Buch: Flatterzunge
Die Flatterzunge
Erzählung
144 S., HC
€ 14,90 / sFr 26,80
ISBN 978-3-498-01310-3
144 S., Tb
€ 7,95 / sFr 12,80
ISBN 978-3-499-22887-2
Rowohlt E-Book
€ 7,99
ISBN 978-3-644-03581-2
rororo taschenbuch Werkausgabe
128 Seiten, € 8,99
ISBN 978-3-499-26916-5
Theaterversionen:
Theater Konstanz, 2000
Nationaltheater Mannheim, 2000
Pasinger Fabrik München, 2002
Städtische Bühnen Augsburg, 2003
Friedrich Christian Delius greift in diesem Buch einen Vorfall auf, der 1997 durch die Presse ging. Ein Mitglied des Orchesters der Deutschen Oper Berlin hatte bei einem Gastspiel in Israel mit der Provokation seiner Unterschrift als ‚Adolf Hitler‘ die deutsch-israelischen Beziehungen auf das empfindlichste gestört. Delius deutet dieses spektakuläre Ereignis auf seine Weise. Mit sprachlicher Präzision, feiner Psychologie und ironisch gefärbter politischer Aufmerksamkeit fragt er: Was führt einen, der kein Antisemit ist, zu solch einer Entgleisung?
Die Erzählung ist in der lockeren Form eines Tagebuchs geschrieben. Der Musiker, ein Posaunist, versucht auf Anraten seines Anwalts alles Material zu sammeln und zu notieren, was er zu seiner Verteidigung vorbringen könnte: seine Karriere als Musiker, seine Ängste beim Flug nach Israel, seine Liebesbeziehung zu einer Bratschistin. Aus allen Bindungen entlassen, läuft er, Hitler-Monster und Philosemit, durch das swingende, bebende Berlin des Jahres 1998. Eine Erzählung mit dem Sog und der sprachlichen Spannung der besten Delius-Bücher. (Ein Gespräch zum Thema hier)
Kleiner Sautrompeter
WIE MAN ES MACHT, IST ES FALSCH
Friedrich Christian Delius‘ neue Erzählung „Die Flatterzunge“ vermisst das verminte Terrain der normalen deutschen Bewältigungspsyche
Auschwitz als Allerweltsmaschinchen. Der provozierende Ausdruck könnte von Martin Walser sein. Er stammt aber von Friedrich Christian Delius. Der Berliner Schriftsteller läßt diesen Satz einen jungen Mann auf einem Blatt Papier einem Spaziergänger in der Rosenthaler Straße in Berlin zustecken. Eine Protestnote aus der Mitte der neuen Republik. Die bizarre kleine Episode führt zum Kern des neuen Buches von Friedrich Christian Delius. Denn um die Fallstricke der Geschichte und die Motorik der Erinnerung geht es in Die Flatterzunge. In ihm hat Delius einen realen Vorfall aus dem Jahr 1997 aufgegriffen. Auf einer Tourneereise durch Israel hatte der erste Bassist der Berliner Deutschen Oper in einer Tel Aviver Hotelbar nachts eine Getränkerechnung mit „Adolf Hitler“ unterschrieben. Der Fall hatte die deutsche und die israelische Öffentlichkeit wochenlang erregt, der Musiker war auf der Stelle entlassen worden.
Ein Blechbläser läßt sich ästhetisch besser ausreizen als ein Streicher: Geblähte Backen, spitze Zunge. In Delius‘ Erzählung wird er Posaunist. Sie setzt an dem Punkt ein, wo er auf seine Berufungsverhandlung wartet. Er hat gegen seine fristlose Entlassung geklagt. Arbeitslos streift er durch Berlin, leidet unter den Entzugserscheinungen des Künstlers, den man von seiner Lebensaufgabe und vom Beifall getrennt hat. Zunächst um seine Verteidigung vorzubereiten, fängt er an, aufzuschreiben, wie es zu dem unglücklichen Vorfall gekommen ist. Unversehens weiten sich diese Notizen zum Tagebuch. „Wir brauchen eine neue Sprache der Erinnerung“ hatte Martin Walser im Streit mit Ignatz Bubis 1998 gefordert und mit seinem Roman Der springende Brunnen vorzumachen versucht, wie individuelle Bewältigungsarbeit aussehen könnte. Die Aufrichtigkeit, die dafür notwendig ist, gelingt nicht jedem. Von Reich-Ranicki ist bis Adolf Eichmann wieder einmal Zeit für deutsche „Memoiren“. Verglichen mit denen des deutschen Nazis, die derzeit das deutsche Feuilleton beherrschen, lesen sich die Aufzeichnungen dieses Deutschen, auch wenn sie zwischen Zerknirschung und Selbstmitleid schwanken, mit mehr Sympathie. Nicht nur, weil sie in ihrer Zerrissenheit ehrlicher sind. Sondern, weil mit den ganz individuellen Notizen FC Delius die kollektive Psyche der Durchschnittsdeutschen vermißt, die immer noch an den geistigen Spätfolgen des Dritten Reichs laborieren.
