Ulrike Draesner Nicolas-Born-Preis
Laudatio auf Ulrike Draesner
Nicolas-Born-Preis 2016, 28. September 2016
Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Ulrike Draesner, liebe Irmgard Born, meine Damen und Herren!
Hin und wieder werde ich gefragt, was denn nun das Spezielle an Nicolas Born gewesen sei und welches die Kriterien des nach ihm benannten Preises seien oder sein sollten. Da man mich im Ministerium in Hannover zu einem der sogenannten Weggefährten Borns ernannt hat, kann und will ich mich vor einer Antwort nicht drücken.
Zuerst sind selbstverständlich die sprachliche Intensität, die hohe Anschaulichkeit und die prognostische Kraft der Bornschen Gedichte, Romane und Essays zu nennen, doch das sagt nicht viel, diese Qualitäten finden sich auch bei anderen Autoren seiner Generation. Spezifischer wird es schon, wenn man betont: Achten Sie auf den politischen Blick, der die Welt aufreißt und gleichzeitig in die Weite und in die Nähe zielt, wie in der „Fälschung“ und den späteren Gedichten.
Am besten schlagen Sie einfach den großartigen Gedichtband „Das Auge des Entdeckers“ von 1972 auf. Hier feiert Born auf jeder Seite seine Befreiung von der Rolle als „gewohnheitskritischer“ Dichter. Selbstzufriedene Autoren hat er verachtet, er wollte weg von den Fertigteilen des Denkens, der Gewissheiten, der Meinung, also hin zu höherer Leichtigkeit. Explizit strebt er danach, die Erfahrungshorizonte zu erweitern, quantitativ wie qualitativ. In den Nachbemerkungen zu diesem Band schreibt er: „Das Auge des Entdeckers sieht IHN, den Entdecker selbst (:dich und mich), als außengesteuertes Objekt des Tatsächlichen, aber auch als fremdartiges Wesen, das mit Hilfe von Träumen und Phantasien aufbricht in eine unbekannte Dimension des Lebens“.
Genaues, unbestechliches Hinschauen auf die Realitäten plus politisch waches Bewusstsein, aber beidem immer auch ein paar Schritte voraus – mit phantasiegestärktem Ich raus aus der gefälligen Monoperspektive ins Weite, ins Wünschenswerte zielend, hin zu den „besseren Möglichkeiten“. Verstörend und irritierend bleiben, egal, ob bei der Darstellung des Schrecklichen oder des Schönen, der Realitäten oder der Wünsche. So etwa würde ich das spezifische Gewicht von Borns Ästhetik beschreiben.
Ein hoher Anspruch, zugegeben, dem nur wenige Autorinnen und Autoren nahekommen, damals wie heute. Aber wer Preise vergibt, soll bitteschön auch bei höchsten Ansprüchen beiben, wir sind ja nicht in der Schule, wo die Grundkenntnisse immer geringer und die Noten immer besser werden.
Wie auch immer, die diesjährige Jury des Preises war so glücklich, in Ulrike Draesner eine Autorin zu finden, die man für eine ideale Nicolas-Born-Preisträgerin halten darf, und das aus mehreren Gründen. Nicht nur, weil sie so vielfältig arbeitet wie einst Born und immer wieder auffällt mit eigenwilligen Gedichten, Essays und Romanen. Nicht nur, weil sie einiges von der politischen Sensibilität und Wachheit entwickelt hat, die wir an Born bewundern. Oder weil sie immer wieder das unerschöpfliche Sujet Liebe ansteuert. Oder weil sie mutig und munter profitiert von den Bäumen der Erkenntnis der Naturwissenschaften, all das entspricht unserm Namensgeber.
