Hannes Krauss: Bilder eines Sonntags (Freitag)
Bilder eines Sonntags
Eine autobiographische Erzählung von F.C. Delius: „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde.“
Vielleicht ist’s ein Alterssyndrom, wenn die seichte Vielfalt täglicher Sportsendungen gelegentlich wehmütige Erinnerungen an jenen Julitag vor vierzig Jahren weckt, da „wir“ Fußballweltmeister wurden und ich zum ersten Mal so etwas wie kollektives Glück empfunden zu haben glaubte. Ja, ich kenne die einschlägigen Theorien über die strukturelle Gemeinsamkeit von Adenauerscher Politik und Herbergerschem Fußball und halte sie für plausibel, aber mit meinen Erinnerungen haben sie nichts zu tun. Die setzen sich zusammen aus ungläubigem Staunen beim Erreichen des Finales, einer Gänsehaut vor dem Radio, Furcht, beim unaufschiebbaren Pinkeln ein Tor zu verpassen, Stolz auf Helmut Rahn und Angst vor der Schule am nächsten Morgen.
Dazu hat Friedrich Christian Delius jetzt eine wunderschöne Erzählung geschrieben. Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde ist kein Fußballbuch; vielleicht ein Buch über Väter oder über Befreiung und Unterdrückung durch Sprache; vielleicht eines übers hessische Dorfleben in den fünfziger Jahren, über die Nachkriegszeit, übers Heranwachsen im Schatten der „Zonengrenze“, über pubertäre Sehnsüchte und Ängste. Auf jeden Fall eine Kindheitsgeschichte, mit allem was dazugehört. Obschon kaum verhüllt autobiographisch und exakt datierbar auf den 4. Juli 1954, entfaltet der Text typische Strukturen von Kindheit. Erinnerungssplitter, Assoziationen und bernsteinklar konservierte Beobachtungen gruppieren sich zum Tableau der fünfziger Jahre. Am Sonntagmorgen „zerhacken“ Kirchenglocken „die Traumbilder“; zwar ist das Frühstück an diesem Tag weniger gehetzt als an Schultagen, dafür verhindern „Geleetrübsinn“ und kleidungsbedingte „Sonntagsvorsicht“ Ausbrüche aus der festgefügten Welt des wohlgeordneten Pfarrhaushaltes; sogar das Sanella-Brot ist biblisch aufgeladen, bloß der Kakao mangels einschlägiger Bibelsprüche „nicht von Gottes Gnade“ vergiftet. Zum Glück gibt’s die Vorfreude auf den Nachmittag, an dem mit väterlicher Erlaubnis die Übertragung aus dem Berner Wankdorfstadion gehört werden darf – und danach ist fast alles ganz anders.
Ruhig und diszipliniert beschreibt Delius den Verlauf des Sonntags – mitunter fast emotionslos, aber hinter lakonisch zugespitzten Begriffen lauern Angst und erstickter Aufruhr. Diese kunstvolle Spannung zwischen Geborgenheit und Terror begreifen auch Leser, denen eine Kindheit im protestantischen Pfarrhaus erspart blieb. Neben vertraute Idylle und Nähe signalisierende Feiertags-Komposita („Sonntagsläuten“, „Sonntagspredigt“, „Sonntagsbraten“) treten nie gehörte „Sonntagsblicke“, „Sonntagsängste“, „Sonntagsregeln“. In den Stolz des Erzählers auf einen souveränen, wortgewaltigen, scherzenden Vater mischt sich Angst vor dessen vitaler Rigidität; in seine Sehnsucht nach einem wärmenden Blick der Mutter Schauder über deren unnahbare Gerechtigkeit. Selbst die geliebte Literatur gerät zum Züchtigungsinstrument, weil sie „zu denen hielt, vor denen ich zittern mußte“. „Hoffnung auf etwas Neues, auf eine bessere Aussicht“ keimt ebenfalls in den Nischen: „im Fußball, auf dem Fahrrad, in der Arithmetik der Lügen und in flüchtigen Phantasien“; erst bei der Lektüre des Sportteils der Heimat-Zeitung stellt sich „das bebende Glück des Lesenden“ ein, der „im Text eines anderen so viel Eigenes“ entdeckt. Dieses Glück kulminiert in der – elterlichen Mittagschlafes wegen nur gedämpft genießbaren – Übertragung des Endspiels; hier gelingt sogar der Ausbruch aus „dem Vaterkäfig, den unsichtbaren Gottesfallen“. Der mediale Antigottesdienst, der – frevlerisch-befreiend – die züchtigende Sprache des Vaters missbraucht, wenn er den „Fußballgott“ beschwört, erzeugt schließlich einen „Zustand des Glücks“, der sogar die körperlichen Symptome täglicher Versagensängste („Stottern, Schuppen und Nasenbluten“) vergessen läßt.
Delius‘ Erzählung ist unspektakulärer als die „Väterbücher“ von Härtling, Meckel oder Vesper – und zugleich beklemmender. Nicht mit finsterer Nazi-Vergangenheit wird hier der tägliche Terror konnotiert, sondern mit der Idylle kindlicher Geborgenheit. Des Erzählers Streifzug durchs Dorf, sein Blick auf die Kirchgänger, seine Schilderung einer sommerlichen Gewitterwiese – all das könnte auch nostalgische Sehnsucht evozieren, wenn da nicht immer diese harte, unangreifbare Gerechtigkeit der Erwachsenen wäre, die alles kennen, nur keine Selbstzweifel. So formiert sich der scheinbar zufällige Bilderbogen eines Sonntags zur Ikonographie deutscher Nachkriegskindheit, und nach der Lektüre blickt der Leser milder auf die eingangs beklagte Oberflächlichkeit. Beim Fernsehen kann er wenigstens ein- und ausschalten wann er will.
(Hannes Krauss, Freitag, 18.3.1994)