre ziehen. Sie allein böten als Mitglieder der inkriminierten Gesellschaft Gewähr dafür, dass dem Volk nicht nur aufs, sondern auch sozusagen ins Maul hinein geschaut würde. Es ist aber nicht einzusehen, warum einer, der weniger unmittelbar beteiligt war, nicht als Stellvertreter der momentan ziemlich Sprachlosen fungieren dürfte. Wohlverstanden einer, der sehr wohl wissen kann, wovon er spricht. Delius lebt seit bald dreissig Jahren fast ununterbrochen in Westberlin. Das ist immerhin nicht Frankfurt oder München.
Und bliebe am Ende nur die Frage im Raum stehen: Wie kommen wir (West-) Deutschen wohl an mit unserer gegenwärtigen Politik in den neuen Bundesländern? – dann wäre auch dieses nicht gar nichts. So lässt sich die Perspektive umkehren. Der Text kann sich nämlich auch in eine Aussenansicht kehren, weil der Erzähler immer wieder die Optik der ahnungslosen jüngsten Kolonisatoren in sein Räsonieren einbezieht.
Mehr als dieser genügsame Versuch von Friedrich Christian Delius, literarisch schnell auf politische Aktualität reagiert zu haben, ist objektiv gar nicht zu erwarten. Es muss wohl noch einiges Wasser die Elbe hinunterfliessen, bis sich in den Köpfen der Literaturschaffenden der ehemaligen DDR das sediert hat, was zu einer profunderen Auseinandersetzung mit der Geschichte des ersten deutschen „Bauern- und Arbeiterstaats“ führen wird. Gegen die Idee, das alte Fontanegedicht in eigenständiger Manier zu einem Tertium comparationis zu revitalisieren, spricht nichts. Delius gibt uns seine Lektion mit gutem Recht als Unruhestifter mitten in den Turbulenzen der Liquidation der DDR. Tut es je Wirkung, hätte sogar wieder einmal ein Kläger seinen Richter gefunden.
(Heini Vogler, Neue Zürcher Zeitung, 03.10.1991)