Friedrich Christian Delius, FCD

Gedichte Die unsichtbaren Blitze

Die unsichtbaren Blitze
Gedichte

80 Seiten, Rotbuch, Berlin 1981
ISBN 978-3-880-22250-2

Fast alle Gedichte dieses Bandes finden sich
in dem Auswahlband der Werkausgabe
“Unsichtbare Blitze. Ausgewählte Gedichte”

rororo taschenbuch Werkausgabe
288 Seiten, € 9,99
ISBN 978-3-499-26917-2


Pressestimmen:

Mit einem belustigt ernsten Blick

Friedrich Christian Delius‘ Gedichtband „Die unsichtbaren Blitze“
Es gibt Bücher, die außergewöhnliche Qualitäten haben, von denen man aber dennoch enttäuscht ist, die selbst recht hoch angesetzte Erwartungen befriedigen und mit denen man trotzdem nicht zufrieden ist, wenn man sie aus der Hand legt. Der neue Gedichtband „Die unsichtbaren Blitze“ von Friedrich Christian Delius ist ein solches Buch.
Wenn dieser etwas aus der Mode gekommene Begriff heute überhaupt noch verwendbar ist, so kann man Delius als einen engagierten Schriftsteller bezeichnen. Vom ersten Augenblick, in dem er die literarische Bühne betrat, versuchte er sich mit seinen Büchern an der politischen Diskussion zu beteiligen und in die gesellschaftlichen Konflikte einzugreifen. Ein Bemühen, das ihm und seinem Verlag bis jetzt zwei langwierige Gerichtsverfahren eintrug, die weder seine Gegner noch er für sich entscheiden konnten – durch die er indirekt allerdings auch die so oft bestrittene Wirksamkeit der Literatur erneut unter Beweis stellte.
Seine Texte – selbst seine Gedichte – neigen zur Argumentation, sie lassen eher geschliffene Rhetorik erkennen als träumerische Sprachverliebtheit, sie wollen überzeugen, nicht überwältigen. Doch ist Delius niemals ein Parolendichter oder Agitator gewesen: Im Gegenteil. Nachdenklichkeit, Zweifel, Unsicherheiten und Furcht vor wohlfeilen Klischees (im politischen genauso wie im poetischen Bereich) waren stets Kennzeichen seiner Lyrik, zu der aber auch der Zorn über bestehendes Unrecht gehört, ebenso wie die Lust zur sozialen Veränderung, der Appell an die Leser und eine scheinbar unzerstörbare Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Auf diese Weise gelang es Delius immer wieder, ein recht genaues Bild der Bewußtseinslage der linken Intellektuellen in der Bundesrepublik zu entwerfen. Seine drei zwischen 1965 und 1975 erschienenen Gedichtbände zeichnen die Entwicklung von der ersten zögernden Kritik, über das ungestüme Aufbegehren bis zum inneren Kampf gegen die Resignation in den letzten Jahren der Studentenbewegung eindrucksvoll nach. Daß Delius trotz „Tendenzwende“ und „Neuer Subjektivität“ weder seinen alten Überzeugungen abgeschworen hat, noch sich ins Private zurückgezogen hat, machte sein erster Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“ klar, der in diesem Frühjahr erschienen ist.
Man schlägt den neuen Gedichtband also mit einigen Erwartungen auf – gespannt, etwas über jene siebziger Jahre zu erfahren, von denen Hans Magnus Enzensberger (in seinem Gedicht „Andenken“) recht flott meinte, zu ihnen könne er sich „kurz fassen“, denn „Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte / wäre zuviel verlangt“. Delius ist ausführlicher. Er nimmt es genau mit diesem Jahrzehnt und versucht, jenseits der geläufigen Schablonen vom Herbst in Deutschland, von der bravgewordenen Achtundsechziger-Generation und einer unbeweglichen, freudlosen Gesellschaft ein differenziertes Porträt aus eigener Sicht zu zeichnen.
Zwar ist auch an ihm die politische Ernüchterung dieser jüngsten Vergangenheit nicht spurlos vorübergegangen, doch wird er nach dem Verlust der naiven Utopien von einst nicht gleich von Weltuntergangsphantasien geplagt. Er versucht – nach dialektischer Tradition – gerade aus den Niederlagen zu lernen. So wirft er auf dem Roten Platz in Moskau, wo ihm nachts „die Gespenster Stalins Lächeln“ zeigen, mit dem real existierenden Sozialismus nicht gleich den ganzen Marxismus über Bord. Zwar kann er das Zentrum der sowjetischen Macht nur als „Friedhof“ beschreiben, sieht vom Kreml nur die mittelalterlich düsteren Mauern, doch: „Den Mauern bin ich dankbar für die klare Sprache: / Hier hast du nichts zu suchen / Den Mauern immerhin“ – und in diesem Nachsatz steckt nicht nur Trotz, sondern auch die Hoffnung, daß die Fehler des Stalinismus vermeidbar sind und sich eine sozialistische Zukunft ohne eine derart menschenverachtende Diktatur verwirklichen läßt.
In diesen finsteren Zeiten, in denen das Schlagwort „no future“ aus der Sprache der Jugendlichen scheinbar bruchlos in die der Literaten übergeht, schreibt Delius von der Zukunft mit vager, aber dennoch spürbarer Zuversicht. Natürlich finden sich auch bei ihm Warnungen vor der Umweltzerstörung, dem bornierten Rüstungswettlauf, der Atomenergie (sowohl in Bomben wie in Kraftwerken) – doch sind es noch Warnungen, keine voreilig ausgestellten Totenscheine für die ganze Menschheit. „Wo wir uns finden / Mit Äxten und Sägen beim Kampf um die Linden“, da ist noch nicht alles verloren, wo man sich ernsthaft um Auswege bemüht, da sind sie zumindest möglich.
Das letzte Zitat scheint mir, in seiner gewagten Vermischung von Volkslied und Protest, von dem Wunsch zu bewahren und dem Drang zu verändern, bezeichnend für den verhaltenen Optimismus dieses Bandes zu sein. Delius gewinnt aus einem überscharfen Geschichtsbewußtsein, das Cäsar, Churchill und einen möglichen dritten Weltkrieg in eine Strophe zu zwingen vermag, und aus seinem ungebrochenen Engagement für einen gesellschaftlichen Fortschritt eine überraschend unverkrampfte und klarsichtige Einstellung zur Gegenwart. So kann er sich, ohne die verhandelten Fragen zu bagatellisieren, eine gewissen Heiterkeit erlauben:

