Friedrich Christian Delius, FCD

Die kostbare Freiheit, nein zu sagen

„Die kostbare Freiheit, nein zu sagen“

Fußball war für den jungen F.C. Delius eine Erlösung. Später kickte er mit Otto Schily.
Warum er 1968 einen Stein warf – und was Bill Clinton damit zu tun hatte.

 

Herr Delius, vor 50 Jahren, am 5. Februar, gab es eine Anti-Vietnamkriegs-Demonstration, die legendär wurde. 1500 Teilnehmer, keine beeindruckende Zahl. Können Sie das Bohei darum erklären?

Es war die erste deutsche Demonstration gegen diesen Krieg, also auch gegen die Schutzmacht USA, fünf Jahre nach dem Bau der Mauer. Dann wurde Hand an die US-Flagge vor dem Amerikahaus gelegt, sie stand zwei Minuten auf Halbmast. Und es flogen Eier.

Geplante Provokationen?

Überhaupt nicht. Man ging am Steinplatz los, Hardenbergstraße, Joachimsthaler, Kudamm, die Uhlandstraße zurück, das war’s. Eine Reihe von Leuten bewegte sich in Richtung Zoo, ein paar setzten sich vors Amerikahaus. Einer, der Politik studierte, ging hinein, ein USA-freundlicher Sozialdemokrat, der wie viele, die ein wenig nachdachten, gegen diesen verrückten Krieg war. Einige folgten ihm, drinnen trafen sie auf den Leiter des Hauses, der sagte: Ich bin auch gegen diesen Krieg.

Oha, da war die Luft raus.

Die Demonstranten waren verblüfft. Völlig undenkbar, dass deutsche Autoritäten so eine Meinung äußerten, 1966! Also alle wieder raus, da stand der Fahnenmast. Der Student dachte, irgendetwas muss ich jetzt machen und zog die „Stars and Stripes“ erst herunter, dann auf Halbmast. Nun kamen einige Polizisten, noch ohne jeden kämpferischen Einsatzbefehl und zogen die Flagge wieder hoch. Ich stand auf der anderen Seite der Straße und sah, wie die Eier ans Amerikahaus klatschten. Es gab Ohs und Buhs, das war schon alles.

Der „Spiegel“ schrieb, es habe sich „um Eier der niedrigsten Preisklasse“ gehandelt.

Welche sonst? Nachdem ich 1997 meine Erzählung veröffentlicht hatte …

… „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“…

… meldete sich der, der die Eier organisiert hatte – und später bei der Schaubühne Karriere machte. Er war um die Ecke zu Bilka gegangen und hatte ein Zehnerpack Eier zu 1,99 DM gekauft. Er versuchte, die unter seinen SDS-Genossen zu verteilen, doch die meisten wollten gar keines. Drei oder vier Eier trafen, ich sah den Dotter an der Fassade runtertropfen. Sofort begann die große Skandalisierung – in der Presse, voran die Springer-Zeitungen. Das Lustigste war, wie aus den Frischeiern faule Eier wurden, später sogar Farbeier.

Die Bürger Charlottenburgs waren nicht gerade begeistert und riefen: Geht doch nach drüben!

Das war strunzdumm, aber verständlich. Sie hatten die Blockade und den Bau der Mauer erlebt und sahen die Amerikaner als Retter.

Aus heutiger Sicht war das ein gewaltfreier Protest. Und doch musste sich der Regierende Bürgermeister Willy Brandt bei den USA entschuldigen…

… dabei machten wir ja nur nach, was die Studenten und Tausende von Professoren in den USA vorgemacht hatten. Einschließlich der Sprüche wie „Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today“. Und der Sit-ins. LBJ stand für den US-Präsidenten Lyndon B. Johnson. Eigentlich waren wir, 1966, keineswegs antiamerikanisch, sondern proamerikanischer als die Schimpfbuben von Springer. Denn die kritische Minderheit, in den USA und Europa, hat sich auf die amerikanischen Werte berufen und zehn Jahre vor den Militärs und Politikern kapiert, welch ein Irrtum dieser Krieg gewesen ist – drei bis vier Millionen Tote am Ende und eine traumatisierte Weltmacht.

Ihr Alter Ego in der Erzählung lässt übrigens für diese Demonstration das Bundesligaspiel von Tasmania 1900 gegen den HSV sausen.

