Friedrich Christian Delius, FCD

Göttingen, Torum und der Lorbeer

Göttingen, Torun und der Lorbeer

Dankrede für den Samuel-Bogumil-Linde-Preis der Städte Göttingen und Torun/Polen am 1. Dezember 2002

Vor gut zehn Jahren, meine Damen und Herren, nach dem Fall der Mauern und strengeren Grenzbestimmungen, in einer Phase hoffnungsvoller Nüchternheit, saßen der polnische Lyriker, Übersetzer und Verleger Ryszard Krynicki, damals Poznan, heute Krakau, und ich, beide übrigens Kinder des Kriegsjahrgangs 1943, in einer Wohnung in Berlin, wo Krynicki Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD war, und sprachen über – ja wenn ich das noch wüsste, sprachen jedenfalls, so viel erinnere ich, über das Schreiben, was naheliegend scheint, aber unter Autoren recht selten vorkommt, weil es auch für uns das diffizilste aller Themen ist. Sie müssen wissen, meine Damen und Herren, wir beide sind äußerst schüchterne Menschen, und Ryszard ist ein noch begabterer Schweiger als ich, also verstanden wir uns bestens. Weil wir unsere Worte mit produktivem Schweigen rahmten, gewannen sie ein besonderes Gewicht, nein, nichts Schweres, sondern eine schöne leichte Heiterkeit. Irgendwann flog mir ein schlichter Gedanke zu, den ich sogleich aussprach: Was wir tun, ist eigentlich nur das eine: zwischen zwei Punkten möglichst viel Sinn speichern. Ryszard lächelte, nickte und verstand sofort, was ich mit Sinn meinte: Sprache, Phantasie, Bild, Witz, Metapher, Präzision, Rebellion, Vernunft, Wahn, Deutung, Bedeutung, Andeutung, und so weiter. Ein Wink genügte, und wir waren uns ohne Worte einig: Literatur, ob Lyrik oder Prosa oder Dialog, wird nicht mit Handlung, mit großartigen Ideen oder mit guten politischen Absichten gemacht, sondern zuerst mit der sprachlichen Spannung zwischen zwei Punkten. Der Satz, jeder einzelne Satz entscheidet, sonst nichts.
Ich erzähle Ihnen das nicht, um hier, bei passender Gelegenheit, eine frühere wichtige deutsch-polnische Begegnung aus der Memoirenkiste hervor zu holen, sondern weil mir dieser Moment oft einfällt, wenn es rund um die Literatur feierlich wird. Damit, zum Beispiel, Bücher verkauft und gelesen, Begrüßungen und Laudationes gehalten, die Werke der Literatur im allgemeinen und im besonderen gepriesen werden können, müssen wir Autoren, egal aus welchem Land, vorher unzählige Male den bescheidenen, gefährlichen, ja tollkühnen Anspruch gemeistert haben, die richtige Spannung zwischen zwei Punkte zu bauen. Denken Sie bitte nicht, das sei eine banale Tätigkeit. Bei der Verfertigung solcher Sätze muss sich unsereiner ja nicht nur wehren und abgrenzen gegen hohle Politiksätze, stromlinienförmige Fernsehsätze, gegen das Imponiergehabe der Wissenschaftssätze, die Daumenschrauben der Juristen- und Bürokratensätze und gegen die Trivialsätze aus dem immer dürftigeren täglichen Gestammel.
Gute, einigermaßen haltbare Sätze hinzukriegen, erfordert Geduld. Geduld und Genauigkeitsfanatismus. Aber die kosten Zeit, und die kostet Geld. Wir leben leider nicht davon, dass wir uns dreimal täglich vor unserm Gott Apoll verneigen, der bekanntlich den Lorbeer stiftet, in den sich die Dame Daphne verwandeln konnte, um der Vergewaltigung durch den Chef der Musen zu entgehen, den Lorbeer, der ein Produkt von Erotik und Gewalt ist. Ich will jetzt nicht in die Mythologie ausschweifen, nur kurz andeuten, dass dies Verhältnis von Erotik, ohne die keine Kunst und kein Satz entsteht, und Gewalt bis heute fortbesteht, unter anderem im Widerspruch zwischen Verehrung und Missachtung im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb des Literaturbetriebs.
Nein, denke ich nicht nur beim morgendlichen Lauf zwischen den Lorbeerhecken der Viale Alexander Dubcek, viel Lorbeer ist für die mühsame Arbeit zwischen Punkt und Punkt nicht zu erwarten. Aber ich brauche, für Suppe und Sätze, gelegentlich doch das eine oder andere Blatt. Umso glücklicher war ich, als ich von der Nachricht überrascht wurde, aus dem Himmel von Göttingen und Torun sollten einige Lorbeerblätter regnen. Ich freue mich der unverdienten Ehre, meinen Namen in der Reihe so bedeutender Preisträger zu sehen. Und ich danke, mit ebenso großer Freude, den Steuerzahlern, Stadtverwaltungen und Jurymitgliedern von Göttingen und Torun. Mit Ihrer Preisverleihung tun Sie, da bin ich sicher, nicht nur etwas für Andrzej Stasiuk und für mich, und nicht nur für die polnisch-deutsche, ich vermeide das strapazierte Wort Freundschaft, ich sage Verwandtschaft. Sie, meine Damen und Herren der beiden Städte, investieren auch in die allgemeine Zivilität. Denn wer die Literatur, die Kunst, die Bildung, also den Dialog nicht fördert, der fördert den Egoismus, den Vandalismus, den Terrorismus – um es mal unverschämt kurz mit einer Formulierung von Daniel Barenboim zu sagen. Die alten Griechen, lassen Sie mich bitte in meiner Logik vom Terrorismus zum Lorbeer springen, die alten Griechen wussten, weshalb sie Apollon, den Gott der Orakel, auch zum Gott der Dichter machten. Die heutigen Orakel sehen nicht günstig aus. Damit wir sie besser deuten können, brauchen wir die Bücher – und möglichst stimmige Sätze, die noch entworfen, gefeilt, gefertigt werden müssen. Lorbeer ist, wie Sie wissen, appetitanregend. Und ich danke Ihnen, dass ich mit dem deutsch-polnischen Lorbeer, den Sie heute vergeben, nicht nur meine Suppe würzen darf, sondern auch meine Sätze.

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