Friedrich Christian Delius, FCD

Péter Nádas, Begrüßung: „Aufleuchtende Details“

Begrüßung Péter Nádas, Akademie der Künste, Berlin, 16.11. 2017

Meine Damen und Herren.
Es ist ein schöner Brauch in dieser Akademie der Künste, jedenfalls in ihrer Sektion Literatur, dass ein Mitglied dieser Sektion vor einer Veranstaltung zu einer formellen sowie literarisch einladenden Begrüßung vor das Mikrophon tritt. Autorinnen oder Autoren begrüßen Autorinnen oder Autoren. Dies ist heute meine Aufgabe, mein Name ist FCD, und ich habe dieses Vier-Minuten-Amt mit Freuden, aber mit noch mehr Bangen übernommen. Je tiefer ich in das neue Buch „Aufleuchtende Details“ eindrang und je näher dieser Abend rückte, desto mehr wurde mir klar, dass man einen Péter Nádas gar nicht angemessen begrüßen kann. Mit einem launigen oder ansatzweise interpretierenden Grußwort ist es hier nicht getan.
Man kann sich vor einem Péter Nádas nur – verneigen. Verneigen auf deutliche, aber japanisch diskrete Art. Also verneige ich mich heute Abend vor Dir, lieber Péter, höchst offiziell, im Namen der Akademie, der auch Du angehörst, aber natürlich auch als Dein Leser und entfernter Freund. Wir alle hier im Saal heißen Dich aufs herzlichste willkommen, endlich mal wieder in Berlin! Wir freuen uns, dass nach dem unvergleichlichen „Buch der Erinnerungen“ und dem Höhepunkt der „Parallelgeschichten“ und den großartigen, fälschlicherweise so genannten Nebenwerken wie „Der Lebensläufer“, „Von der himmlischen und der irdischen Liebe“, „Die schöne Geschichte der Fotografie“, „Der eigene Tod“ und „Freiheitsübungen“ jetzt noch ein drittes Großwerk in unseren Händen liegt: „Aufleuchtende Details“.

Ich begrüße und verneige mich ebenfalls, japanisch abgestuft, vor der Übersetzerin Christina Viragh, die dieses neue Buch wie zuvor schon die „Parallelgeschichten“ in ein wunderbar makelloses Deutsch gebracht hat und dafür mit den höchsten Preisen, unter anderm mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Eine Begrüßung und Verneigung gilt auch Delf Schmidt, dem unermüdlichen Lektor, der die meisten Bücher von Péter Nádas bei ihrer Deutschwerdung begleitet hat. Die unsichtbare Arbeit guter Lektoren wird leider nie mit Preisen gewürdigt, also ist wenigstens einmal eine öffentliche Verneigung am Platze. Zu begrüßen ist ebenso herzlich, wenn auch ohne Verneigung (weil es sich für Autoren nicht gehört, ja verbietet, sich vor Kritikern zu verneigen), den Kritiker und Essayisten Jörg Plath, der als bedeutender Nádas-Spezialist und Literaturredakteur bei Deutschlandradio Kultur genau der richtige ist, uns an die „Aufleuchtenden Details“ heranzuführen und mit dem Autor zu sprechen. Ich begrüße heute Abend auch Barbara Laugwitz, die Chefin und Geschäftsführerin des Rowohlt Verlages, und danke ihr im Namen der Akademie für die gute Zusammenarbeit.

Nun endlich sind Sie an der Reihe, meine Damen und Herren Publikum, und auch Ihnen möchte ich mit der Begrüßung meinen Respekt bezeugen. Wer neugierig auf Péter Nádas ist oder als Nádas-Leser neugierig auf den neuesten Nádas, der kann nur ein besonderer, zufriedener, ich möchte am liebsten altmodisch sagen: edler Mensch sein. Nur halbwegs ausgeglichene, also selbstbestimmte Menschen schrecken vor Qualität nicht zurück, selbst dann nicht, wenn ihnen 1300 oder 1700 oder wie jetzt 1277 Seiten Qualität geboten werden. Nur glückliche, empathiefähige Menschen halten es aus, wenn ein Autor die Bilanz unserer Epoche, wie Joachim Sartorius einmal festgestellt hat, „im Filter eines extremen Subjektivismus“ zieht – egal wie viele Seiten er dafür braucht. Wieder einmal wird bewiesen: dieser extreme Subjektivismus ist vielleicht nicht die einzige, aber wahrscheinlich die beste Methode, die Welt zu erfassen. In den „Aufleuchtenden Details“ wird eine jüdische Familiengeschichte mit unendlichen Verzweigungen so erzählt, dass sie zu einer politischen Geschichte Ungarns, ja Europas wird. Im unermüdlichen Rekurs auf den alten Antisemitismus und die gescheiterten Heilserwartungen des Kommunismus liefert gerade die extrem subjekte Sicht nicht nur die „Chronik einer uferlosen Desillusionierung“ (Radisch), sondern auch eine Folie für das heutige antidemokratische und antisemitische Ungarn.

Mir fällt noch unendlich mehr dazu ein, aber es ist jetzt an Jörg Plath, uns die Feindiagnose dieser Erzählkunst anzubieten. Nur eins noch: Falls Sie zögern sollten, meine Damen und Herren, wegen des Umfangs dieses neuen Buchs oder seiner Vorgänger, falls Sie noch nicht Nádas-süchtig sein sollten und misstrauisch, dann kann ich Ihnen nur raten, alle Vorurteile und Ausreden gegenüber sogenannten dicken Büchern zu vergessen. Die stimmen hier alle nicht. Ich erinnere Sie an einen heute leider etwas unterschätzten deutschen Dichter namens Johann Wolfgang Goethe, der in dem eher misslungenen Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ neben vielen anderen genialen Beobachtungen auch diese getroffen hat: „Literatur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das wenigste übrig geblieben.“

Péter Nádas hat genau das erkannt und arbeitet mit seiner ganzen Energie gegen das Fragmentarische an. Sein Vater, schreibt er, habe nie von sich gesprochen. „Diese Eigenschaft habe ich leider geerbt, ich versuche sie durch völlige Offenheit auszugleichen. Auch wenn die eher auf der Ebene der Phantasie und der Fiktion funktioniert.“ Und auf Seite 405 steht der ungewöhnlich lakonische Satz: „Meine Neugier war von animalischer Kraft.“
Vorsicht, meine Damen und Herren, diese Neugier ist ansteckend, und die animalische Kraft hoffentlich auch.

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