Delius‘ Posaunist ist kein Rechtsradikaler, sondern ein Mensch wie Du und Ich, geboren irgendwann kurz nach dem Krieg. Man erfährt einiges über den Karrierekampfplatz Orchester. Doch das ist eigentlich ein Synonym für Gesellschaft. Der Mann schwankt zwischen Größenwahn und Unterwerfungsbedürfnis. Eigentlich hatte er Star-Trompeter werden wollen. Weil die am meisten Erfolg bei den Frauen hatten. Einmal alle Mauern zum Einsturz bringen: den Mann mit dem Jericho-Komplex treibt die Sehnsucht nach der Einzelstimme, dem ganz großen Solo, letztlich ist er aber nur als einer von vielen Tutti-Schweinen im Orchester hängengeblieben. Die untergeordnete Rolle des ewigen Stadtmusikanten muß er mit erotischen Eroberungen kompensieren. Aber eigentlich braucht er auch den Führer: „Die Sehnsucht, möglichst schnell unter die Fuchtel eines dirigierenden Tyrannen zu geraten….Bin es nicht gewöhnt, ohne Dirigent zu spielen, ohne Taktstock zu denken“. Wenn es dann doch zur befreienden Tat kommt, will man es nicht gewesen sein. „Aber ich bin doch das Opfer“, klagt er selbstmitleidig, obwohl er kein Mitleid will und sich schuldig bekennt. Schuld sind aber vor allem die Nazis, deren Verbrechen ihm nun den Zwang des ständig reflektierten Verhaltens auferlegt haben. Hier schreit sich die Abwehr gegen die ungerechte Rolle frei, in die viele Deutsche sich gedrängt fühlen. Folglich versucht der bei Delius namenlose Ich-Erzähler, der da durch die Stadt wankt, auf Schritt und Tritt, seine Schuld zu relativieren. Die Ingenieure, die dem Irak die Pläne und die Bauteile für die Scud-Raketen lieferten, kamen ebenso meist ungeschoren davon wie Helmut Kohls instinktloser Pressesprecher Peter Boenisch, der seinerzeit beim Staatsbesuch in Israel mit einem bodenlangen schwarzen Ledermantel durch die Gegend gefegt war. Unser kleiner Posaunist dagegen hatte über Nacht seine ganze Existenz verloren. Zu diesen Gemeinheiten gehört auch, daß Passanten in der Berliner U-Bahn den mit „Heil Honecker“ randalierenden Punks eher sozialtherapeutisch besorgt begegnen, statt sie zur Rede zu stellen.
Delius macht nicht den Fehler, mit seiner kleinen Nacherzählung eine spektakuläre, punktuelle Erklärung für den Vorfall in der Hotelbar zu liefern. Die mißglückte Liebesnacht des geschiedenen Mannes in Tel Aviv mit der ehrgeizigen blonden Bratschistin C., nach der es ihn schließlich aufgewühlt an die Theke treibt, ist nur ein äußerer Anlaß. Und selbst wenn er, wie Delius andeutet, Adolf Hitler nur deshalb auf die Rechnung geschrieben hat, um – ganz der penible Deutsche – zu kontrollieren, ob der arrogante Kellner die Unterschriften auch wirklich genau überprüft. Was sich da in einer freudschen Schrecksekunde mehr oder weniger bewußt Ausdruck verschafft, ist der Aufstand gegen die scheinbare Ausweglosigkeit der Bewältigungsarbeit. „Immer wenn ich in Israel bin, spüre ich den Holocaust im Gepäck, dauernd, überall…Und wenn Sie Deutscher sind, dann wandeln Sie wie Jesus auf einem Pulverfaß“ gesteht der Posaunist der Ex-Frau eines Orchesterkollegen, die ihm erst erliegt, ihn dann aber wegen seiner Weinerlichkeit verläßt.
