Buch Albert Ayler
Albert Ayler oder Die Zukunft der Schönheit
Erzählung
Rowohlt E-Book
35 Seiten
ISBN: 978-3-644-10022-0
€ 1,99
Am Abend des 1. Mai 1966 betritt ein junger Deutscher Slug’s Saloon in New York, den legendären Club der Jazz-Avantgarde. Auf der Bühne steht der Tenorsaxophonist Albert Ayler und spielt eine Musik, die anders ist als alles, was sein deutscher Gast je zuvor gehört hat. Aylers Improvisationsräusche ziehen den jungen Mann in den Sog des Free Jazz, lösen einen hellsichtigen Assoziationstaumel aus, öffnen ihm Ohren und Augen: Er hört darin die wütende Anklage gegen den Vietnamkrieg, denkt an den eigenen Protest, seine Jugend im kleinstädtischen Hessen und einen Jazzabend, der zum Zerwürfnis mit dem kranken Vater führte. Schließlich erkennt der angehende Dichter, wie der Zersetzungskraft der Musik eine andere, neue Schönheit und Wahrheit entspringt.
Eine autobiografische Geschichte und ein virtuoses literarisches Tondokument, das nicht nur ein großes Jazzerlebnis festhält, sondern auch die befreiende Kraft und den Aufbruchsgeist einer neuen Epoche, einer neuen, unerhörten Kunst.
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Albert Ayler oder Die Zukunft der Schönheit
Die Geburt des Autors aus dem Geist des Free Jazz – F.C. Delius beschwört ein Schlüsselmoment aus dem Jahr 1966.
Ob das noch Jazz sei?!
Albert Aylers erste Auftritte in New York bedeuteten einen Schock für die Jazz-Gemeinde. Selbst wer John Coltranes freien Erkundungen neuer Sounds noch gefolgt war, stieß bei Ayler an seine Grenzen. Ob das noch Jazz sei, fragten sich Kritiker ratlos, wenn der 1936 in Cleveland geborene Saxofonist auf die Bühne trat. Mit herkömmlichen Maßstäben war dieser spirituellen, expressiven, schreienden, grellen und zugleich lyrischen Musik nicht mehr beizukommen. Ayler verwendete verpöntes Material wie etwa Folksongs, Marsch- oder Zirkusmusik, um dieses zugleich Note für Note zu zertrümmern. In seinem grünen dreiteiligen Lederanzug, mit imposantem Ziegenbart und dunkler Sonnenbrille, war er selbst unter den Exzentrikern des Jazz eine Erscheinung.
Am 1. Mai des Jahres 1966 stolperte ein junger Student und Lyriker namens Friedrich Christian Delius, angestiftet von dem Autor Hans Christoph Buch und dem Radiojournalisten Hanspeter Krüger, in den damals legendären Jazzclub Slug’s Saloon – und damit in ein Konzert Albert Aylers. Delius traute seinen Ohren kaum.
„In dem Augenblick, als wir den Saal betraten, wurden die Lichter ausgeschaltet, legten die Musiker los mit kreischenden, klagenden, schrillen Tönen, nur die schwachen Bühnenscheinwerfer halfen uns, in dem nicht sehr großen Kneipenraum den letzten oder vorletzten freien Tisch in den hinteren Reihen anzusteuern, während die Ohren beschossen wurden von Getröte, Gezirpe, Gehämmer, Gejaule, als sollten wir mit dieser Folge von Dissonanzen gleich abgeschreckt, des Saales verwiesen und wieder zurück Richtung Exit getrieben werden.“
Prägend und mit Widerhall
Das musst du jetzt aushalten, sagt sich der angehende Schriftsteller, während die fünf Musiker mit ihren Instrumenten auf seine Hörnerven einprügeln. Das Erlebnis ist einschneidend. Und so prägend, dass es noch mehr als fünf Jahrzehnte später im Kopf von Friedrich Christian Delius widerhallt. Nun hat der Büchner – Preisträger aus dieser Begebenheit eine schmale Erzählung gemacht. Was er darin schildert, geht allerdings über eine biographische Anekdote hinaus. „Albert Ayler oder Die Zukunft der Schönheit“ ist mindestens auch eine Reflexion über die Kunst und das eigene Selbstverständnis als Künstler, eine Improvisation über Fragen der Ästhetik und der Politik.