Ja, das Leben besteht aus Versäumnissen.

Also bitte, immerhin kamen Spieler wie Uwe Seeler und Charly Dörfel ins Olympiastadion.

Mit Verlaub, es war Premiere: Das erste Mal demonstrieren, mitten auf der Straße, laut werden. Demokratie üben, ein gutes Gefühl von Lockerung.

Wenn man Ihnen glauben darf, ging es bei Demonstrationen auch darum, Frauen zu beeindrucken.

Natürlich gab es, wie immer bei Jugendbewegungen, auch den erotischen Faktor. Mit dem einzigen Stein, den ich bei einer Demonstration geworfen habe, wollte ich mich vor einer Freundin als mutiger Kerl erweisen. 1968 in London, wieder gegen den Vietnamkrieg, übrigens mitorganisiert von dem proamerikanischen Studenten Bill Clinton.

Und, hat die Dame Sie erhört?

Leider nicht. Und das Ziel, das Hilton-Hotel, hab ich auch nicht getroffen.

1967 wandten sich viele berühmte Schriftsteller und Intellektuelle mit dem Aufruf „Wir arbeiten nicht für Springer“ an die Öffentlichkeit, darunter Uwe Johnson, Heinrich Böll, Walter Jens, Günter Grass. Sie haben auch unterschrieben.

Klar. Der Springer-Verlag hatte in Berlin und Hamburg auf dem Zeitungsmarkt fast ein Monopol, Studenten wurden als Untermenschen dargestellt, der Kabarettist Wolfgang Neuss, damals in Bestform, sah sich einer unglaublichen Hetzkampagne der „Bild“-Zeitung ausgesetzt. Die Archive sind voll von Schand- und Schundartikeln dieser Zeit. Was sollten wir tun? Schriftsteller haben keine Macht. Ihr höchstes Gut ist die Unabhängigkeit. Und die kostbare Freiheit, nein zu sagen.

Ihre Tochter Mara arbeitet heute im Feuilleton der „Welt“. In einer Festschrift für Axel Cäsar Springer schrieb sie: „Meine Eltern haben vor dem Haus, in dem ich arbeite, Steine geworfen und ‚Enteignet Springer‘ gerufen.“

Was die Steine angeht, irrt sie. Ihr Beitrag ist übrigens sehr differenziert.

Sie meint auch, dort zu arbeiten sei „nicht die Ironie der Geschichte, sondern ihre Konsequenz“. Dann sind Sie schuld an dieser Laufbahn.

Meine Tochter ist wie ich zur Ironie fähig.

In Ihren ersten Büchern „Wir Unternehmer“ und 1972 „Unsere Siemens-Welt“ entlarven Sie die deutsche Wirtschaft. Kurz nach dem „Deutschen Herbst“ beginnen Sie mit einer Terrorismus-Trilogie, und kaum ist die Mauer gefallen, schreiben Sie über ostdeutsche Geschichte. Dabei sträuben Sie sich gegen das Etikett „politischer Autor“.

Der Begriff ist einengend. Man denkt dabei an einen Autor, der sich richtungspolitisch betätigt und seine Meinung in Literatur umtopft. Nichts schlimmer als das. Ich bin kein Besserwisser und möchte es ungern werden. Ich kann nur schreiben, weil ich Fragen habe. Nach der Schleyer-Entführung 1977 wollte ich wissen: Was ist in unserer Gesellschaft anders geworden? Als die Mauer fiel: Wie leben und denken die Leute in einem mythischen Ort wie Ribbeck? Nur durch Fragen, durch Reibungen entsteht die Energie für Kunst. Nur so konnte 1984 der Roman „Adenauerplatz“ über Armutsflüchtlinge, Asyl und das Deutschwerden entstehen, der heute als prophetisch gilt.

Schon als 23-Jähriger debütierten Sie mit dem Lyrik-Bändchen „Kerbholz“, seitdem wird auch über Sie geschrieben. Für den „Spiegel“ sind Sie ein „getreulicher Chronist seiner Generation“.

Etwas simpel, aber solange die getreulich schreiben und nicht gräulich, nehm ich das hin.

Die „FAZ“ nennt Sie einen „Anarchisten mit subtiler Widerspenstigkeit“.