Delius entschuldigt seinen gebeutelten Protagonisten und damit den kleinen Sautrompeter in uns allen, der gegen diese Holocaust-Scheiße protestieren möchte, nicht. Mit seinen pauschalen Anklagen gegen Erinnerungsroutine und Moralkeulen bot Martin Walser interessierten Kreisen einen Anlaß für ihre Rufe nach dem Schlußstrich. Delius dagegen zeigt mit seiner Mischung aus Empathie und Distanz nicht nur, wie man politische Literatur schreiben kann. Er legt die Aporien offen, denen kein Deutscher entgehen kann. Er läßt seinen gescheiterten Helden den doppelten Boden des Philosemitismus artikulieren, in dem unverdaut lagert, was ständig be schworen und nur symbolisch aber nie wirklich bewältigt wurde. Dazu gehört nach Meinung unseres Posaunisten, daß die Lufthansa auf dem Flug nach Tel Aviv Mahler-Symphonien über die Kopfhörer dudeln läßt. Trotz Einsatz eines ausgesprochenenen Normalisierers wie Ignatz Bubis ist Unbefangenheit im deutsch-jüdischen Verhältnis für die Nachgeborenen noch immer unmöglich, spürt der Musiker beim Besuch in Israel. Schon als Spaziergänger auf der Strandpromenade von Tel Aviv spürt er den „unsichtbaren Feind“. Ob man für das Schuldeingeständnis Wiedergutmachung plädiert oder es ablehnt – alles ist falsch. „Der Irak-Krieg ist vertagt. Die größte Erleichterung: Ich muß nicht bei jeder Gelegenheit betonen, daß ich für Israel bin“ notiert er zwischendurch.
Unaufdringlich parallelisiert Delius das Motiv der ewigen Geschichtslast mit dem ihrer Entsorgung. Immer wieder steht der arbeitslose Musiker nach seinen Spaziergängen durch das Berlin des Jahres 1998 auf der Info-Box am Potsdamer Platz und beobachtet, wie der geschichtsträchtige Boden zwischen Führerbunker und DDR-Wohnblocks fit gemacht wird für eine geschichtslose Zukunft à la Sony und Daimler. Hinter dem abstrakten Holocaust-Mahnmal verblassen, seufzt er mit Blick auf die Bretterzäune um dessen Bauplatz, die realen Verbrechen immer mehr. „Einmal der Böse sein“ schreibt er im Rückblick. Die Unterschrift mit dem Namen des Leibhaftigen ist der befreiende Bruch mit dem alles überschattenden Tabu, der immerwährenden Schuld. Der ausgerechnet im Land der Opfer auf Gegenliebe stößt, als ihn ganz am Schluß eine Tel Aviver Theatergruppe zu einer Performance einlädt. Seine Aktion habe „a moment of strange truth“ enthalten.
Bei F. C. Delius macht man immer wieder eine interessante Erfahrung. An seinen Büchern reizt die nüchterne und konzentrierte Selbstbeschränkung der kleinen Form ohne übertriebene stilistische Eitelkeit. Gleichzeitig schreckt immer etwas die Aussicht auf die Zeitungsausschnitte, denen er seine Gegenwartsstoffe verdankt. Doch im Gegensatz zu Günter Grass‘ Pappmache-Realismus wirkt Delius immer glaubwürdig, weil er seine Geschichten subtil mit Menschen zu füllen versteht, die nicht nach einem festen Schnittmuster hergestellt oder wie an Marionettenfäden gelenkt werden. „Die Figuren dieser Erzählung sind keinen realen Personen nachgebildet, sondern frei erfunden“ stellt Delius seiner Erzählung voran. Bei einem der Begründer der deutschen Dokumentarliteratur klingt diese Formulierung, die er bei der ähnlich gearbeiteten Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus noch nicht gebraucht hatte, einigermaßen ironisch. Doch die höchst realen Personen der allerjüngsten Geschichte abgeschaute Erzählung wird so gut erzählt wie eine erfundene. Delius hat sein hybrides Genre auf die Höhe einer eigenen Kunstform weiterentwickelt.
