Alfred Döblin Ausstellung
„Mein Name existiert nicht“
Zur Eröffnung der Alfred-Döblin-Ausstellung in Berlin 30.08.1987
1.
Vor beinah sechzig Jahren wollte ein junger Mann aus Greifswald Döblin in Berlin aufsuchen. „Ich war gar nicht mutig genug“, so sagte er vierzig Jahre später in einem Interview, „ich war gar nicht mutig genug, zu ihm zu gehen und ihm zu sagen, ich verehre ihn als Dichter und möchte ihn sehen, sondern ich dachte mir aus, weil ich gehört hatte, daß er Arzt sei, daß ich als Patient zu ihm gehen wollte… Ich kam zu dem Haus und fand auch das Schild an der Tür und sah nun die Realität, daß er wirklich Arzt war, daß da Patienten hineingingen, und daß alles ganz ernst zu nehmen war, und ich hatte dann nicht mehr den Mut, als Patient reinzugehen und zu ihm zu sagen, Herr Doktor, ich bin irre, wollen Sie mich nicht untersuchen? Sondern ich stand lange vor dem Haus…“
Ich weiß nicht, wie lange der junge Wolfgang Koeppen auf der Straße stand und an Döblin dachte, Eile ist Koeppens Leidenschaft nicht, ein paar Minuten werden es also gewesen sein – und ebenso sollten wir heute einige Minuten vor Döblins literarischer Praxis stehen und überlegen, was wir hier zu suchen haben und wen. Das Haus Döblin ist größer und unübersichtlicher geworden, ein schräges, labyrinthisches Gebäude, und wer wirklich einzutreten sich entschließt, wird eine Weile nachdenken müssen, welcher der vielen Eingänge zu wählen sei. Gut, wir brauchen uns nicht als Patienten zu verstellen, brauchen keine Angst vor diesem seltsamen Doktor und vor unserer möglichen Verrücktheit zu haben, aber ein Augenblick respektvollen Zögerns ist angebracht.
2.
„Mein Name existiert nicht … Ich habe mich schon überlebt – ohne recht gemerkt zu haben, daß ich lebe. Ich erwarte nichts mehr. Ich bin ohne Hoffnung für mich.“ Der das schrieb im März 1946, dessen Name existiert heute wieder, dessen Bücher werden in nennenswerten Auflagen verbreitet, dessen Werk und Biographie werden in Ausstellungen, nicht nur in dieser, ausgeleuchtet, Gesamtausgabe, Übersetzungen, Tagungen, es sieht so aus, als sei nun endlich die allgemeine Schande, die Alfred Döblin von den Nazis angetan wurden, und die besondere Schande, die die deutsche Kulturöffentlichkeit der Nachkriegszeit noch draufsetzte, einigermaßen wiedergutgemacht, als habe ihn das Publikum der siebziger, der achtziger Jahre halbwegs rehabilitiert.
Die berühmte Rede von Günter Grass aus dem Jahr 1967 ‚Über meinen Lehrer Döblin‘ hat gewiß Wirkungen gehabt. „Er kam nicht an“, rief damals Grass aus, „der progressiven Linken war er zu katholisch, den Katholiken zu anarchistisch, den Moralisten versagte er handfeste Thesen; fürs Nachtprogramm zu unelegant, war er dem Schulfunk zu vulgär… der Wer Döblin wurde und wird nicht notiert.“
Heute, zwanzig Jahre später, kann Döblin ausgestellt werden als einer der Klassiker unseres Jahrhunderts, eingereiht in die Schar der Autoren, die an Geburtstagen und Todestagen und auf germanistischen Kongressen gewürdigt werden. Grass hat einen Preis und ein Haus gestiftet, die den Namen Döblin tragen. Fassbinder hat ihn fast wieder populär und im Ausland bekannt gemacht, und sogar der Bezirk Kreuzberg hat einen Platz, der keiner ist, mit einem Döblin-Straßenschild bestückt. Kurz, wir könnten zufrieden sein, daß Alfred Döblin über seine Rezeption heute nicht mehr so zu klagen brauchte wie vor drei oder vier Jahrzehnten.
