Joseph-Breitbach-Preis
Bagdad und Breitbach, Capri und Clausewitz
Rede Joseph-Breitbach-Preis, Koblenz 21. 9. 2007
Geehrte Frau Staatsminister, geehrter Herr Oberbürgermeister, geschätzte Damen und Herren – folgen Sie mir bitte für einen Moment in die Vergangenheit, in das Jahr 2003.
An dem Märztag jenes Jahres, als die ersten Bomben auf Bagdad fielen, hatte ich die Angst, im Meer zu ersaufen, und das ausgerechnet vor Capri. In der Nacht zuvor, in einem Hotel in Neapel, war der Schlaf schlecht gewesen, der Irrsinn des mit dem Dauerfeuer der Lügen angefachten und nun beginnenden Krieges zerrte an den Nerven. Monatelang war über das Für und Wider debattiert worden, und ich hatte, immer fassungsloser, oft nur gedacht: Clausewitz! Warum liest denn keiner Clausewitz! Ein Reclam-Bändchen mit dem schlichten Titel „Vom Kriege“, die Bibel aller Militärstrategen. Dort steht irgendwo, wie töricht es wäre, dem Feind, den man auf einem Schlachtfeld fast umzingelt hat, siehe Afghanistan, auf ein neues Schlachtfeld einzuladen: „Die Kräfte zusammenhalten!“ Und wie dumm es ist, wenn man einen Feind nicht zu fassen kriegt, sich einen neuen, größeren zu suchen.
Hätte ich denn, so fragte mein hilfloser Sinn fürs Absurde noch an diesem Morgen des 20. März 2003 vor dem bekanntermaßen prächtigen Panorama in der Hafenbucht von Neapel, das gelbe Reclam-Buch ins Weiße Haus schicken sollen? Oder die Übersetzung? Ach, ich hätte es vielleicht sogar getan, wenn es eine winzige Aussicht gegeben hätte, wenigstens einen General daran zu erinnern, was er im ersten Semester auf der Militärakademie gelernt haben musste.
Wir, eine Gruppe deutscher Künstler und Kulturvermittler, bestiegen das verspätete Fährschiff nach Capri. Zur Linken der Vesuv, vor uns das blitzblaue Meer und die Inseln, hinter uns das korruptchaotische, das unbehagliche Neapel, und in Bagdad schlugen die Bomben ein. Die mächtigste Macht hatte sich, wie befürchtet, durchgesetzt. Hätte ich mich, so fragte es in mir, als wir Richtung Capri schaukelten, hätte ich mich nicht doch in den Feuilletonring schwingen und mit dem Clausewitz in der Faust Herrn Bush und seine Anhänger, darunter die heutige Bundeskanzlerin und meine Duzfreunde Biermann und Enzensberger, elegant polemisch k.o. schlagen sollen? Es war mir zu billig gewesen, zu selbstverständlich, nutzlos sowieso. Außerdem war meine Meinung nicht gerade originell. Ich war und bin kein Total-Pazifist, war und bin erst recht kein Antiamerikaner, und so hatte ich mich damit begnügt, die naheliegenden Gedanken in Gesprächsrunden und im Notizbuch zu skizzieren: Dieser angebliche Krieg gegen den Terror wird den Terrorismus vervielfachen – der Nebeneffekt, einen Diktator zu stürzen, wird verblassen gegen das gigantische Terrorismusförderungsprogramm – und so fort.
Nie zuvor war ich auf Capri gewesen, nun herrschte bei klarem Sonnenwetter ein kalter Nordwind, und die See war so tückisch, dass die Touristenboote nicht fuhren, nicht einmal die zur Blauen Grotte. Da wollte unsere Gruppe nicht hin, wir waren in die berühmte Villa Malaparte eingeladen. Vor die Wahl gestellt, eine Stunde zu laufen oder eine halbe Stunde mit dem Boot zu fahren, entschied sich die Mehrheit des fröhlichen Künstlervölkchens, wie man früher gesagt hätte, für den Weg übers Wasser. Wir also mit gut fünfzehn, sechzehn Leuten in das gecharterte Boot. Der Caprifischer, der es steuerte, wirkte seriös und erfahren.
