Ilse Aichinger
Ilse Aichinger „Die größere Hoffnung“
Dieser Roman, legendär seit 1948 und doch wenig gelesen, ist ungewöhnlich schon seiner Figuren wegen: „Kinder, mit denen etwas nicht in Ordnung war“, in den letzten Jahren und Monaten des Krieges. „Keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu bleiben und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen.“ Was den Roman jedoch singulär macht in der deutschen Literatur, ist sein Stil, der gern als lyrisch bezeichnet wird und doch nichts weiter als Ausdruck höchster Präzision innerer und äußerer Wahrnehmungen ist.
Ein Geheimnis der Kunst Ilse Aichingers besteht darin, dass sie von Nazis, von Juden, vom Mord und so weiter erzählt, ohne diese und die anderen einschlägigen Vokabeln zu benutzen. Umso genauer erzählt sie von den Träumen und Traumata unter einer herrschenden Mörderbande. Sie bleibt in der Gefühlswelt, in den Phantasien, in den scharfen Beobachtungen, in der Hellsicht und der Renitenz eines Kindes, des pubertierenden Mädchens Ellen, das sich zu seiner emigrierten Mutter wünscht und keinen Bürgen für sich findet. Da sie „zwei falsche Großeltern“ und zwei „richtige“ hat, ist sie Außenseiterin in der Gruppe ihrer Freundinnen und Freunde, die „vier falsche Großeltern“ haben, immer in Angst, „abgeholt“ zu werden. Sie beneidet die andern um ihren Stern, sie streitet und spielt mit ihnen, liebt sie, verteidigt sie, am Ende ist sie allein. Mit ihrem magischen Blick auf die Dinge und die Menschen und die Natur („Die Nacht sprang vom Himmel“), durchschaut sie eine unverständliche und brutale Welt. Das Unverständliche und Brutale wird nicht erklärt, es wird empfunden. Die Bedrohungen werden umso bedrohlicher, je weniger verständlich sie sind. Auch Täter, Opportunisten, Sadisten, Polizisten treten auf, auch sie Objekte der kindlichen Magie: „Stiefelschritte zertraten den Kies, sinnlos und so selbstsicher, wie es nur die Schritte der Verirrten sind.“
„Die größere Hoffnung“ ist eine Übersetzung des Deutschen ins Deutsche. Begriffe sind in Empfindungen, Terror ist in Bilder übersetzt, Träume und Ängste in Sprache. Das Bewusstsein der Kinder entlarvt die Verdrängungen und Lügen der Erwachsenen. Der unaufhörliche Schrecken, Aichinger bannt ihn in Sätze, die uns noch heute bestürzen. Permanente Hoffnung (auf ein Visum, auf Frieden) wird gespiegelt in permanenter Angst. So finden die nationalsozialistischenVerbrechen schon 1948, noch ehe sie erfasst und verstanden wurden, Antwort in der Literatur. Gerade weil hier nichts beim Namen genannt wird, ist alles gesagt. Es fehlt kein wichtiger Aspekt der zunächst verdrängten, dann verlegen oder heftig geführten Nazivergangenheitsdiskussion.
Was hätten, so dachte ich beim (Wieder-)Lesen dieses Romans, was hätten sich alles für törichte literarische Debatten, Vorurteile und Aversionen in den letzten fünfzig Jahren vermeiden lassen, wenn „Die größere Hoffnung“ besser bekannt und besser verstanden worden wäre. Oder wenn Literaturkritiker ihr Handwerk an diesem Buch geschult und entfaltet hätten. Der Roman widerlegt gleich mehrere gängige Ansichten, wie Romane zu sein hätten. Man könne auf zeitgeschichtliche, politische Ereignisse nicht unmittelbar, nicht sofort literarisch reagieren, man brauche Abstand, man nehme sich ein Beispiel an Tolstois „Krieg und Frieden“. Ilse Aichinger konnte mitten im nationalsozialistischen Terror, im Krieg und unmittelbar danach große Literatur schreiben. Nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist das Kriterium, sondern die richtige Entscheidung über Ästhetik, Stil, Perspektive. Zweitens, man habe sich zu hüten vor der kindlichen Perspektive, sie verfälsche immer, entweder ins Altkluge oder ins Banale. „Die größere Hoffnung“ beweist das Gegenteil. Drittens, man könne nicht gleichzeitig über den Massenmord und den Mond schreiben, nicht gleichzeitig dem Politischen und dem Poetischen dienen, siehe Adornos Verdikt über die Gedichte nach Auschwitz. Ilse Aichinger zeigt, wie sich beides bedingt, beeinflusst, befruchtet – wenn einmal eine, man darf hier sagen: geniale ästhetische Lösung gefunden ist.
(In: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Hg. von Helmut Böttiger, Bernd Busch, Thomas Combrink unter Mitarbeit von Lutz Dittrich, Bd. 2. Wallstein Verlag, Göttingen 2009)