Nein, meine Damen und Herren, mit solcher Zufriedenheit kommen nur diejenigen davon, die Döblin nicht oder lange nicht mehr gelesen haben. In diesem Berliner Jahr, in dem die perversen Gelüste zur Verwandlung des Lebendigen ins Museale und andere aufwendige Mumifizierungen an jeder Straßenecke zu beobachten sind und alle Künste wie Bretter um und über die Sümpfe gelegt werden, da läßt sich ein scheinbar rehabilitierter Döblin nicht einfach ins Nostalgiezelt stecken. In den allgemeinen Trubel der Bejahung und Selbstbestätigung paßt dieser Mann nicht – und diese Ausstellung zeigt uns, warum. Döblin ist nur über Widerstände und Widersprüche zugänglich, auch in seinem populärsten und am wenigsten sperrigen Buch, Berlin Alexanderplatz. Wer nur diesen Roman kennt, wird vor den Bildern und Texten dieser Ausstellung und hoffentlich bei späterer Lektüre merken, wie wenig sie oder er, trotz bester Erinnerung an Franz Biberkopf und das Berlin der zwanziger Jahre, von Döblin weiß. Tückischer noch, je mehr wir von ihm lesen, desto rätselhafter, widersprüchlicher, kritisierbarer, abweisender wird dieser Autor. Es gibt keine Nähe, keine Vertraulichkeit mit ihm und doch bleibt er auf eine provozierende Weise anwesend. Ja, wer sich heute auf ihn einläßt, wird sich auf eine Überraschung gefaßt machen müssen: Hier ist ein Autor, der nicht bloß historische einzuordnen und zu verstehen ist, hier ist einer der wenigen aus der großen Galerie der deutschen Schriftsteller der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, dessen Aktualität eher zunimmt. Er ist nicht mit Formeln und Feiern zu verabschieden. Er stört, immer noch, dieser „Phantast der Vernunft“ (Grass). Er wird gebraucht – gerade weil er, im Gegensatz etwa zu Brecht und Thomas Mann, seine Zerrissenheiten, seine Widersprüche so offen darbietet.
3.
Wolfgang Koeppen, immer noch auf der Straße, sieht die Patienten mit Rezepten in der Hand das Haus verlassen und weiß, daß Dr. Döblin seinen Lesern keine Rezepte ausstellt. Der Meister der literarischen Diagnose hat für sich immer wieder nach Orientierung gesucht, aber er blamierte sich, vielleicht nicht einmal ungern, wenn er politische Themen vorschlug.
Stimmt der Verdacht, jeder könne sich seinen Döblin zurechtlegen, literarisch wie politisch? Da ist der sozialistische, der katholische, der sozialdemokratische, der mystische, der bürgerliche, der anarchistische, der Milieu-, der Familien-, der Historien-, der Natur-, der Stadt-Döblin – und immer so weiter. Keine literarische Form und Schreibweise war ihm fremd, und es gibt kaum eine politische Richtung außer der großbürgerlichen und der faschistischen, deren Verfechter er nicht war. Und selbst innerhalb dieser Überzeugungen vertrat er stets Außenseiterpositionen, die Verachtung zum Beispiel des Katholiken Döblin gegen den Katholiken Adenauer hätte ein Kommunist nicht schärfer formulieren können.
Wegen all dieser Wechselfälle und Widersprüche, die sich ja auch durch einzelne Werke ziehen, wo das Geniale neben dem Durchschnittlichen, das Unerträgliche neben dem Tollen, das Nüchterne neben dem Seltsamen, das Zitat neben dem Schwulst steht, ist der Autor wenig geliebt worden. Er hat nie eine Gemeinde gehabt, nur wenige haben zu ihm gehalten. Zwar haben so gegensätzliche Autoren wie Brecht und Grass ihn als ihren Lehrer bezeichnet, aber er hat eine Schule gemacht, nicht einmal eine Schar von Epigonen gefunden. Er fing mit jedem Buch wieder neu an. Er war nie dort, wo man ihn vermutete, er sprang aus jeder Schublade, ehe sie geschlossen wurde. Und doch gibt es eine Kontinuität in seinem Werk, die es gerade heute wieder bewußt nutzbar zu machen gilt.
4.
„Die Welt, brüllend vor Realitäten, an tausend Stellen gleichzeitig Tatsachen ausschwitzend, wäre nicht diese Welt gewesen, wenn sie nicht durcheinander burleske, tragische und reine Gestalten ins Licht gestellt hätte.“ So steht es am Beginn des 3. Teils des November-Romans.
Der Sinn für das Gleichzeitige, für das Durcheinander, Gegeneinander, Nebeneinander ist es, der die Techniken Döblins so modern, so brauchbar für die Zukunft macht.
Er suchte die Abläufe und Bewegungen zu erfassen, wegzukommen vom psychologisierenden Erzählen. Sein Thema – immer wieder: Aufstand, Kampf, Krieg, dazwischen die gebeutelten, revoltierenden Individuen – dies Thema forderte geradezu Revolutionierung der Mittel. Welche Freiheit epischer Möglichkeiten in der Methode des weiten Blicks, der Vielfach-Perspektive liegt, scheint heute völlig vergessen zu sein. Also sei hier, in aller Kürze, an die Vorzüge erinnert.
Döblin nahm sich selbst nicht so wichtig – und konnte, auch deshalb, seine Neugier auf Menschen aufs schönste umsetzen und sich gleichzeitig die Leidenschaft leisten, gesellschaftliche Vorgänge literarisch zu erfassen. Der Hunger auf Wirklichkeit trieb ihn, ständig die Perspektive zu erweitern.