Doch schon bald tanzte das Boot auf den Wellen, Wasser schwappte und spritzte herein, und das fröhliche Künstlervölkchen kreischte wie in der Achterbahn. Von Minute zu Minute wurde ich ängstlicher und fühlte mich bleich werden, daran änderte auch die Nähe meiner Frau wenig. Zugegeben, ich bin ein schlechter Schwimmer und meine Liebe zum Meer schwindet schon bei mittleren Windstärken. Wegen der Kälte und des bissigen Windes trugen wir Wintermäntel, auch die besten Schwimmer hätten sich damit nicht lange über Wasser halten können, die Felsen viel zu weit entfernt und viel zu schroff, um Schutz zu bieten. Schwimmwesten gab es natürlich auch nicht.
Fast noch mehr als um mein Leben fürchtete ich mich vor der Trivialität eines solchen Endes. Geboren in Rom, ertrunken vor Capri – nein, solchen Kitsch wollte ich nicht in der Biografie stehen haben. Und dann: Arm in Arm mit meiner Frau vor den Felsen von Capri versinken, muss das Schicksal gleich so viel Schmalz auftragen? Und: die Bomben auf Bagdad, sie hageln auch in unsere Leben, sie werden mehr zerstören als Saddams Paläste – werde ich nun dafür bestraft, dass ich nicht bis zum Letzten gekämpft und die Argumente der Vernunft und die des Herrn von Clausewitz in die allerdings nicht gerade kriegsentscheidenden Feuilletons geworfen habe?
Ich klammerte mich an der Sitzbank fest, die anderen kreischten nun weniger, einige waren still geworden, auch bleich. Nur der Blick auf den Steuermann half die Panik zu mindern, aufrecht stand er gegen den Wind und schien alles im Griff zu haben. Doch die Phantasien vom Ende im kalten Wasser jagten weiter durchs Hirn, dazu Fetzen des Lebensfilms, und obendrein die Anflüge des Selbstmitleids: Ach, das und das hättest du doch noch gern geschrieben, unternommen, ausgepackt. In keiner Sekunde ließ sich der Gedanke wegschütteln: es braucht nur eine größere Welle ins Boot zu schwappen, zwei, drei Leute springen auf vor Schreck, und es kippt aus der Balance und uns alle ins Wasser.
Warum, werden Sie fragen, meine Damen und Herren, kommt uns der, wie man sieht, gerettete Autor in dieser Feierstunde, auf dem festen Boden eines Musentempels, mit dieser mehr als vier Jahre alten Episode, die jeder Reisende schon mal ähnlich erlebt hat? Und was hat das, bitteschön, mit Literatur zu tun?
Berechtigte Fragen. Also halte ich die Szene vor Capri einige Minuten an und versuche, Ihnen und mir eine Antwort zu geben.
Ich behaupte: Joseph Breitbach hat es mir empfohlen. Nach dem Blitz des Glücks, der von den Mainzer Göttern in meine Richtung geschleudert wurde, begann ich den „Bericht über Bruno“ wieder zu lesen, fasziniert von einem großen Stilisten, der uns vorführt, wie schnell persönliche Auseinandersetzungen zu politischen Kontroversen werden und dass die Macht im Kern nichts anderes als Erpressung ist.
Deshalb setzte sich gegen Ende der Lektüre der Gedanke fest: Bagdad und Capri, das ist es. Wenn Sie Ihre Rede für Koblenz schreiben, suggerierte mir Breitbach, dann erzählen Sie bitte diese Geschichte Ihrer doppelten Ohnmacht vor den Bomben und vor der Angst. Als Wortmacher müssen Sie wissen, wann Worte nichts mehr ausrichten.
Aber nein, sagte ich. Wer spricht, wenn gefeiert wird, schon gern über fürchterliche Kriege und fürchterliche Irrtümer? Noch peinlicher ist es, öffentlich den Eindruck zu erwecken, ein unverschämter Schon-Immer-Rechthaber und ein verschämter Angsthase zu sein.
Darum geht es nicht, beschied mich Breitbach.
Vielleicht, dachte ich, macht sich der alte Herr aus dem Jenseits heraus den Spaß, die von der schönen Ehre und dem schönen Geld benebelten Träger des nach ihm benannten Preises ein wenig zu provozieren und zu verwirren?
