Ein Glas Rotwein oder zwei
Ein Glas Rotwein oder zwei
Auch Sie haben es nicht leicht, meine Damen und Herren Kritiker, im Akkord lesen, im Akkord urteilend schreiben, das überfordert jeden. Und was dabei herauskommt, ist in aller Regel nach drei Tagen vergessen. Sicher, für die Besten unter Ihnen gibt es den einen oder anderen Preis, für die Schlechteren nur das Schlummern in Archiven. Darum habe ich zur allgemeinen Ermunterung einen exklusiven Ein-Glas-Rotwein-aufs-Hemd-Pokal gestiftet. Er wird allein für vorsätzlich böswillige, hämische, ideologische, lügnerische, un- und antiliterarische Kritiken meiner von den achtziger Jahren bis heute erschienenen Bücher vergeben und allein von mir juriert, eine Auszeichnung, die bei Gelegenheit, bei Empfängen oder Parties, öffentlich verliehen werden kann, aber nicht muss.
Verfasser eher durchschnittlicher, mauliger, denkfauler oder nur dummer Rezensionen haben keine Chance auf diese Würdigung, auch nicht die Verfasser genuin literarischer Verrisse. Denn es soll natürlich über Literatur auch heftig gestritten werden, über vieles kann man mit guten Gründen verschiedener Meinung sein, und für geistreiche, argumentierende Polemik soll kein Rotwein verschwendet werden – aber diese Gattung ist ohnehin fast ausgestorben. Ich denke an rund zwei Dutzend übelwollender, die Bücher entstellender, zum Teil politisch oder persönlich motivierter Verrisse, die meisten in der „Zeit“, einige in der FAZ und der taz.
Deren Verfasser sind, wen wundert das, ausnahmslos Männer – und Deutsche (Schweizer und Österreicher scheinen fairer zu sein). Ich kann also zu meiner großen Erleichterung auch gegenüber Kritikerinnen ein Gentleman bleiben, wenn ich ein Glas Rotwein in die Hand nehme. Zugegeben, die Öffentlichkeit weiß von meinem Preis noch nichts, weil sich bislang noch keine Gelegenheit fand, die entsprechenden Herrenhemden vor Publikum rot zu markieren. Das kann daran liegen, dass diese Herren meine Nähe meiden oder dass ich nicht häufig genug zu Empfängen oder Parties gehe. Oder die Herren gar nicht von Angesicht kenne. Sie sollen aber wissen, dass ich bereit bin, wenn mir danach ist, zur Tat zu schreiten. Es könnte also jederzeit, auch heute Abend an der Bar passieren, selbst wenn der Anlass schon über zwanzig Jahre her ist, wie bei Christof Siemes von der „Zeit“ als zum Beispiel.
Siemes nahm sich 1994 die Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ vor. Er beginnt:
„Das Buch zur Weltmeisterschaft. Eine Art intellektuelles Trainingslager, damit die Laktatwerte des Geistes am 17. Juni (ausgerechnet!), wenn Deutschland gegen Bolivien die Fußball-WM eröffnet, auch stimmen, der eierköpfige Fußballfan Historie, mythische Dimension, kulturgeschichtliche Bedeutung seiner Passion wie Kohlehydrate gespeichert hat. Um ihn ins Stadion respektive zum Lesen zu locken, ist auf dem Cover Fritz Walter zu sehen. Der Fritz aus Kaiserslautern! In der Hand die Trophäe, am Leib das allzu knappe Trikot, besudelt mit dem legendären 1954-Schlamm des Wankdorfstadions.“
Schon im ersten Absatz spreizt sich der Verfasser in selbstgefälligem Fußballjargon – aber schaut nicht mal beim Cover richtig hin: Es sind nämlich zwei Gesichter drauf, das größere ein Jungensgesicht, das kleinere Fritz Walter. Dass es um die Spannung zwischen den beiden geht, wird von Anfang an verschwiegen.