Auch wenn man bei dem 1943 geborenen Autor aus ein paar altmodisch kulturkritischen Nebensätzen gegen Hollywood, Kultursponsoren und McDonalds Spurenelemente des zur Zeit nicht sonderlich gelittenen Traditionalisten mit Distanz zur Postmoderne herauslesen kann, zeigt seine „Flatterzunge“ doch, wie diese oft als dröge Moralisten Abgetanen arbeiten können, ohne an psychologischer und metaphorischer Raffinesse einzubüßen. In seinem kleinen Bändchen ist Delius auf knappstem Raum eine so diffizile wie komplexe Skizze zeitgenössischen Geschichtsbewußtseins in Deutschland gelungen. Man muß lange suchen, bis man ein gelungeneres Werk findet über die Zwickmühle des Deutschseins, die so schwer auszuhalten ist: wie man es macht, ist es falsch.
(Ingo Arend, Freitag, 27.8.1999)
Posaunen gegen Berlin
Friedrich Christian Delius‘ Erzählung „Die Flatterzunge“
Der Fall ist bekannt und sorgte weltweit für Schlagzeilen: Im Frühjahr 1997 unterschrieb ein Bassist der Deutschen Oper Berlin während einer Israeltournee seines Orchesters eine Hotelrechnung in Tel Aviv mit „Adolf Hitler“. Der Mann, seit zwanzig Jahren Mitglied des Orchesters und rechtsradikaler Neigungen bis dahin nicht verdächtig, wurde sofort nach Hause geschickt und fristlos entlassen. Das Orchester hatte keine andere Wahl, um seinen Ruf zu retten und die Tournee fortzusetzen. Vergeblich versuchte der Musiker, vor Gericht seine Wiedereinstellung durchzusetzen.
Der Berliner Autor Friedrich Christian Delius hat aus dieser Geschichte nun eine Erzählung geschmiedet. Mit dem Bassisten hat er nicht gesprochen, sondern ausschließlich Zeitungsberichte und Archivmaterialien studiert. Delius nimmt sich die literarische Freiheit, zum authentischen Fall eine mögliche Figur zu erfinden und sie mit einer Musiker-Biografie voller beruflicher Kränkungen beamtenhafter Frustrationen und erotischer Demütigungen auszustatten. Hannes, so der Name seines Helden, erinnert in seiner Getriebenheit und dem Gefühl, einer großen Ungerechtigkeit ausgesetzt zu sein, ein wenig an Martin Walsers amokhaften Beamten aus „Finks Krieg“.
Hannes kämpft einen ähnlich vergeblichen Kampf auf verlorenem Posten und gerät – alleine gegen alle – aus der Routine des Alltags in eine schmerzliche Isolation. Die Übereinstimmungen mit Walsers Roman sind kein Zufall, denn ein Orchester unterscheidet sich kaum von einem Verwaltungsapparat. Beamtenmentalität und das Bedürfnis nach einem lebenslangen Sitzplatz, am besten mit Solozulage, gibt es hier wie dort. Und das Tourneemotto des Musikers „Kirchen von außen, Kneipen von innen, Kollegen von weitem“ ist ebenfalls leicht auf andere Berufszweige übertragbar.
Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ein Autor wie Delius, der einst gegen „Institutionen der Macht“ anschrieb, sich nun ausgerechnet zum Advokaten eines fragwürdigen Musikers aufschwingt. Hat sich die kritische Distanz zur „Literatur“ endgültig in die bedingungslose Affirmation verabschiedet? Ist, wo früher Antifaschismus Pflicht war, heute die Parteinahme für einen Möchtegern-Hitler opportun?