Der Anarchist in mir darf noch wachsen.

Der Tagesspiegel hat Sie so gesehen: „Ein bedachter Zauderer mit dem Image eines 68er-Heißsporns.“

Das Heißsporn-Image lebt in der Fantasie Ihres Kollegen, der bedachte Zauderer kommt hin. Ich sehe mich als fröhlichen Skeptiker.

Der wildeste Gefühlsausdruck Ihres Lebens?

Ha! Jetzt wollen Sie die Schlagzeile. Nix da!

Die Lebensentwürfe von Menschen Ihrer Generation entwickelten sich oft durch die Abgrenzung von den Eltern. Deren Biografien waren durch den Krieg geprägt. War das ein Thema zu Hause?

Kaum. Mein Vater starb, als ich 17 war und gerade anfing, mich dafür zu interessieren. Er war Pfarrer, im Krieg Sanitätssoldat und bei der Bekennenden Kirche, vermutlich also etwas aufrechter als andere in jener Zeit.

Andererseits hat er Sie total eingeschüchtert.

Stellen Sie sich vor, der Vater ist für Sie der Stellvertreter Gottes auf Erden und verfügt über die Allmacht des Wortes. Diese Autorität hat so ein Gewicht, da gibt es keinen Widerspruch. Das hat mich regelrecht stumm gemacht. Ich habe sehr stark gestottert. Diese väterliche Dominanz und der Zwang, als Pfarrerskind für die anderen im Dorf Vorbild sein zu müssen, ließen mir wenig Freiräume. Einer war der Fußballplatz. Ich organisierte Spiele mit der Schülermannschaft, mit den Nachbardörfern. Da muss ich etwa zwölf gewesen sein. Die Mitspieler habe ich ideologisch getrimmt.

Bitte?

Ja, die mussten alle das Buch „Elf Freunde müsst ihr sein“ lesen, von Sammy Drechsel, ein lange Zeit berühmtes Jugendbuch. Da war wunderbar erklärt, wie man mit Niederlagen fertig wird, dass man nur gewinnen kann, wenn man Konflikte untereinander löst. Als Einzelgänger hat mich das besonders fasziniert, ich hab das fünf Mal gelesen. Den anderen drängte ich das auf und habe vorn eingetragen, wer es gelesen hat und wie oft. Das Buch habe ich noch. So wurde ich das einzige Mal im Leben zu einem ideologischen Einpeitscher.

Das Finale der Fußball-WM 1954 in Bern muss ein Erweckungserlebnis für Sie als Junge gewesen sein.

Wenn es ein autobiografisches Buch von mir gibt, dann „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, da ist das genau beschrieben. Ich lauschte der Reporterstimme aus dem Blaupunkt-Radio, saß auf dem Amtsstuhl des Vaters am Schreibtisch, daneben die Kirchenlexika. Bei dem Ausruf „Toni, du bist ein Fußballgott!“ war ich richtig erschrocken, das war ein Verstoß gegen das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!

Ist die Faszination des Fußballs geblieben?

Ich habe noch gespielt, als ich 1963 nach Berlin kam, bis Anfang der 70er Jahre. Es gab da die Mannschaft um die Rixdorfer Holzschnittkünstler, da kickten auch Rudi Dutschke, Otto Schily und Autoren wie Nicolas Born, Buch, Haufs, Tomayer und Wolfgang Neuss mit.

Heute schwer vorstellbar: Otto Schily in kurzen Hosen und mit Schlamm bespritzt.

So war es aber, er spielte wie ich als Verteidiger, wir beide mit ähnlich dürftigem Talent. Irgendwann ist mir jemand derart wüst auf den Zeh getreten, dass ich sagte, jetzt ist Schluss.

Der Büchner-Preis gilt als bedeutendste deutsche Auszeichnung für Schriftsteller. Sie wurden 2011 damit geehrt und stehen seitdem in einer Reihe mit Dürrenmatt, Walser, Handke, Canetti, Böll, Grass …

… und dabei fühle ich mich gar nicht in einer Ahnengalerie. Jeder ist seine eigene Republik. Sich in einer Reihe zu sehen, behindert nur die Produktivität.

Mal ehrlich, es tut schon gut.