Vorm Fenster lauern dann die Bäume mit ihren Förstern
Und fragen beleidigt: Wo bleibt dein Beitrag gegen
Die Großindustrie? Geduld, sag ich. Was für Zeiten,
In denen die Bäume von den Menschen sprechen

Delius versucht politische wie literarische Traditionen mit aktuellen Themen zu verbinden, ohne – wie er es in seiner letzten Lyriksammlung mit Moritaten und Elegien tat – den alten Formen die neuen Inhalte nur aufzupfropfen. Er findet historische Situationen, deren Bedeutung für unsere heutigen Konflikte sich aufdrängt und nicht erst mutwillig konstruiert werden muß: beispielsweise wenn Voltaire mit Friedrich II: ausgerechnet in einem Schloß zu Kalkar über den Wert und die Grenzen des technischen Fortschritts philosophiert.
Es ist sicherlich zu früh, jetzt schon darüber nachzudenken, ob es Delius mit seinen Gedichten wiederum gelungen ist, nicht nur seine persönlichen Ansichten zum politischen Geschehen zu formulieren, sondern auch die Stimmung einer Generation oder einer bestimmten Gruppierung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre einzufangen. Mit einiger Sicherheit läßt sich aber jetzt schon sagen, daß dieses Bändchen eine gelassene und doch höchst engagierte Sicht, einen „belustigt ernsten Blick“ wie Delius selbst in einem Gedicht schreibt, auf die Gegenwart vermittelt, womit er sich die allgemeine Aufmerksamkeit zweifelsfrei verdient hat.
Ich werde aber dennoch den Eindruck nicht los, daß man das Buch schon recht bald kaum mehr wegen seines poetischen Gehalts, sondern hauptsächlich als Dokument zur Zeitgeschichte lesen wird. Denn dies ist der Pferdefuß an Delius‘ hochorganisierter Gedankenlyrik: Mit sinnlichen Qualitäten ist sie nicht im Übermaß gesegnet, sprachliche Artistik, einprägsame Bilder oder bezwingend schöne Formulierungen wird man in diesen Versen nur selten finden.
Auch für die neuen Gedichte besteht deshalb die Gefahr, der schon die ersten drei Lyrikbändchen unterlagen. Blättert man heute in diesen Texten, so bemerkt man, daß sich die Gedichte – mit wenigen Ausnahmen – nicht mehr dem Leser mitteilen, sondern von diesem mühevoll entschlüsselt werden müssen, daß er, anstatt nachzuempfinden, dechiffriert.
Delius scheint sich dieses Mangels aber durchaus bewußt zu sein, ja gelegentlich hat man sogar den Eindruck, daß er wirkungsvolle Verse oder Strophen mutwillig zerstört. So zum Beispiel, wenn er in einem der wenigen gereimten Gedichte eine Rheinüberfahrt beschreibt und eine idyllische Atmosphäre aufkommen läßt. Die Metaphern, mit denen er die friedliche Gemeinsamkeit mit der Fähre im „graugrünen Wind“ beschreibt und die „ausgebrannte Welt“, die dahinter zurückbleibt, sind treffend und angemessen. Doch mit der Zeile: „Ich wage es nicht zu sagen das Wort Glück“ hebt er die so zart beschworene Stimmung ins Bewußtsein und löscht sie damit aus.
Dies mag wohl auf Delius‘ überwache Furcht vor falschen oder zumindest voreiligen Harmonisierungen zurückzuführen sein. Das Lesevergnügen freilich – sowohl das kulinarische, als auch das nicht nur kulinarische – bleibt dabei oft genug auf der Strecke. Erst in den letzten Gedichten dieses Bandes wagt sich Delius ein wenig aus seiner rhetorischen Bedeckung heraus, riskiert einige Bilder und eine sinnlichere Sprechweise. Bezeichnenderweise heißt es hier auch in einem Gedicht, das auf Goethes Epigramm „Wandersegen“ anspielt, er stiege „durch verfängliche Etagen“ und „sogar auf Kanzeln“, von denen aus er aber offenbar nicht mehr nur belehren, sondern seine Leser auch – stärker als zuvor – erfreuen will.
Auch wenn dieser Weg nicht ungefährlich ist und ihm mancher wegen der neuen „verfänglichen“ Umgebung zürnen sollte, scheint das der richtige zu sein. Erst als Delius in diese Richtung wandert, werden aus seinen wichtigen, aussagekräftigen Gedichten irritierend schöne.

(Uwe Wittstock, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.1981)

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