Doch ganz so einfach ist es nicht. „Die Flatterzunge“ fügt sich durchaus konsequent in Delius‘ langjährige Rolle als dokumentierender Chronist: die Erkundung deutscher Befindlichkeiten, die von seinen RAF-Romanen der achtziger Jahre bis zur Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung in der zuletzt erschienenen, autobiografischen Erzählung „Amerikahaus und der Kampf um die Frauen“ (1997) reicht. „Die Flatterzunge“ erschöpft sich keineswegs in Empathie für einen fragwürdigen Helden, sondern beschäftigt sich zugleich mit der moralischen Schieflage deutscher Erinnerungspolitik und den störenden Untertönen im deutschen Wohlbefinden. Was ist schon die Dummheit eines geschmacklosen Witzes gegen die Skrupellosigkeit der deutschen Unternehmer, die den Irak mit Raketenteilen belieferten – und straffrei ausgingen? Hat Hannes nicht Recht, wenn er sich als Opfer einer Öffentlichkeit fühlt, die es immer noch nötig hat, ihren Teufel auszutreiben? Sollten die Deutschen ihm nicht, wie er meint, „dankbar“ dafür sein, dass er ihnen die Last abgenommen hat, Adolf Hitler zu sein? „Habe die Getränkerechnung, die Quittung für alle unterschrieben und krieg die Quittung dafür“, notiert er. „So einfach ist das.“
„Die Flatterzunge“ ist ein monologischer, tagebuchartiger Text, eine Verteidigungsschrift, die der Ich-Erzähler im Auftrag seines Anwalts zur Verwendung vor dem Arbeitsgericht verfasst und die sich deshalb direkt an den „Herrn Richter“ wendet. Die Gründe, die Hannes zu seiner Verteidigung vorbringt, reichen von „Trunkenheit“ über „dummer Witz“, Kellnerprüfung und „Kunstaktion“ bis zur großen Opfergeste. Das „Verbrechen“ selbst ist zwar Auslöser und Triebfeder der Erzählung, bleibt aber bis kurz vor ihrem Ende seltsam nebulös. Erst im letzten der drei Kapitel erfährt man den Gegenstand der Anschuldigungen. Doch da hat Hannes längst erklärt, „nur noch für mich“ zu schreiben, da geht es längst um viel mehr als nur um „die Tat“: um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, um den Verlust der Arbeit und den nun drohenden lebenslänglichen Beifallsentzug, um eine gescheiterte Liebe und um den Versuch, neuen Boden unter die Füße zu bekommen. Eine Existenz steht auf dem Prüfstand, von der es heißt: „Ich habe alles falsch gemacht, ich bin schuldig“.
Trotzdem bedarf es einer Frau, um zu einer befriedigenderen Erklärung seiner Tat vorzudringen. Ihr gegenüber ist mehr Raum für Aufrichtigkeit als vor einer Öffentlichkeit, die nach dem Bösewicht giert. „Immer wenn ich in Israel bin, spüre ich den Holocaust im Gepäck“, sagt Hannes zu ihr. „Jeder Atemzug ist politisch. Und wenn Sie Deutscher sind, dann wandeln Sie wie Jesus auf einem Pulverfass.“ Den Zwang, ständig nett sein zu müssen und versöhnungsdienlich, vergleicht er mit der erzwungenen Ruhe eines Konzertbesuchers, den ein Hustenreiz quält. Und der, je mehr er dagegen ankämpft, umso dringlicher husten muss. Hannes‘ Husten heißt Hitler. Es ist ein neurotischer Zwang, hervorgerufen durch den Druck, der nationalen Verantwortung nicht entkommen zu können. So ist Hannes‘ Hitler-Unterschrift ein psychotischer Reiz, ein Katarrh ohne Katharsis, eine Verstrickung in kollektive Verantwortung.
Im Unterschied zum historischen Vorbild hat Delius seinen Hannes als Posaunisten entworfen. Mit den Eigenheiten und technischen Schwierigkeiten der Posaune kennt der Autor sich aus, weil er in seiner Jugend selbst zwei Jahre lang auf diesem schwer zu spielenden Instrument übte. Außerdem macht es den schönen doppeldeutigen Titel „Die Flatterzunge“ möglich: Die Bläser-Technik, durch ein rollendes Zungen-r ein Tremolo zu erzeugen, wird zum Symbol des atemlosen, ratternden Sprechens. Dass Hannes auch mit Flatterzunge küsst, damit aber bloß die Frauen irritiert, ist nur ein kleiner Gag am Rande. Wichtiger ist die berufsbedingte Psychopathologie der mit einem gehörigen Minderwertigkeitsgefühl belasteten Posaunisten: Im Orchester gehören sie zu den „Tuttischweinen“ und werden mancherorts respektlos „Sautrompeter“ genannt. Ihr Bedürfnis nach Geltung muss sich in wenigen kraftvollen Akkorden jeden Abend austoben.