Klar, dieser Preis hebt einen, man schwebt ein bisschen höher, es wächst der Respekt. Ja, es ist eine Genugtuung, gerade wenn man an die Phasen denkt, in denen man von der Kritik geprügelt wurde.

So heftig?

In den 90er Jahren wurden meine Bücher teils mit Lob, aber immer auch mit bösen Verrissen begrüßt, in allen Zeitungen mal. Nichts gegen literarische Kritik, aber unter Häme und Blödheit im Gewand der Kritik hab ich durchaus gelitten.

Sie verfolgen genau, wie sich Ihre Bücher verkaufen, und veröffentlichen eine ständig aktualisierte Top-12-Liste. Derzeit ergibt allein diese eine Auflage von 827 000 plus 37 Übersetzungen. Steckt da Stolz dahinter oder Transparenz fürs Finanzamt?

Das Finanzamt wird von den Verlagen so schnell informiert wie ich. Zum Auftakt der Webseite wollte ich etwas Überraschendes bieten. Man kann die Liste lesen wie eine Sporttabelle, mit Auf- und Abstieg. Ich sehe das alles mit Wohlgefallen und nach mehr als 50 Jahren Literaturbetriebsgerangel auch nicht ohne Stolz und Eitelkeit.

Ihren beruflichen Anfang machten Sie als Lektor bei Wagenbach und Rotbuch. Haben Sie ein Gespür, was Erfolg haben wird?

Bei mir selbst kaum, eher bei anderen. Aber nicht so sehr für Erfolg, sondern für Qualität, ein himmelweiter Unterschied. Dass Thomas Brasch und Herta Müller ihr erstes Buch im Westen gedruckt bekamen, daran war ich nicht unwesentlich beteiligt. Bei Ingo Schulzes erstem, jungfräulichen Manuskript habe ich sofort gejubelt: Hier ist etwas Großes. Die anderen mögen mir verzeihen, ich kann nicht alle nennen.

Sie haben als Lektor sehr früh viele ostdeutsche Autoren betreut. Auch als Schmuggler. Günter Kunert hatte mal drum gebeten, Autoreifen mitzubringen.

Ich hätte das glatt vergessen, doch die akribisch Akten führende Stasi hat daraus eine Kladde mit wilden Spekulationen gemacht, völlig grotesk.

DDR-Grenzer hatten wenig Humor, verspürten Sie denn keine Angst?

Ich wusste ja nicht, dass sie das beobachtet hatten. Die Reifen waren dann doch nicht so staatsgefährdend. Schwierigkeiten hätte es gebracht, mit Manuskripten erwischt zu werden. Mit der Post konnte man ja nichts schicken. Ihre Manuskripte gaben unsere Autoren meist Diplomaten oder Korrespondenten mit, die hatten ihre Drähte, da fragte man nicht. Wenn ich mit Heiner Müller etwas redigiert hatte oder neue, kürzere Texte fertig waren, auch Sachen von Biermann, die habe ich hinten unters Hemd geklemmt und den Gürtel enger geschnallt. So brachte man ja auch dünnere Bücher in die DDR. Ich bin öfter gefilzt worden, aber nie bis auf die Haut.

Für Ihr Buch „Unsere Siemens-Welt“ wurden der Verlag und Sie 1972 vom Konzern verklagt. Das hätte ruinös enden können, es gab einen Vergleich. Auch der Kaufhaus-König Horten hat Sie vors Gericht gebracht. Über den dichteten Sie „… schwitzen die von ihm bezahlten Politiker über Gesetzen, die ihm genehm sind und seine Gegner zerfetzen“.

Nun ja, der hatte die FDP geschmiert und beeinflusst. Gegen Horten haben wir beim Bundesgerichtshof am Ende gewonnen. Heute sind die Unternehmer schlauer und würden nicht so rasch klagen, sie sind nur Manager und deshalb nicht mehr so schnell beleidigt wie die Patriarchen.

Herr Delius, ein wichtiger Begriff der 68er war Utopie. Hatten Sie eine?

Ich war stets resistent gegen Utopien. Schon die Utopie des Himmelreichs war mir eine zu viel. Ich habe mich doch nicht vom Kirchenlied emanzipiert, um politische Gesinnungslieder zu singen.

Das Interview führten Andreas Austilat und Norbert Thomma
(Der Tagesspiegel, Sonntag, 31. Januar 2016)

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