Ich komme preußischer zurück denn je. Fontane und die Anfänge
Fontane und die Anfänge
Zur Verleihung des Fontane-Preises, Neuruppin 30.12.2004
„Der Anfang ist immer das entscheidende“, sagt unser aller Fontane, „hat man’s darin gut getroffen, so muß der Rest mit einer Art von innerer Notwendigkeit gelingen, wie ein richtig behandeltes Tannenreis von selbst zu einer graden und untadeligen Tanne aufwächst.“
Das schrieb der Meister in einem Brief an Mathilde von Rohr im Juni 1879, und nicht etwa zur Weihnachtszeit. Auch wenn sein Zitat auf die Entstehung der Erzählung „Schach von Wuthenow“ gemünzt ist, es gilt natürlich für jeden Autor und für jeden Redner sowieso und für alle untadelige politische oder gesellschaftliche Aktivität erst recht. Der Satz „Der Anfang ist immer das entscheidende“ stimmt heute ebenso wie vor 125 Jahren. Wir Heutigen haben es jedoch in einem Punkt besser als Fontane, wir können nach Herzenslust Fontane zitieren und plündern und bei jeder Gelegenheit, nicht nur bei den Anfängen, unser bisschen Lebensweisheit und Literaturklugheit mit wunderbaren Sätzen aus seinen Romanen, Kritiken und Briefen garnieren, erheben und krönen und uns dank seiner Autorität unangreifbar machen. Gerade weil Fontane nie ein Rechthaber war, hat er so oft Recht.
Auch ich würde am liebsten ein Zitat an das andere reihen, vielleicht könnte man sogar eine ganze Dankrede aus Fontane-Zitaten zusammencollagieren, das wäre ein schönes Experiment. Aber damit würde ich mich wieder in schlechten Ruf bringen, in den Ruf eines bloßen Dokumentaristen, der mir seit neustem wieder öfter angeheftet wird. Und wenigstens bei einer Preisverleihung möchte ich einen anständigen Eindruck machen als ordentlicher oder wie Fontane sagen würde: untadeliger Romanautor.
Deshalb spreche ich lieber über die Hürden des Anfangens und denke dabei zuerst an den im Herbst erschienenen Roman „Mein Jahr als Mörder“, in dem fast zweieinhalb Jahre Arbeit stecken und der so beginnt: „Es war an einem Nikolausabend, in der Dämmerstunde, als ich den Auftrag erhielt, ein Mörder zu werden.“ Wie viele Stunden, Tage, Entwürfe, Seiten, schätzen Sie, meine Damen und Herren, bis dieser erste Satz stich- und hiebfest gemeißelt war? Ich habe es zum Glück vergessen, und deshalb gilt mein erster Dank dem Namensgeber dieses Preises dafür, dass er die formalen Mühen unserer Arbeit so herzhaft anschaulich würdigt und Ihnen, dem Publikum, zumindest andeutet. Im August 1880 schrieb Fontane an Gustav Kerpeles: „Nun müssen Sie aber nicht fürchten, daß das so weiter geht; das erste Kapitel ist immer die Hauptsache und in dem ersten Kapitel die erste Seite, beinah die erste Zeile. Die kleinen Pensionsmädchen haben gar so unrecht nicht, wenn sie bei Briefen oder Aufsätzen alle Heiligen anrufen: ‚Wenn ich nur erst den Anfang hätte.‘ Bei richtigem Aufbau muß in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken. Daher diese Sorge, diese Pusselei. Das Folgende kann mir nicht die gleichen Schwierigkeiten machen.“ (zu „Ellernklipp“)
Glauben Sie mir bitte, meine Damen und Herren, wie dankbar ich Fontane auch für solche Sätze bin und wie belohnt ich mich von seinen Hinweisen auf die Anfänge fühle. Das ist eine kleine Entschädigung für die harte Arbeit an den Anfangssätzen, beispielsweise „Was mir am meisten fehlt, ist der Beifall“ aus „Die Flatterzunge“ oder „In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen“ aus „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“.
Wie kriegt man mit den ersten Sätzen, der ersten Seite die geneigten Leserinnen und Leser an die Angel einer aufregenden, einladenden und, verzeihen Sie, liebe Goethe-Freunde, unerhörten Geschichte? Die Frage ist heute, da sich die Konkurrenz der Medien und die Konkurrenz der Romanautoren vervielfacht hat, noch entscheidender als damals. Trotzdem habe ich es einmal gewagt, im Widerspruch zu Fontane, eine lange Erzählung, ein ganzes, überdies von Fontane inspiriertes Buch so zu beginnen:
„Als sie anrückten von Osten aus dem westlichen Berlin mit drei Omnibussen und rot und weiß und blau lackierten Autos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starken Motoren, und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugen das Dorf besetzten, wie es seit den russischen Panzern, dem Luftwaffengebell und den Ribbeckschen Jagdfesten nicht mehr besetzt war, fünfzig oder sechzig frisch gewaschene Autos auf den drei Straßen, und ausstiegen wie Millionäre mit Hallo und Fotoapparaten und Sonnenschirmen und zuerst die Kinder, dann uns nach und nach aus Stuben und Gärten lockten und Bier und Faßbrause, Birnenschnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiber und Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten um einen jungen Birnbaum …“ Und so fort, dieser Anfangssatz hört so schnell nicht auf, er zieht sich noch ein wenig hin, der Punkt wird erst am Schluss, auf Seite 79 gemacht.