Eine große Qualität der Erzählung ist die Präzision, mit der Delius sich in das Berufsmusikerleben und seine Psyche einfühlt. Hannes‘ Reflexionsniveau pendelt zwischen sehr präziser Beobachtung und abgeschmackten Banalitäten, zwischen scharfer Wahrnehmung und weinerlichem Selbstmitleid. „Für einen Verbrecher“ nicht intelligent genug, für einen Nazi nicht dumm genug“, so schätzt er sich selbst treffend ein. Aus seiner verzweifelten Lage im gesellschaftlichen Abseits flüchtet er sich ins Räsonnement. Weil er arbeitslos ist und viel Zeit hat, verbucht er nun all die kleinen Tätigkeiten des Alltags – Bankgeschäfte erledigen, telefonieren, einkaufen – großspurig als Aktivitäten. Aus Angst vor der Leere erhebt er das Spazierengehen zum Beruf, ein aus Not geborener Flaneur.
Mit Hannes‘ Spaziergängen erhält „Die Flatterzunge“ als Berlinbuch eine weitere Ebene. Die Szene, in der Hannes auf der Infobox am Potsdamer Platz steht und sich wünscht, ein paar Fanfarenstöße aus der Posaune über das neue Berlin zu schmettern, ist eine der schönsten des Buches. Zuletzt sah man den philosophischen Helden aus Cees Nootebooms Roman „Allerseelen“ hier stehen und das weite Gelände überblicken, das von den Resten des Führerbunkers und der Brachfläche des Holocaust-Mahnmals bis zum Sony-Glaspalast reicht. Diese einzigartige Schichtung von Vergangenheit und Zukunft übt auf die Literatur eine scheinbar unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Der Potsdamer Platz: eine Metapher für die unbewältigte deutsche Geschichte, auf der sich die neue Berliner Republik erhebt. Hannes würde gerne „Jericho in Berlin“ spielen. Doch die biblischen Posaunen, die angeblich die Mauern Jerichos zum Einsturz brachten, beruhen leider nur auf einem Übersetzungsfehler Luthers. So ist auch die Heldensaga der Posaunisten, die ihr Berufsethos begründen muss, bloß eine Legende.
(Jörg Magenau, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.8.1999)
Bösewicht für fünf Sekunden
Mit der peinlichen Geschichte vom Ausrasten eines deutschen Orchestermusikers in Israel zielt Friedrich Christian Delius dorthin, wo es wehtut
Ein Mann ruiniert in ein paar Sekunden sein Leben. Nicht, dass er jemanden betrunken überfahren oder im Affekt erschlagen hätte, nicht, dass ihn in einem Geschäft die Lust zum Diebstahl angefallen hätte. Es ist viel peinlicher, viel banaler, und es ist absolut unverzeihlich: Der Mann, erster Posaunist in einem Berliner Orchester, unterschreibt auf einer Gastspielreise nach Israel in einem Hotel in Tel Aviv an der Bar abends seine Getränkerechnung mit „Adolf Hitler“.
Das kommt Ihnen bekannt vor? Zu Recht, denn 1997 ging der Fall eines Kontrabassisten der Berliner Oper, der genau das getan hatte, durch die Weltpresse. Warum macht einer so etwas? Ist es der Suff, ist es Lust an der Provokation, ein geschmackloser Scherz, entspringt so etwas einer gestörten Psyche, oder einem tief verwurzelten Antisemitismus? Immer wieder Friedrich Christian Delius politisches Geschehen aufgegriffen und im Roman verarbeitet – aber noch nie so schnell wie dieses Mal. In seiner Erzählung ist der Delinquent Posaunist und träumt davon, mit seinem Instrument die Mauern von Jericho einstürzen zu lassen, aber sein Delikt ist dasselbe: eben diese schaurige Entgleisung, abends an der Bar.
