Friedrich Christian Delius, FCD

Egon Schwarz

„Proust in Potosi. Ein ungeschriebener Roman“

Einer der Romane, die ich leider nicht geschrieben habe und wahrscheinlich nie schreiben werde, hätte den jungen Emigranten E. S. als Hauptfigur haben können, der in der Hölle von Potosi – liest. Schon während meiner ersten Lektüre von „Keine Zeit für Eichendorff“ (oder kurz danach), Anfang der achtziger Jahre, sah ich einen Romanstoff vor mir: In den Zinnminen Boliviens, die zu den schrecklichsten Ausbeutungsorten der Welt gehören, hoch in der Ödnis der Anden, arbeitet einer wie E.S., um zu überleben, als Nachtwächter und Aufseher der Nachtwächter, Metallurg, Gewichtskontrolleur und Laborant – und dank eines Wiener Laborchefs, der dreihundert Bände seiner Bibliothek gerettet hat, kann er Flaubert, Dostojewski, Proust, Rilke, Gide, Thomas Mann, Dickens, Ibsen usf. lesen. Er ist sich völlig im klaren über das Inferno um ihn herum, in dem die indianischen Mineros mit ihrer Anstellung bereits zum frühen Tod durch Arbeit und Kokain verurteilt sind. Die Literatur schärft seinen Blick für Hierarchien, Qualen und Erbarmungslosigkeit. Während Europa allmählich von Hitler befreit wird, befreit er sich – mit der Phantasie. Und schafft sich auf den Zinnbergen die Basis für seinen späteren Beruf. Und vergisst keine Sekunde lang die Hölle, die ihn umgibt und die er aufs genauste beobachtet.

„Die Jahre, die ich in den Zinngruben … verbracht habe,“ schreibt E.S. später, „bilden das Zentrum meiner Exilerfahrung, sie sind die lehrreichsten meines Lebens, sie haben sich tief in mein Bewußtsein eingegraben und sind ein unverlierbarer Teil meines Weltverständnisses überhaupt geworden.“

Diese Zeit, das Leben in schärfsten Widersprüchen, hätte, wenn sich nicht andere Projekte vorgedrängt hätten, Gegenstand eines Romans werden können. Im ungebremsten Größenwahn dachte ich schon mal: das könnte sogar eine Anti-“Blendung“ werden. Ich hoffe, es wagt sich noch mal jemand an diesen großen Stoff. Und wenn das eine fixe Idee bleibt – die glänzenden Schilderungen über Potosi auf den Seiten 116 bis 126 der „Chronik der unfreiwilligen Wanderjahre“ sind wahrscheinlich ohnehin nicht zu übertreffen.

(In: (Mit) Schwarz lesen. Essays und Kurztexte zum Lesen und Gelesenen von Egon Schwarz. Hg. von Jaqueline Vansant. Praesens Verlag, Wien 2009)

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