„Ein gutes Cover. Sofort produziert mein fußballinfizierter Hormonhaushalt eine kleine Das-Wunder-von-Bern-Gedächtnis-Ekstase, ich setze mich – Bier zur Rechten, Chips zur Linken – in Trainingshose und Unterhemd in den Sessel, von dem aus ich sonst immer die ‚Sportschau‘, Europapokal und Länderspiele angucke, und schlage das Buch auf. Anpfiff.“
Trotz aller Selbstironie, hier macht es sich ein Fußballspießer bequem, der gar nichts anderes hören und sehen und empfinden will. Und gleich nach dem „Anpfiff“ schon das Endergebnis verkündet:
„Und gleich darauf ein erbostes Pfeifkonzert. Denn Friedrich Christian Delius’ autobiographische Erzählung ‚Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde‘ ist ein 120 Seiten langer trostloser Kick, 90 Seiten mit 30 Seiten Verlängerung. ‚Schlafwagenfußball‘ schimpfen die Fans, wenn der Ball nicht laufen will. Schlafwagenlektüre also.“
Das Wagnis, die intime Geschichte eines nicht sehr glücklichen Jungen mit besonderen Schwächen und Nöten mit dem fernen, radionahen Wunder aus Bern zu verbinden, eine Dorfkindheit aus den fünfziger Jahren zu erzählen, der spezielle Druck in einem christlichen Haushalt usw., all das wird nicht einmal reflektiert, es wird als Störung, als Frechheit, als Ketzerei am heiligen Fußball abgetan und verhöhnt. Der Fußballspießer legt seine Scheuklappen an und will nichts als Fußball sehen. Zwar schiebt er noch Argumente nach, die literaturkritisch sein sollen, aber die sind bei näherer Betrachtung nur vorgeschoben. Dass jemand von seinen Schwächen schreibt, darf im Angesicht Fritz Walters nicht sein. Dass hier beleuchtet wird, aus welchen Nöten man als Junge überhaupt zum Fußballfan wird, alles „enervierend“. Der lustigste Vorwurf ist die „völlige Humorlosigkeit, absolute Ironiefestigkeit“ bei einem Buch, an dem später Egon Schwarz in einem Essay den „Humor bei Delius“ festgemacht hat und das der Großmeister des höchsten literarischen Witzes und der Fußball-Kultur, Péter Esterházy, zu seinen Lieblingsbüchern zählte.
Ein Meckerer, dem, Bier rechts, Chips links, das ganze Buch nicht passt, hat keine ausführlichen Erörterungen seiner Einwände und Pseudoeinwände verdient. Er kommt nicht einmal auf die Idee, dass ich das Buch, das er verlangt, mit voller Absicht nicht geschrieben habe. Die Zitate eines Fußballideologen, der sich als Literaturkritiker tarnt, sollen heute Abend nur meine Emotionen erklären, die zur Ausgießung des einen oder anderen Glases Rotwein und zur Extra-Reinigung des einen oder anderen Hemdes führen mag. Hier noch der Schluss:
„Abpfiff. Das Bier ist alle, das Unterhemd voller Chipskrümel, Deutschland ist Weltmeister, Delius ein Dichter. Aber gegen diese Spielwertung lege ich Protest ein. Zu viele Fouls auf kitschigem Boden (…) Keine Treffer, nur selbstverliebtes Dribbling im eigenen Strafraum. Die Lizenz für ein weiteres Selbstfindungsfußballbuch des F. C. Delius ist stark gefährdet.“
Das hört sich heute lustig an. Damals hat es mich schwer getroffen. Einerseits wegen der antiliterarischen Abwertung und Verdammung, exakt am Erscheinungstag, andererseits, weil solche Texte die enorme Wirkung haben, potentielle Leserinnen und Leser abzuschrecken, die bei mir vor allem aus dem linksliberalen Umkreis der „Zeit“ kamen. Es war schon der dritte Totalverriss in Folge in diesem Blatt, die ersten beiden bei „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ und „Die Birnen von Ribbeck“ aus eindeutig politischen Motiven, diese aus Fußballborniertheit. Das Gemeinste dabei ist das Gefühl der Wehrlosigkeit. Der Vernichter dieses Buchs hatte ein Forum von sagen wir 500 000 Lesern (im Feuilleton viel weniger, ich weiß), bei denen ich nun wieder mal als Nichtskönner blamiert war. Mit Leserbriefen zu antworten, ist lächerlich – und nur, wer sich selbst für wichtiger hält als seine Bücher, wird dann so überflüssige Romane wie „Tod eines Kritikers“ schreiben.