Aber er insistierte, auf strenge Weise: Wo empfinden Sie diesen Widerspruch zwischen Macht und Ohnmacht am radikalsten, am schmerzlichsten? Haben Sie sich wenigstens in Ihrer Literatur damit schon ordentlich herumgeplagt, junger Mann?
Also, ich will nicht unhöflich sein zu dem alten Herrn und ein paar Antworten anreißen.
Beginnen könnte ich mit einem ziemlich ohnmächtigen Jüngling, der als Schüler und dann als Student mit Gedichten eine mehr oder minder eigene Sprache sucht – und entdeckt, dass er, der Stumme, der Stotterer, nach und nach Macht über die Wörter gewinnt. Ich zitiere aus einem Gedicht: „Meine Angst hat/ im Februar Geburtstag./ Zur Feier zeche ich/ mit all meinen Feinden/ abendlang … //Auch die Behüter der Ordnung/ sind meine Feinde./ Sie verhängen einen prächtigen/ Ausnahmezustand,/ während wir meine Angst/ hochleben lassen, dreimal/ dreimal hoch// …“
Was der Neunzehnjährige da notiert, übrigens genau in dem Jahr, in dem der „Bericht über Bruno“ erscheint, 1962, ist eine gelassene Attacke gegen die „Behüter der Ordnung“, also die Macht. Der junge Mann stellt sich stärker dar, als er ist, probiert ein vorsichtiges literarisches Imponiergehabe. Der Text, das sehe ich heute mit Staunen, zeigt nicht so sehr die Angst, sondern die versuchte Beherrschung der Angst – durch Sprache, durch Metaphorik, durch ironische Abfederung.
Gegen die Macht, also auch gegen die Angst eine poetische und subversive Sprache zu finden, das wurde gleichsam unbewusst zum Programm. Ganz im Sinn von Ilse Aichinger: „Sprache ist, wo sie da ist, für mich das Engagement selbst, weil sie kontern muss, die bestehende Sprache kontern muss.“
Da dieser junge Mann über sein eigentliches Problem, die Macht der Väter, noch nicht schreiben kann, nähert er sich der Macht der Wirtschaft, der Politik, der Terroristen, der Polizei, der Medien, indem er sie bei ihrer je eigenen Sprache zu packen versucht. Es war, sag ich im Nachhinein, dem Selbstbewusstsein durchaus förderlich, mit der satirischen Festschrift „Unsere Siemens-Welt“, mit nur hundert Seiten Papier den größten deutschen Konzern und selbst den jungen Heinrich von Pierer nervös machen zu können. Noch wichtiger war, dass das nicht wegen irgendwelcher Inhalte geschah, sondern wegen der Macht der Sprache, der Form, in diesem Fall der Satire. Schon früh durfte ich die Erfahrung machen, dass der Stil alles entscheidet, dass Formalist kein Schimpfwort ist, dass die „Höflichkeit des Erzählers“, wie Breitbach sagen würde, also die konzeptionelle und sprachliche Sorgfalt, belohnt wird.
Jedoch, die eher satirische Entlarvung der Macht durch die Sprache der Macht ist ein literarisch allzu leichtes Spiel, dabei kann man nicht stehenbleiben. Ohnmacht darzustellen, fordert dagegen einen größeren sprachlichen Aufwand und komplexere Formen, denn auch dazu gehören die Machtmenschen, die andere in ihrer Gewalt haben und in die Ohnmacht zwingen. Schon sind wir beim Thema Terrorismus.
In diesen Tagen wird wieder viel über den so genannten Deutschen Herbst des Jahres 1977 geschrieben, gezeigt, debattiert und gedummschwatzt. „Jahrestage bergen die Gefahr der Endlosschleife“, meinte neulich der Filmer Andres Veiel, „Die Deutschen zeigen sich die immer gleichen Bilder, halten sich die immer gleichen Texte vor.“
Literarisch zu antworten, also den gängigen Lesarten zu widersprechen, erfordert ungleich größere Mühen. Besonders dann, wenn die Erpressung viele Seiten hat. Und wenn unter dem Terror eine versteckte Liebesgeschichte abläuft, wie die des obersten Polizisten, des BKA-Chefs Herold, der über den obersten Terroristen, Baader, gesagt hat: „Ich habe ihn geliebt.“ Hier hilft nur die Kunst, der Film, die Literatur, um solche Widersprüche zu fassen und die Figuren aus dem Labyrinth der Klischees in die sprachliche Autonomie zu führen. Diese vier Wörter, „Ich habe ihn geliebt“, wurden zur Keimzelle eines ganzen Romans, „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“.
