Friedrich Christian Delius, FCD

Heinrich Vormweg: Mit den Augen eines Terroropfers (SZ)

Mit den Augen eines Terroropfers

Thriller und Lehrstück in einem: Der Roman „Mogadischu Fensterplatz“ von Friedrich Christian Delius

Andrea Boländer, Opfer der Entführung eines Lufthansa-Flugzeuges mit mehr als 80 deutschen Touristen auf der Rückreise von Mallorca an Bord, erzählt die Geschichte dieser Entführung. Ein Palästinenser-Kommando hat die Maschine in seine Gewalt gebracht, um – es ist das Jahr 1977 – „die Baader-Leute“ freizupressen. Fünf Tage dauert der Horror. Dann, als die Geiseln mit ihrem Leben schon abgeschlossen haben, endet er in einer spektakulären Befreiungsaktion. Wer erinnerte sich nicht an Mogadischu.
30 Jahre alt, Biologin, Assistentin in Tübingen, ist Andrea Boländer eine ganz normale junge Frau ohne besondere Interessen über Beruf und Privatleben hinaus. Sie hatte die Reise gebucht, um sich über ihre Gefühle klar zu werden, zu entscheiden; wen sie nun liebt, ihren Freund Rainer oder „den anderen“, der in ihre zeitgemäß aufgeklärte Beziehung hereingeplatzt war. Dabei ist sie Rainer wieder ganz nahe gekommen, hat umgebucht, um zwei Tage früher wieder bei ihm zu sein. Und nun das, ganz zufällig, auf mehrfache Art zufällig. So kann es jedem passieren.
Als sie erzählt, hat Andrea Boländer schon Abstand von den schreckensvollen, dramatischen Vorgängen. Unmittelbar nach der Befreiung war auch sie ein Objekt der Medien geworden, hat auch sie in Interviews immer routinierter, immer „falscher“ über ihre Erlebnisse ausgesagt. Nun, zu Beginn des Romans, geht es um einen „Antrag auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten“. Der erste Satz des Romans allerdings lautet: „Ich werde den Antrag nicht ausfüllen.“ Andrea Boländer hält die bürokratisch platt vereinfachenden Fragen im Antrag für „verrückt“. Und dennoch, deshalb gerade: „Ich muß von vorn beginnen, noch einmal. Warum regt so ein albernes Formblatt mich auf, reißt mich zurück, lädt das Gedächtnis auf, schwemmt Bilder, Grimassen und Laute heran, brennt mir den Gestank auf die Haut und schließt mich wieder ein in das Flugzeug?“
Friedrich Christian Delius hat für seinen dritten Roman, dessen Titel „Mogadischu Fensterplatz“ bereits die zeitgeschichtlichen und -analytischen Intentionen des Autors erneut deutlich anzeigt, diese Andrea Boländer als Medium und Sprachrohr gewählt. Und ihr Name vor allem steht für das, was Fiktion ist in einer Geschichte, die sich, wie Delius in einem Vorspruch festhält, ganz direkt auf die veröffentlichten Aussagen ehemaliger Geiseln, insbesondere des Lufthansa-Flugzeugs ‚Landshut'“ stützt. Einer Geschichte, die des Autors eigene, dokumentarisch abgesicherte, erzählerische Rekonstruktion der Innenansicht von Terror in seiner massivsten Ausprägung darstellt, nur eingerichtet auf die Empfindungen und Wahrnehmungen eines weiblichen Terroropfers. Und nicht nur Rekonstruktion – auch Deutung, geschichtliche und gesellschaftliche Erläuterung des Terrors stehen auf dem Programm. Delius will mitteilen, zu welchen Einsichten gerade ein Terroropfer gelangen könnte, sollte, wenn es sich richtig erinnert.
Viel Künstlichkeit und Konstruktion also. Aber sie irritieren nicht, sie erweisen sich als effektsicher eingesetzte Strategien, politische Realität zu fassen und im Interesse gesellschaftlicher Wirkung vorzuführen. Grund fürs Gelingen ist zunächst einmal die schockierend anschauliche, minuziös auf unmittelbares Erleben bezogene Darstellung der Qualen, die Andrea Boländer und ihre Mitgeiseln erleiden. Die Waffen, die schreienden Drohungen, die gewalttätigen Gesten allein sind da noch wenig. Dies sind ja auch noch nicht alle Techniken der Einschüchterung und Knebelung, die Menschen wehrlos machen. Sich vom eigenen engen Platz nicht wegrühren zu dürfen, bedeutet bald größere Qual. Arme und Beine schlafen ein, scheinen zu zerfallen. Sich über längere Zeit nicht entleeren zu dürfen, tötet alle Wahrnehmung ab, und dann der ständig zunehmende Gestank der Exkremente so vieler Menschen, die statt weniger Stunden fünf Tage lang im selben Gewölbe zusammengepfercht sind. Durst und Hunger, Sauerstoffmangel, Hitze und der eigene Schweiß zerfrißt die Haut. Die Zeit dehnt sich entsetzlich, scheint stillzustehen.