Ein Shitstorm heute ist auch nicht angenehm, aber der bezieht sich immerhin auf eine Ansicht, die man sofort nachlesen, überprüfen kann, da gibt es eine gewisse Waffengleichheit. Eine Shitrezension ist schlimmer, wirkt tiefer und nachhaltiger, weil das Publikum das rezensierte Buch nicht kennt, nur mit polemisch gesetzten Minizitaten und mit Abscheu darüber gefüttert wird. Da Urteile im Literaturbetrieb zu höchstens 10 bis 20 Prozent aus eigener Lektüre, zu mindestens 80 Prozent aus Rezensionen, Sekundärmeinungen, Gerüchten, Vor-Urteilen gefertigt werden, verschlechtert eine und hier nun schon die dritte Shitrezension in einem führenden Blatt wie der „Zeit“ das Image und das Einkommen! eines Autors erheblich. Es bleibt dann nichts als die schmale Hoffnung auf Leserinnen und Leser, die irgendwann trotzdem einen Blick ins geschmähte Buch wagen.
Der spätere Trost einer Hunderttausend-Auflage, sechs Übersetzungen und zwei Schulausgaben und die ambivalente Genugtuung, den Filmemachern des „Wunders von Bern“ die zentrale (freilich nie honorierte) Idee geliefert zu haben, sind bis heute keine hinreichenden Gründe, den Rotwein nicht auf ein Siemes-Hemd zu schütten. Der Witz ist nur, dass ich diesen Herrn nicht kenne.
Noch kurz ein anderes Beispiel, fast zwanzig Jahre später, 2013: Lorenz Jäger drischt in der FAZ auf „Die linke Hand des Papstes“. Dieser Rotwein-Kandidat beginnt unpolemisch, seine Methode ist das Verdrehen und Verbiegen inhaltlicher Aspekte. Da der Mann nicht dumm ist, kann das nur mit Absicht geschehen sein, und die wirkt besonders perfide, weil die Leser diese Heimtücke bei Neuerscheinungen nicht bemerken. Zunächst kreidet der Kritiker dem Autor an, was sein Erzähler, ein Fremdenführer, erzählt und denkt, selbst dieser beliebte Anfängerfehler fehlt hier nicht und ist nur deshalb kein Rotweinopfer wert, weil dann bei Literaturparties kaum noch was zum Trinken im Glas bliebe. Nachdem er das Leitmotiv der weichen Hand bekrittelt hat, legt er los: „Diese Träumerei“ – ein Negativum für das Assoziationsgeflecht der Erzählung – „diese Träumerei führt ihn (den Erzähler) zum zweiten Leitmotiv des Buches, dem Besuch Gaddafis bei Berlusconi, und bei dieser Gelegenheit fragt er sich wieder und wieder, ob der Papst fähig sei, die Faust zu ballen oder dem libyschen ‚Öldiktator‘ eine Ohrfeige zu verpassen.“
Peng. Das sitzt. Aber voll daneben. Denn die Überlegung einer päpstlicherseits vielleicht fälligen Ohrfeige zielt ausschließlich auf Berlusconi und ausdrücklich nicht auf den Gast aus Libyen. Zudem geht es im Text ständig um das Arrangement zwischen Berlusconi, der sich beliebig Gesetze zu seinem Vorteil schneidert, und der (vereinfacht gesagt) politisch korrupten römischen Kurie. Als Gaddafi auch noch das Christentum angreift, Berlusconi seinen Gast dafür in Schutz nimmt, spitzt sich diese Spannung zu und macht den Gedanken an eine Ohrfeige höchst plausibel – aber das ist dem Frankfurter Schlechtleser offenbar zu anstößig, sodass er die Pointe weglügt. Dazu passt, dass er das dritte