Die Erzählung heisst „Die Flatterzunge“, was durchaus programmatisch zu verstehen ist, denn dass die Zunge beim Posaunenspiel treffsicher und schnell zustossen kann, macht zwar den guten Bläser aus, aber die Flatterzunge, die zu nervös und schnell spricht, kann auch zu unserem Schaden mit uns durchgehen.
Erzählt wird wie in einer Art Tagebuchform. Das Buch ist eine Materialsammlung von Argumenten für Anwalt und Richter. Der Musiker, aus dem Orchester geflogen, arbeitslos, geächtet, von Freunden und Frauen gemieden, wartet auf seinen Prozess und schreibt derweil seine Beweggründe auf, nein, er versucht, sich beim Schreiben über das Warum seiner Torheit klar zu werden.
Und es stellt sich heraus, was für ein psychologisches Minenfeld anscheinend Israel für uns Deutsche ist. Schon bei der Einreise diese Angst, als nach dem Namen des Vaters gefragt wird – was, wenn der Vater noch mehr Täter war, als man weiss? Darf man in Israel schwarze Hemden und Hosen tragen, oder erinnert das an die Faschisten?
Delius wäre nicht Delius, wie wir ihn politisch redlich kennen und lieben, würde er nicht an dieser Stelle auf Peter Boenisch hinweisen, der bei Kohls erstem Staatsbesuch in Israel wie ein SS-Mann in schwarzem Ledermantel durch das Land geschritten ist. Unser Posaunist hat tausend Skrupel, hat Hemmungen und Bedenken, verkrampft sich so sehr, dass geradezu etwas passieren muss. Und es passiert. Wer hat da unterschrieben? Er? Adolf Hitler in uns allen? Wenn die Posaune im Orchester einen falschen Ton spielt, fällt das sehr viel gnadenloser auf als etwa bei den Bratschen. Wenn ein Deutscher ausgerechnet in Israel eine falsche Handlung begeht, ist das ähnlich spektakulär: Hätte er in Brandenburg diesen Fauxpas begangen, wäre es genau das gewesen – ein Fauxpas. In Israel ist es eine weltweite Schande. Im Orchester ist er der Mann für die Soli. Dieses Solo aber war zu viel.
Doch unser Musiker sieht sich mehr als Opfer denn als Täter. Er war doch nur für fünf Sekunden der, an den er in Israel unentwegt denken musste: Adolf Hitler. Und er stellt eine makabre Rechnung auf: Wenn alle Deutschen nur für fünf Sekunden AH wären, dann wären es in einer Minute schon zwölf, in einer Stunde 720, und schon in einem Jahr „könnte also die Last, ein Mini-Hitler zu sein, schon gut auf sechs Millionen Deutsche verteilt werden (…) Nach ungefähr dreizehn Jahren wären alle achtzig Millionen Deutsche einmal dran gewesen. Dann dürfen alle aufatmen, auch ich.“
Was für eine groteske Rechnung stellt er da an, um seine Bösewichtrolle loszuwerden! Auch die Waffenlieferanten für den Irak fallen ihm ein, deren Scud-B-Raketen auf Tel Aviv gerichtet sind. Mit Dresdner-Bank-Bürgschaften und guten Anwälten sind sie bald wieder aus dem Gefängnis heraus, aber unser kleiner Posaunist mit seinem einen Ausraster… Ja. Genau. Weil es ja immer „die Kleinen“ waren, die einfachen Beamten, die, die nur unterschrieben haben. Er kann noch so einsam und verzweifelt grübeln, unser Posaunist.
Delius kann noch so einfühlsam in ihn hineinkriechen: Wir mögen ihn nicht. Wir mögen ihn schon im ersten Satz nicht. Der erste Satz lautet: „Was mir am meisten fehlt, ist der Beifall“. Na dann! Beifall kann er nun ja haben, von einer etwas anderen Seite, und beifallsgierig, denken wir, sind sie eben, diese kleinen Wichtigtuer, diese Mini-Hitlers, die Kellner-Aufseher im Hotel. Keine Gnade. Er ist erledigt, und er soll erledigt bleiben.