Wie kam es dazu, dass ich hier dem Meister so entschieden widersprechen musste und doch jeden Tag an ihn und seine beiden Herren von Ribbeck dachte? Entwickelt, begonnen und geschrieben wurden „Die Birnen von Ribbeck“ in den ersten Monaten nach dem Zusammenkrachen der DDR, im Frühjahr und Sommer 1990. Jeden Tag geschah etwas Neues, etwas Entscheidendes, das Oberste wurde zuunterst und das Innere nach Außen, und das Östliche nach Westen und das Westliche nach Osten gewendet, die Gefühle in Achterbahnen geschleudert, und der mehr irreale als reale Sozialismus zerbröselte innerhalb weniger Wochen unter den leuchtenden Logos der Marktwirtschaft. Stürmische und undeutsch chaotische Zeiten, in denen nicht klar war, wo ein Anfang, wo ein Ende ist. Spannende Zeiten, in denen es unmöglich war, einen Punkt zu setzen. Mit einem langen, langen Satz im Rhythmus der aufregenden Veränderungen versuchte ich, ein Chronist dieser kurzen Epoche zu sein, des historisch ziemlich einmaligen Vorgangs der friedlichen Verschmelzung von zwei Gesellschaften, von Geschichten und Geschichte. Es galt, den Anfang als einen Anfang wahrzunehmen und bewusst machen. Und die Aufhebung der Grenzen als Anfang zu feiern, begeistert wie besorgt, aber mehr begeistert als besorgt.
Bei den Recherchen in Ribbeck stieß ich in der von der LPG betriebenen Gaststätte auf das Fontane-Zitat „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollten wir lieben, aber das Neue recht eigentlich leben.“ Ein Satz, der, wenn ich mich nicht irre, aus dem „Stechlin“ stammt und in der DDR-Zeit in altdeutscher Fraktur an die Wand gemalt war und zur sozialistischen Gesellschaftsordnung ermuntern sollte. Er war nun plötzlich auch das passende, ermutigende und vieldeutige Motto für die Anfänge in der Zeit der Wende. Dieser Satz, nicht weit weg vom Tresen in Ribbeck, war ein schönes Signal, der Zukunft gelassen entgegenzusehen – und deshalb verlieren auch diese Allzweck-Worte ihre Aktualität nicht.
Theodor Fontane, habe ich Anfang der neunziger Jahre gesagt, ist der größte Einheitsgewinnler, nicht nur, weil die Westberliner zu zehntausenden mit den „Wanderungen“ in der Hand in die Mark Brandenburg ausschwärmten. Fontane gab uns allen, ob in Ost oder West, etwas von der verloren geglaubten Einheit und Geschichte zurück. Aktuell war und ist er aber vor allem deshalb, weil er in seinen Romanen und Novellen die Übergänge zwischen Altem und Neuem schildert, die Konflikte zwischen der Dynamik oder der Brutalität des Neuen und dem verantwortungsvollen oder dem reaktionären Konservativismus. Und weil er ein Gespür für die Widersprüche zwischen den Generationen hat – und damit für Anfänge. Und weil er ganz nebenbei zeigt, dass es keine Kunst gibt ohne die Anstrengung des Anfangens von etwas Neuen, bisher nicht Dagewesenen, Unerhörten.
Ich möchte nun nicht, was der Kalender nahelegt, eine Neujahrsansprache über Anfänge halten. Sondern mich nun endlich und mit aller Herzlichkeit bedanken bei der Jury dieses Preises, bei der Stadt Neuruppin, bei den Damen und Herren von der Theodor-Fontane-Gesellschaft und dem aus Schwaben angereisten Laudator Joachim Kalka. Gerade wenn man wie ich einen neuen Anfang gemacht hat und nun in Rom ebenso wie in Berlin zu Hause ist, freut man sich doppelt und dreifach, wenn aus dem Ruppiner Land ein Anruf kommt mit dieser wunderbaren Frage: Würden Sie… ? Ja, ich habe gerade diesen Preis mit mehr Bewegung angenommen, als man mir heute ansieht. Nicht nur wegen des ehrfurchtgebietenden, hochgeschätzten Namens. Ebenso weil ich die Ruppiner, die Havelländischen Gegenden seit Anfang der neunziger Jahre, zugegeben anfangs auch mit den „Wanderungen“ im Auto, besonders lieb gewonnen habe. Dass mir in Neuruppin, wenige Kilometer Luftlinie von Ribbeck entfernt, solch eine Ehre zuteil wurde, rührt mich. Dazu müssen Sie wissen, dass ich mir in Ribbeck nicht nur Freunde gemacht habe. Weder dem Adel und dem adelsfreundlichen Pfarrer noch den Vertretern der alten Kirche, der SED, passte die differenzierende, literarische Darstellung.
Allerdings habe ich mich gefragt, ob ich als Halbrömer dieses Preises überhaupt würdig sein kann, und habe die Frage dem höchsten Gericht vorgelegt, also bei Fontane nachgeschlagen. Auch er war in Italien, aber nicht in Arkadien. Sonderlich begeistert war er nicht, schwärmerisch sowieso nicht. Er bewahrte auf geradezu vorbildliche Weise den kühlen, skeptischen Blick. Und sein Fazit war: „Ich komme preußischer zurück denn je.“ Mir geht es, darf ich das noch sagen?, nicht viel anders. Obwohl Italien und Brandenburg sich viel ähnlicher sind als damals. Deshalb danke ich der Jury und der Stadt Neuruppin noch einmal extra – für die Beihilfe zu dieser nicht ganz nebensächlichen Erkenntnis.