Leitmotiv, das sonst alle Rezensenten erwähnten, völlig unterschlägt: die Erfindung der Erbsünde durch Augustinus und ihre Installierung dank Bestechung mit achtzig numidischen Hengsten, eine Story, die dem Erzähler einfällt, als er an die von Gaddafi mitgebrachten, vor Berlusconi paradierenden Hengste denkt. Das vierte Leitmotiv tut Jäger verächtlich ab, die Frage, warum sich Deutsche und Italiener so schwer verstehen, warum Deutsche mit ihrer Italienliebe oft so peinlich daneben liegen und Italiener schwer von ihren Vorurteilen loskommen, und wieviel das mit der gemeinsamen Historie zu tun hat. Jeder Deutschrömer und erst recht ein Fremdenführer ist täglich mit solchen Fragen konfrontiert, Herr Jäger versimpelt das so: „Wir lesen eine Sammlung fast aller gängigen kulturkritischen Phrasen im Allgemeinen und der Berlusconi-Schelte im Besonderen“. Man könne das alles „mühelos dem Archiv einer Tageszeitung entnehmen.“ Nun, auch das ist falsch bis zum Anschlag, wenn man davon absieht, dass ein Fremdenführer sich hin und wieder auch mal auf Bekanntes beziehen muss. Das lästige Thema Mafia mit Rom verflochten zu haben, ist natürlich auch negativ zu werten – aber ein Jahr später, als alle deutschen Zeitungen über die neu aufgedeckte Macht der römischen Mafiagruppen schrieben, war es eine willkommene Sensation, auch für die FAZ.
Wahrscheinlich ist der Rezensent zu kirchentreu, um zu verstehen, dass das mit Abstand Unterhaltsamste, das Lustigste in Rom die katholischen Widersprüche und Legenden sind und dass der ketzerische Erzähler seine Freude daran hat. Streng hält er dem kirchenkritischen Fremdenführer vor, kirchenkritisch zu sein, und dem Romkenner, auch das heutige, das dreckige und kaputte Rom nicht auszusparen. Und sagt am Ende ganz offen, der Autor hätte sowieso das falsche Buch geschrieben: „Delius, der am 13. Februar 1943 in Rom geboren wurde und ein Verhältnis zur Stadt haben muss, hat uns keines jener schönen Alterswerke geschenkt, in denen eine neue Freiheit der künstlerischen Mittel aufscheint, sondern ein Buch des ewigen deutschen Unmuts.“ „Unmut“ ist wieder voll daneben, denn hier erzählt ein fröhlicher Ketzer. Nachdem Jäger meine potientiellen und über die FAZ nie wieder zu erreichenden italophilen und christlichen Leserinnen und Leser gehörig desinformiert und abgeschreckt hat, soll ich nun altersmilde werden und fromm katholisch und an die unbefleckte Empfängnis glauben, 17 Zeilen opfert der Rezensent allein dieser Frage. Und ich soll Rom schön bewundern und alles vergessen, was ich in zwölf Jahren dort aufgesogen habe. Ich denke, diese Scheinheiligkeit darf mindestens mit einem rotbefleckten Hemd belohnt werden, sage ich heute mit aller Altersmilde, zu der ich fähig bin. Ein Weinopfer, das, wie anfangs gesagt, nicht auf Literaturkritiker zielt, sondern auf die Abwehr böser Geister, die sich als Literaturkritiker tarnen.
(Diskussionsbeitrag 25. 10. 2018 bei der Tagung über die Lage der Literaturkritik in Darmstadt, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung)