Friedrich Christian Delius, FCD

Essay Selbstporträt mit Luftbrücke

Selbstporträt mit Luftbrücke
Ausgewählte Gedichte 1962 – 1992

1993, 160 Seiten
15,00 € [D] / 15,50 € [A] / 26,90 sFr
ISBN: 978-3-498-01291-5

Nur noch antiquarisch erhältlich (ZVAB)

Alle Gedichte dieses Bandes finden sich
in dem Auswahlband der Werkausgabe
“Unsichtbare Blitze. Ausgewählte Gedichte”

 

 

Aufstiegsrunde

Hertha steigt auf. Steigt Hertha auf
steigt die ganze Hauptstadt auf
steigt aus dem Tal die Wirtschaft auf
(weil ich dann mehr Schultheiß sauf)
steigt die Macht der Presse auf
(steigert sonntags den Verkauf)
steigt die Stadtautobahn mit auf
(hoch über die Zone nach Helmstedt hinauf)
steigt der Senator für Inneres auf
(haut bundesweit sehr feste drauf)
steigt das ganze Rathaus auf
(rennt nach Bonn im Dauerlauf)
steigt auch der Bürgermeister auf
der freie Westen auch noch AUF!

Steigen wir Absteiger fürs erste ab
und sägen denen das Treppchen ab.
Denn die so mühsam aufgestiegen sind
vergessen wie spielstark die Absteiger sind.
(1967)


Pressestimmen:

Narben, die heilen und bleiben

Friedrich Christian Delius „Selbstporträt mit Luftbrücke“: Gedichte aus dreißig Jahren. Ironische Querschüsse eines wandlungsfähigen Dichters mit der Wachheit für den Augenblick

Wenn ein Lyriker fünfzig wird und sein Verlag gut es mit ihm meint, dann kommt ein Band „Ausgewählte Gedichte“ auf den Markt. Mit einem solchen Buch hat es eine besondere Bewandtnis. Der Autor sichtet die Bestände, zieht Bilanz und gibt nun zu verstehen, in welchem Licht er der Nachwelt erscheinen möchte. Seine Auswahl bildet gleichsam das „Buch der Bücher“, nämlich aller zuvor vom ihm publizierten Gedichtbände. Ein solches Kompendium tritt von vornherein mit hohem Anspruch auf. Entsprechend kritisch sind die Blicke, die sich darauf richten.
Friedrich Christian Delius wird bei uns seit seinen ersten beiden in den sechziger Jahren erschienen Gedichtbänden zu den wichtigsten politischen Lyrikern seiner hochpolitisierten Generation gezählt. Sein nun veröffentlichtes Selbstporträt mit Luftbrücke gibt keinen Anlaß, diesen Befund zu revidieren. Im Gegenteil: Rückblickend stellen sich die darin enthaltenen Gedichte aus Delius‘ Erstling „Kerbholz“ von 1965 als die vielleicht vielversprechendsten Debütstücke jener Jahre dar. Das ist umso erstaunlicher, als die ganze Richtung des politischen Gedichts mittlerweile etwas abgelebt wirkt. Es ist ja die Crux der littérature engagée schlechthin, daß sie scheinbar ganz poesieferne Dinge zum Gegenstand hat. Anliegen des öffentlichen Lebens, die sich mit kunstlosen Worten meist weit klarer ausdrücken ließen, kleidet sie in ein fiktionales Gewand. Gerade im luftigen Bereich der Lyrik kann eine derartige Erdhaftung fatale Folgen haben.
Manche Dichter des Politischen, etwa der Epigrammatiker Arnfried Astel oder Erich Fried, versuchten diesem Dilemma mit „beträchtlicher sprachlicher Intelligenz“ zu entkommen, wie Karl Krolow es einmal mit Blick auf Fried ausdrückte. Man verlegte den Erkenntnisprozeß aus dem Bereich der Realien in die Sprache selbst – sprachlicher Doppelsinn wurde so zur gesellschaftlichen Bedeutsamkeit stilisiert. Gedichte dieser Machart wirken aus heutiger Sicht oft wie biedere Sinnsprüche und müde Sprachspielereien. In den meisten Fällen zeugen sie von der ewigen Besserwisserei dessen, der sich auf der richtigen Seite weiß.
Ganz anders Delius: Seine frühesten Gedichte suchen das Politische im Privaten und in den oft komischen Dingen des Alltags, ohne dadurch privatistisch zu wirken. So wird ein lyrisches Ich sichtbar, das keineswegs ein Held der Linken ist, wohl aber ein Linker, der den kritischen Scharfblick auf sich selbst richtet und sich sogar die Souveränität der Ratlosigkeit erlaubt: „Mein Freund schreibt aus Koblenz: / Mein Freund schreibt aus Erfurt: / Wir schießen nicht gern, / Wir schießen, / aber wir schießen, / aber wir schießen nicht gern. / Von beiden Seiten getroffen, / frag ich, euer Pappkamerad: / Wem ergebe ich mich?“
Wie hier, im Gedicht „Nach dem Manöver“, bildet in den meisten der Gedichte aus „Kerbholz“ ein anekdotischer Ansatz die Keimzelle, aus der heraus sich der Text entwickelt. Die Schlußpointe beinhaltet eine Moral, die sich freilich das Nachbeten verbittet. Vorbild für derartige Konstruktionen ist zweifelsohne das Parabelschema Brechtscher Prägung. Doch was bei den Brecht-Epigonen oft zum dialektischen Klippklapp verkam, gewinnt bei Delius durch absurde Verzeichnung neues Leben.
Der Gefahr der Selbstgerechtigkeit entgeht Delius durch gezielte ironische Querschüsse, die auch vor den eigenen Stilmitteln nicht haltmachen. Das Gedicht „Der Tropfen und der Stein“ etwa verdreht das scheinbar angestrebte Gleichnis zum Kalauer und läßt sich auch als vorausschauende Parodie auf „sprachliche Entlarvung“ lesen, wie sie Astel später bis an die Grenzen des Verträglichen trieb: „Als der bekannte / stete Tropfen / sein Loch in / den Stein / geschlagen hatte, / fragte der Stein: / Was beweist das? / Sagte der Tropfen: / Ich tropfe stets. / Sagte der Stein: / Ich nicht.“
Die Themenwahl dieser Gedichte – der Haß auf Philistertum und deutschen Ordnungswahn – wirkt heute fast schon historisch. Veraltet sie darum nicht. Es ist ihr Stil, der sie über die Zeit hinaushebt – ein dem saloppen Alltagston scheinbar so naher, in Wahrheit jedoch überaus kunstvoller Duktus. Gerade diese Gezieltheit der Sprachmittel jedoch sollte den Gedichten der Folgezeit abhanden kommen.
Bereits die dem Band „Wenn, wir, bei Rot“ (1969) entnommenen Verse, im zweiten Kapitel der „Ausgewählten Gedichte“ präsentiert, verlieren deutlich an thematischer und stilistischer Prägnanz. Die dargestellten Typen sind zwar die gleichen geblieben: „der Rentner stundenlang auf dem Balkon“ und Konsorten. Verändert aber hat sich ihr Stellenwert in diesen „Berliner Idyllen“. Denn der spricht, ist als „Ich“ nicht mehr greifbar. Er zieht sich auf die Position des Porträt- und Situationsmalers zurück, oder verschanzt sich hinter dem kollektiven „Wir“ der Gesinnungsgenossen. Die zum Sarkasmus gesteigerte Ironie richtet sich nun auf das detailfreudig ausgemalte Feindbild vom bösen Reaktionär, das als Hintergrund zum imaginären Konterfei des sich selbst ins Recht setzenden Autors fungiert. Der „belustigt ernste Blick“, wie ihn Delius für sich reklamiert, verkehrt sich hier ins rechthaberische Gegenteil.
In den siebziger Jahren sehen wir Delius zunehmend im Bannkreis der „Neuen Subjektivität“. Die auf sprachlichem Terrain zurückgewonnene Souveränität richtet sich nun oft auf Dinge von allzu ungefilterter Alltäglichkeit. Umgekehrt scheint aber auch das Bewußtsein der politischen Misere so fest in der Persönlichkeit des Autors verankert, daß ihm das Sprechen über die eigene Person alleweil zum Vortrag über die Mühen der bundesrepublikanischen Ebene gerät. Über alldem liegt die allgemeine Desillusionierung der siebziger Jahre. Der Schärfe des illusionslosen Blicks verdanken wir freilich einige unzweifelhafte Meisterwerke. „Einsamkeit eines alternden Stone-Fans“ und „Selbstporträt auf dem Stuttgarter Schloßplatz“ gehören dazu.
Erst die späten achtziger Jahre jedoch zeigen Delius wieder auf der Höhe seiner lyrischen Fähigkeiten. Die wenigen seitdem entstandenen Gedichte bezeugen eine bislang ungekannte Wachheit für den Augenblick, die sich aufs schönste mit neuem Formbewußtsein und Kargheit der Sprache verbindet. Die Unaufgeregtheit dieser Texte steht im geraden Gegensatz zu den fingerfuchtelnden Politpredigten der siebziger Jahre. Endlich gewinnt auch das Politische sinnliche Präsenz: „Unter den Denkmälern / die Schatten der Denkmäler. / Unter den Schatten / die Narben. / Unter den Narben / die Narben.“
Die Auswahl der Gedichte in Selbstporträt mit Luftbrücke ist von denkbar gegensätzlichen Motiven gelenkt. Zum einen folgt sie natürlich qualitativen Gesichtspunkten. Zum anderen aber macht sich Delius zum Historiker seiner selbst; nicht zuletzt das angefügte Nachwort zeugt von nüchterner Selbsttaxierung. Das hat in manchen Fällen wohl dazu geführt, daß auch deutlich schwächere Texte ihrer Bedeutung für das Ganze wegen Aufnahme fanden. So zeigt das Bild, das Delius hier von sich zeichnet, keinen lebenden Klassiker, wohl aber einen überaus lebendigen und zur Wandlung fähigen Autor, von dem in Sachen Lyrik wohl noch manches zu erwarten ist.

(Steffen Jacobs, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 18.06.1993)

 

 

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