Im Wang-Lun hat er bis nach China geschaut, in den Giganten bis Grönland, in der Amazonas-Trilogie sich, wenn auch recht angestrengt, durch Südamerika gearbeitet. Diesem Berliner war das Elsässische nicht ferner als das Indische. Welche Vielfalt der Schauplätze und Milieus! Wer wagte sich heute, da die deutsche Literatur bescheiden zur Heimatliteratur wird, so weit hinaus!
Erstaunlicher noch ist die Weite der zeitlichen Dimension. Innerhalb eines guten Jahrzehnts der Wallenstein, der Kriegsroman aus dem 17. Jahrhundert mit den Mitteln den 20., dann der apokalyptische Roman Berge Meere und Giganten, der im 25. Jahrhundert spielt, und das Hauptwerk, das gegenwärtigste Gegenwartsbuch Alexanderplatz – all das in 12 Jahren, und dazwischen noch die Glossen von Linke Poot, das Polenbuch, das Versepos Manas, etliche Aufsätze und Erzählungen, eine Vielfalt, die wir heutigen, mehr oder minder auf unsere Themen, Schauplätze, Landschaften spezialisierten Autoren nur bewundern können.
Der weite Blick zum dritten: Es gibt, wenn ich das richtig sehe, kein Buch von Döblin, das nur aus einer Perspektive geschrieben ist. Überall vielsträngiges, synchrones Erzählen, hochentwickelte Schnittechnik. Zumindest die sechs, sieben großen Werke leben von der Spannung, von der Balance zwischen innen und außen. Die intensive Darstellung des individuellen Bewußtseins. Das mag sich im ersten Moment nicht besonders aufregend anhören, aber wenn Sie wieder an heute denken, werden Sie Verarmung bemerken: die einseitige Bevorzugung des Subjektiven, die Verengung auf ein individuelles, persönlich bekanntes Gesichtsfeld, oft noch weinerlich mit ‚Betroffenheit‘ grundiert, der Verzicht also auf die öffentliche Dimension. (Dafür mag es gesellschaftliche und ästhetische Gründe geben, aber ich sehe hier einen Verlust, einen unnötigen Rückzug der Literatur aus der Gesellschaft.)
Der weite Blick ist, viertens, auch der differenzierende Blick: mal belustigt, mal andächtig, mal nüchtern, mal revoltierend blickt der Autor auf die Realitäten – und die Kombination der verschiedenen und sich widersprechenden, also ergänzenden Elemente, angereicht von „höchster Exaktheit“ der Sprache „in suggestiven Wendungen“, produziert Komik, Schärfe, nimmt uns, die Leser, für voll, macht die Dynamik, die zukunftstaugliche Ästhetik des jungen und mittleren Döblin aus.
5.
Wenn Sie, meine Damen und Herren, weniger an der Poetik, mehr am Thema „Stadt und Literatur“ interessiert sind, möchte ich Sie bei dieser Gelegenheit anstiften, über den Alexanderplatz hinaus sich an die beiden anderen großen Berlin-Romane zu wagen.
Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine, 1914/15 geschrieben und während der Kriegsjahre überarbeitet, ist die groteske Geschichte vom Verfolgungswahn eines Unternehmers, voll Chaplinscher Komik, ein verstörend verrücktes, weitsichtiges Buch. Und zweitens die vier Bände November 1918, die bittere Chronologie einer Niederlage in der Niederlage, teils in bester Döblin-Prosa, teils karikierend, teils unsäglich frömmelnd, ein trotz vieler Peinlichkeiten bedeutendes Produkt der traurigen Emigration.
6.
Wolfgang Koeppen, unten auf der Straße, ist wieder zum Fußgänger geworden, ich komme also folgsam (denn mein Lehrer ist wiederum Koeppen) zum Schluß. Die Würdigung von Wadzek, Wallenstein, Maskenball bis hin zum Hamlet möchte ich gern Ihnen überlassen, meine Damen und Herren. Nur eine Warnung: Unterschätzen Sie den Humor Döblins nicht! Es ist berichtet, er lachte gern, sogar noch als verbitterter Katholik. Also dürfen wir seine Verabschiedung aus der ‚Neuen Rundschau‘ von 1920 auch hier zitieren:
„Ich bin immer gerecht nach jeder Seite gewesen, die sich nur blicken ließ. Ich habe nie versäumt, wo ich ‚ja‘ sagte, gleich hinterher ’nein‘ zu sagen. Dies Schaukelpferd ritt ich mit Schneid und Eleganz in einer Zeit, wo jeder die Pflicht hat, die Pflicht, eine wohlarrondierte Meinung zu exekutieren. Ich habe die Wut der Gerechten erregt: und was kann ein armer Schächer ohne Plattfüße mehr.
Jetzt bin ich überwältigt. Mein Pferd schlage ich kaputt. Mit dem Holz gehe ich fechten. Das königliche Wort ‚Macht euch euren Mist alleene‘ unterdrücke ich.“
(In: Neue Rundschau, 2009/Heft 1: Alfred Döblin. S.Fischer Verlag, Frankfurt.M.)