Entscheidend ist, wie immer in der Kunst, die Form, und Ulrike Draesner beherrscht souverän die Kunst des multiperspektivischen und damit des uneindeutigen Erzählens. „Die“ Wahrheit gibt es nicht, das klingt für uns Leser banal, aber das hat für uns Autoren äthetische Konsequenzen, denen sich mittelmäßige und schlechte Autoren nicht stellen. Nach Beifall schielende Gefälligkeitsprosa oder einschüchternde Imponierprosa findet man in Draesners Werk nicht, ebenso wenig Figuren, mit denen man sich im Handumdrehen identifizieren könnte. Hier schreibt eine Autorin, die sich mit Lust, mit Lebenslust und Sprachlust, einlässt auf die Komplexitäten, Widersprüche und Absurditäten der Welt. Empathisch und analytisch, kunstfertig und unterhaltsam.
Gerade an ihrem jüngsten Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ lässt sich das besonders gut zeigen. Auf den ersten Blick das große Thema Flucht und Vertreibung, bekanntlich nicht nur ein deutsches Thema, aber hier an deutschen und polnischen Lebensgeschichten am Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt. Schlesische Provinz, Festung Breslau, Bombennächte, grauenvolle Tage eines älteren Mannes im Volkssturm, Flucht, Vertreibung, Warten, Hungern, Verschwinden des Bruders – was ich hier nur in Stichworten aufreihe, wird Sie vielleicht gleichgültig lassen, meine Damen und Herren, weil es Ihnen scheinbar bekannt vorkommt. Aber ich kann Ihnen versichern, wenn Sie Draesners Roman lesen werden, und Sie werden ihn lesen müssen nach dem heutigen Abend, ich versichere, dass Sie hier wirklich Neues erfahren, was Ihnen noch kein Film, auch kein Guido Knopp und keine neuere Literatur außer Reinhard Jirgls „Die Unvollendeten“ so anschaulich, so kitschfrei, unsentimental und selbstmitleidlos vermittelt. Hier bekommen Sie eine Ahnung, wie Hunger schmeckt, was Flucht, was Vertreibung im wahrsten Sinn der Worte bedeuten, auch für die Ostpolen, die nach Schlesien vertrieben wurden, oder was es, nur ein winziges Beispiel, für einen Volkssturm-Mann heißt, Deserteure erschießen zu müssen. Allein diese Szenen wären preiswürdig genug. Aber bornpreiswürdig werden sie erst dadurch, dass neun verschiedene Erzählerfiguren aus zwei Familien zweier Länder und vier Generationen solche und viele andere eindrückliche Szenen entfalten, variieren, befragen, bezweifeln, ergänzen.
Denn Ulrike Draesner geht einen entscheidenden Schritt weiter als die herkömmliche Literatur zu Flucht und Vertreibung. Sie konzentriert sich auf die Folgen dieser Dramen, die sich traumatisch weiterentwickeln und auf die nächste und übernächste Generation vererben. Damit betritt sie Neuland, durchaus mit den Augen einer Bornschen Entdeckerin. Es war die Hauptarbeit, sagt Draesner in einem Interview, „das Schweigen zu berühren und es hinüberzuziehen, zu übersetzen in sprachlichen Ausdruck.“ Aus den Abgründen, aus dem Nicht- oder Miss- oder Fastverstehen zwischen vier Generationen entfaltet sie ihren Roman.
Im Kern eine Vater-Tochter-Geschichte: Ein Vater, der versucht, seinen Erinnerungen zu entfliehen und aus Menschenfurcht zum Affenforscher wird. Eine Tochter, die versucht, ihrem Vater zu entfliehen und, auch aus Menschenliebe, zur Affenforscherin wird. Eine Mischung aus Familien- und Wissenschaftsroman also mit der ganz besonderen Pointe: Affenforschung als Zukunftsforschung. In einem Roman das grausamste Kriegserleben und die Liebe zu den Schimpansen, die bekanntlich zu mehr als 98 Prozent genetisch identisch mit uns sind, das geht nur mit einem tiefen erzählerischen Humor, in der Balance gehalten von den nüchternen Fakten der Neurologie.