Delius schafft aber ein Wunder. Er bringt es fertig, seinen Helden nicht zu denunzieren, er tritt nicht nach, er gibt ihm alle Chancen, sich und uns seine Tat zu erklären. Er, der Autor, hält sich raus. Er wägt das Für und Wider ab. Und hat uns am Ende da, wo er uns haben möchte: Wir sind ziemlich betreten und froh, mit diesem Kerl nichts zu tun haben zu müssen. Wie würden wir uns ihm gegenüber denn verhalten?
Und dann ein grandioser Schlusscoup: Ausgerechnet aus Israel kommt eine Einladung an den Verfemten. Der Posaunist überlegt: Ist es ein schlechter Witz, eine besonders infame Rache, eine grässliche Pointe? Oder reichen die Opfer generös die Hand und sagen: Versuchen wir es noch mal? Im Roman bleibt das offen. „Don’t worry“ schreibt das Theater aus Israel, „we don’t want you to be a parody of a new Hitler. Just be the German you are.“ Seien Sie nur der Deutsche, der Sie sind – das gerade ist ja das Allerschwerste. Die Posaune wird jedenfalls nach Jericho reisen.
Friedrich Christian Delius hat über diesen der Realität abgelauschten Fall ein kleines Buch geschrieben, nur 141 Seiten. Aber es ist ein unerlässliches, ein wichtiges Buch. Es zielt da hin, wo es wehtut, da hin, wo wir gern verdrängen, wo wir auf den Zehenspitzen des Gewissens gehen. Jeder israelreisende Deutsche weiss zu berichten von Scham, Angst, Verkrampfung, vom Tätergefühl im Land der Opfer, fühlt sich besonders beobachtet, bewertet – sieht man uns an, dass wir die Kinder von Verbrechern sind?
In Deutschland werden auf kahlrasierte Köpfe schon wieder Hakenkreuze tätowiert, und Rechtsradikale sitzen im Landtag von Brandenburg. Wir können anscheinend damit leben, schlimm genug. In Israel aber gehen wir auf Glas. Delius‘ Posaunist mit seiner Flatterzunge ist dabei eingebrochen.
Im Laufe der letzten Jahre ist Christian Friedrich Delius zum interessantesten deutschen Autor geworden, mit einem umfangreichen Werk fast durchweg schmaler Bücher – angefangen bei seinen Gedichten, die ihn seit den sechziger Jahren zum wichtigsten politischen Lyriker machen, über eine Romantrilogie zum deutschen Herbst 1977 bis zu den autobiografischen Erzählungen „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) und „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (1997) oder „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ (1995), eine Ost-West-Komödie. Lauter deutsche Themen – deutsche Terroristen, deutsche Reaktionäre und Revolutionäre, deutsche Helden und deutsche Täter.
Kein anderer Autor kriecht so sehr in die Köpfe seiner Zeitgenossen und versucht zu verstehen und zu erklären, warum sie tun, was sie tun, wie F.C. Delius. Und er macht das vorsichtig, sensibel, intelligent, mit einer klaren Sprache und mit einer bewundernswerten Balance zwischen Anteilnahme und Distanz. Immer ist es der Leser, der entscheiden muss, wie er zum Helden der Romane steht, der Autor reicht uns nur die Hand, zieht uns damit aber nicht unbedingt auf seine Seite. Delius verwickelt seine Leser nie in anspruchslos unterhaltende Mätzchen. Er ist zutiefst ernst, und siehe da, das Ernste unterhält uns und bleibt. Wo Delius nicht autobiografisch erzählt, hat er sorgfältig recherchiert und sich in Menschen hineinversetzt, die wir zu kennen glauben. Er hält uns unsere eigenen Ängste und Illusionen vor – und unsere Fehler und unsere Illusionslosigkeit auch. Er ist ein sehr deutscher Autor, und ich meine das in unserm zerrissenen, mit sich selbst ewig hadernden Land als Kompliment: Wenn die Literatur denn auch dazu da ist, Standorte zu bestimmen, dann würde uns ohne Delius in Deutschland eine charakteristische und wichtige Stimme fehlen.
(Elke Heidenreich, Die Weltwoche, 14.10.1999)