Andrea Boländer erlebt diese Hölle Stunde um Stunde, tagelang in wechselnden, schließlich alle Hoffnung ausschließenden Schüben, und Delius läßt es miterleben. Eindringlich, gewiß zutreffend, genau auch die Schilderung der Versuche, in Vorstellungen, Tagträume, Schlaf zu flüchten. In den physischen wie psychischen Zuständen der fiktiven Ich-Erzählerin, ihrem Erleben plausibel fundiert zu dem allen dann noch, wie ein Hauch von Utopie, ein Erkenntnisprozeß. Wie Delius ihn Andrea Boländer in die Feder diktiert, das greift in seiner Differenziertheit über das Artikulationsvermögen einer in dieser Hinsicht ungeübten Naturwissenschaftlerin offensichtlich hinaus. Aber keineswegs unbedingt über ihre Fähigkeit zur Einsicht.
Die Ich-Erzählerin empfindet qualvoll auch die eigene Freiheit, ihre eifrige Bereitschaft, sich zu unterwerfen, die peinlichsten Rituale mitzuspielen, sogar über den Tod eines anderen hinwegzusehen. Kein Gedanke an Gegenwehr, immer nur der Wunsch, dem Schrecken doch noch in die eigene kleine, wohlausgestattete Freiheit zu entkommen. Als der Anführer der Terrorgruppe versucht, seinen imperialistischen Gefangenen in einem langen wirren Vortrag das böse, in seinen Augen von den Israeli verursachte Schicksal seines Volkes nahezubringen und sich damit indirekt zu rechtfertigen, ödet sie das an. Aber es läßt sie unversehens doch über die Genealogie des Terrors nachdenken. Für die Palästinenser sind die Israeli die Schuldigen, die Verursacher. Die Juden fühlen sich gerechtfertigt vom Genozid durch die Deutschen. Worauf konnten einst, können heute die Deutschen sich beziehen, wenn sie nackte Gewalt anwenden? Inzwischen wieder auf den Terrorismus von Palästinensern und anderen. Ein Kreislauf? Nachdem das Flugzeug gestürmt ist, die Geiseln befeit sind, herrscht einen Augenblick lang Empörung unter ihnen, weil sie merken, daß auch ihre Regierung sie als Einsatz im Pokerspiel benutzt hat, um zu gewinnen, um die Herausforderer zu schlagen. Auch ihre eigene Regierung hat ihr nacktes Leben als Pfand benutzt. Erzählend erinnert Andrea Boländer sich.
Der Roman „Mogadischu Fensterplatz“ hat alle Merkmale eines Thrillers, der nicht einfach spannende Lesestunden anbietet, sondern Spannung realistisch zum Medium der Erhellung zeitgeschichtlicher, politischer, gesellschaftlicher Zustände werden läßt. Nach dem Auftritt eines strebsamen Nachwuchs-Ideologen im herrschenden westdeutschen Interessenverband, wie Delius ihn in seinem Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“ porträtiert hat, nach dem Auftritt eines Chile-Flüchtlings deutscher Herkunft im Roman „Adenauerplatz“, dessen Titel die ganze bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft symbolisiert, jetzt also ein Terroropfer, ein zufälliges Opfer, das ahnen läßt, in welchem Ausmaß jedermann in Gefahr, aber unbestimmt auch haftbar ist.
Das Konzept des Erzählers Friedrich Christian Delius ist nunmehr deutlich erkennbar. Seine Erzählstrategie, die sich in „Adenauerplatz“ noch in den Aktualitäten und Fakten verfangen hatte, ist in „Mogadischu Fensterplatz“ ausdifferenziert und in der Anwendung souverän. Dieser Roman, der zumindest indirekt immer wieder an Heinrich Mann denken läßt, ragt in seinem literarisch begründeten politischen Anspruch ziemlich einsam über die subjektivistischen Untiefen der Literaturszene heute hinaus. Vielleicht ist er ein Signal.

(Heinrich Vormweg, Süddeutsche Zeitung, 07.10.1987)

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