Beide Hauptfiguren, Vater und Tochter, entdecken an Affen wie Menschen „die chemische Unfreiheit“: „Unser Gehirn verfährt chaotisch und rekursiv, Es antwortet sich selbst, entscheidet dem Bewusstsein voraus. Es ist das eigentliche Tier. … Was du heute entscheidest, folgt stärker, als du annehmen möchtest, aus deiner neurologischen Geschichte. … Was war, endet nicht.“
Ulrike Draesner ist meines Wissens die erste im deutschsprachigen Raum, die sich auf das provozierende Sujet Neurologie wirklich einlässt (also nicht als Science-fiction-Jux ausbeutet), die erste, die diese physiologische Erkenntnis, die natürlich eine Kränkung für das traditionelle philosophische, ethische und psychologische Denken ist, zum Kern eines Romans macht. Welche Verwicklungen, welche kleineren Tragödien und größere Grotesken daraus für die Handlung folgen, muss jetzt nicht ausgebreitet werden. Es sei nur so viel verraten: Der über achtzigjährige Vater verliebt sich in zwei seiner Schimpansen, die er im Keller versteckt und weiter erforscht und als Altenpfleger ausbilden möchte. Die Tochter verliebt sich in einen halbresignierten Versöhner zwischen Deutschen und Polen, einen polnischen Flucht- und Vertreibungstrauma-Therapeuten. Erst ihre Tochter, die Enkelin des einstigen Flüchtlings, tritt so selbstbewusst, pragmatisch und empathisch auf, wie man sich die heutige Jugend nur wünschen kann.
Ganz nebenbei ist dieses Buch auch noch hochaktuell, ich sage nur: Umgang mit Flüchtlingen. Es ist lehrreich, mal wieder zu hören, wie die Schlesier 1945 auf bayerischen, und nicht nur auf bayerischen Dörfern als „Schädlinge“ usw. begrüßt und schikaniert wurden. Und zu hören, dass 1953 auch die nie vertriebenen Nachfahren der Vertriebenen per Gesetz zu Vertriebenen erklärt wurden – so wie heute den Nachfahren und Nachnachfahren der Migranten von gedankenlosen Bürokraten das Etikett Migrationshintergrund angepappt wird anstatt sie ordentlich einzubürgern.
Ich habe mich jetzt des längeren bei dem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ aufgehalten, einfach, weil er so unendlich reich an Erfahrungen, Anregungen und Provokationen ist. Es ist schließlich ein opus magnum, das von der Literaturkritik noch lange nicht ausreichend genug gewürdigt ist. Außerdem habe ich größten Respekt vor dem enormen Rechercheaufwand, sowohl zum Flucht- wie zum Schimpansenthema, acht Jahre soll die Autorin an dem Buch gearbeitet haben – man kann das nachlesen auf einer speziellen Webseite, wo man Material, Kommentare Diskussionen usw. zu diesem Roman findet, auf Deutsch und Polnisch. Den Rechercheaufwand bemerkt man beim Lesen wenig, weil mit formaler Raffinesse alles so verdichtet und elegant verflochten ist, mit lockerer Hand geschrieben. Auch mit der Hand einer Lyrikerin, die an den richtigen Stellen Lücken lässt, um uns zum Weiterdenken einzuladen.
Wir zeichnen Ihr Gesamtwerk aus, liebe Frau Draesner, und ich hätte mehr sagen müssen zu Ihren anderen Büchern, zu der irritierenden Kinderstimme in „Lichtpause“, zu dem wahlverwandtschaftlichen Roman „Vorliebe“, zu dem sehr politischen und völlig unterschätzten Roman „Spiele“, zu Ihren Essays und Gedichten. Aber das Protokoll verlangt: Schluss jetzt, die Zeit läuft.
Also mache ich Schluss und gratuliere Ihnen im Namen der Jury zum Nicolas-Born-Preis mit einem dieser klaren, denkanstößigen und zum Schreiben ermunternden Sätze von Born: „Was die Wirklichkeit sei, haben schon viele behauptet, aber niemand hat sich daran gehalten.“