Man muss dabei freilich zunächst einmal den Zeithintergrund beschreiben: Die drei Jazzhörer haben gerade eine Woche in Princeton hinter sich, wo die Gruppe 47 im Jahr 1966 tagte. Peter Handke hatte seine berühmte Wutrede gegen die Beschreibungsimpotenz seiner Kollegen herausgestottert; manche Fraktionen innerhalb der Tagungsteilnehmer standen sich unversöhnlich gegenüber. Es hatte Podiumsdiskussionen gegeben und Begegnungen mit amerikanischen Kollegen. Für Delius war dabei besonders eine von großer Bedeutung: Susan Sontag habe ihm, wie er später schrieb, durch ihr Auftreten eine simple Botschaft vermittelt: Dass man die höchsten Ansprüche an die Kunst und an die Politik stellen konnte.
Ästhetik und Demokratie passten zusammen, man sollte sie nur nicht vermischen. Als er wenige Tage später Albert Ayler hörte, dürfte ihm allerdings bewusst geworden sein, dass eine radikale Ästhetik und eine radikale politische Haltung durchaus vermischt werden konnten:
„Langsam, mit einer für Europäer vielleicht verzeihlichen Verspätung, wurde mir klar, dass die Musiker bei ihrem Spiel wohl kaum an die Schlachthöfe von Chicago dachten, sondern eher an die in Vietnam, an die zwischen Dschungel und Reisfeldern, zwischen Nässe und Hitze und Gaswolken sich ausdehnenden Schlachtfelder und Schlachtwälder, unendlich weit entfernt und fast irreal und mit schreienden Menschen und kaum sichtbaren echten Feinden und Schurken bestückt.“
Ein Prozess des allmählichen Verstehens
Delius versucht diese gegen alle Konventionen verstoßende, herausfordernde Musik zu entschlüsseln: Seine Erzählung vollzieht den Prozess des allmählichen Verstehens nach. Das unerhörte Sounderlebnis ruft Bilder hervor, weckt Erinnerungen an die eigene Jugend, an bleibende Erlebnisse, an die schockhafte Maßregelung des totkranken Vaters, die den Jungen nach dem Besuch eines Jazzclubs aus heiterem Himmel getroffen hatte. Szenen aus der nahen Vergangenheit in der hessischen Provinz blitzen auf; Splitter aus der deutschen Geschichte wirbeln durch Slug’s in der Lower East Side Manhattans. Und plötzlich scheint in der Brachialität Alber Aylers zudem all das auf, worüber auch in den letzten Tagen bei der Gruppe 47 diskutiert worden war: der Krieg in Vietnam und die politische Situation in den Vereinigten Staaten, zumal die der Schwarzen in den USA. Aus der ästhetischen wird eine politische und aus dieser wiederum eine ästhetische Frage – alles ist miteinander verknüpft:
„Was Ayler und seine Leute da machten, das war das Zerfetzen von Klischees und Erwartungen, das war Zersetzung im besten, im produktiven Sinn, das war Zerstörung und Neubeginn, Abriss und Aufbau, Abgesang und Freudentanz. Erst das kräftige Nein und dann das tief geatmete Ja, erst nach dem Abriss konnte die Zukunft beginnen, die Zukunft der Schönheit. Das war vergleichbar mit dem, was ich mir für die Literatur vorgenommen und auf meine Fahne geschrieben hätte, wenn ich nicht eine Abneigung gegen Fahnen gehabt hätte: zersetzen.“
Ein anspielungsreiches Solo
Die Geburt des Autors aus dem Geist des Free Jazz: Im Jahr 2017 kommt diese Geschichte des verstörenden und glücklichen Anfangens noch einmal zurück. Und auch die rauschhaften, gewalttätigen und wunderschönen Lautexplosionen des Albert Ayler Quintetts werden in der Literatur hörbar gemacht. Friedrich Christian Delius ist auf wenigen Seiten ein anspielungsreiches Solo gelungen, das bahnbrechende Klangwelten heraufbeschwört – und die Wirkung, die sie auf einen sensiblen jungen Mann hatten. An solchen Abenden wie dem des 1. Mai 1966 wurde die eigentliche Revolution geboren, die nach 1968 in politischen Grabenkämpfen versandete.
(Ulrich Rüdenauer, WDR Kultur)