Nicht umsonst steht in der Mitte der 1977-Trilogie der Roman „Mogadischu Fensterplatz“ mit der Geschichte eines Opfers aus der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ – die erfundene Andrea Boländer in der extremsten Form einer Ohnmacht. Fünf Tage und fünf Nächte in einem Flugzeug auf einen schmalen Sitz gesperrt, fünf Tage und Nächte bedroht von Terroristen mit Pistolen und Sprengstoff, fünf Tage und Nächte mit wenig Essen, wenig Wasser, mit Sprechverboten und verstopften Toiletten. Wie hält das eine dreißigjährige Biologin aus? Von welchen Beobachtungen und Empfindungen, welchen Schmerzen, Erinnerungen, Selbstgesprächen, Resignationen, Hoffnungen, von welchem Gestank und Gestöhn wird sie gequält? Und mit welchen Gedanken wehrt sie sich, hält sie durch? Das war in allen Details zu recherchieren, zu erahnen und auszubreiten. Ohnmacht aus der radikalsten, der Innenperspektive, weit weg von der Schlagzeilensprache und dem politischen Ringen draußen, von dem die Geiseln nichts wussten. Ich habe das erst schreiben können, nachdem ich begriffen hatte, dass es hier nicht um einen Teilaspekt des Deutschen Herbstes geht, sondern um die modernste und leider immer wieder aktuelle Form der Gefangenschaft und Erpressung. Was Andrea Boländer getroffen hat, kann jeden an jedem Ort der Welt treffen.
Es ist gut, dass heute, im dreißigten Jahr danach, der öffentliche Blick mehr auf die Opfer gerichtet wird. Doch niemand soll sich einbilden, damit sei nun die ganze Wahrheit über den Ausnahmezustand des Jahres 1977 auf dem Tisch. In den Zyklen der Rückschau verkürzt sich vieles auf das Schema Gut oder Böse, und immer mehr ausgeblendet wird die Rolle der Macht, auf die, wie wir aus dem „Bericht über Bruno“ lernen können, solch ein Schema nicht passt.
Nach wie vor ist die Tätigkeit der geheimen Dienste tabuisiert. Warum erfahren wir auch heute nicht, ob und welche Spitzel schon zu Anfang der RAF welche Waffen besorgten, und vielleicht auch die am Ende für den Selbstmord? Was auf den Tonbändern von den in ihren Zellen belauschten Terroristen zu hören ist? Warum wollen bestimmte Stellen nicht zugeben, dass man deren Selbstmordaktion zumindest billigend beobachtet hat? In den USA legt die CIA in gewissen Abständen ihre Aktionen, auch ihre Sünden vergangener Jahrzehnte offen, warum geht das in einer gereiften und gefestigten Demokratie wie der unseren immer noch nicht?
Breitbach hat das Grundmuster solcher Aktionen vorgezeichnet, Scheinheiligkeit und Missbrauch von Autorität gnadenlos seziert. Im „Bericht über Bruno“ lässt er den Großvater seinen intimsten Rivalen, den eigenen Enkel, durch die Geheimdienste observieren und schikanieren. Und das aus Liebe – was uns wieder an Herolds Satz über Baader erinnert, „Ich habe ihn geliebt.“
Das schmutzige Thema Terror rückt uns heute wieder nah und näher, und so werden wir, auch gegen unsern Willen, immer wieder auf das Thema Macht und Erpressung gestoßen.
Heute funkt die Macht scheinbar weniger in unsere Leben als noch vor fünfzig Jahren – zu Zeiten von Breitbachs Buch gab es zum Beispiel noch eine Sittenpolizei, Homosexualität stand unter Strafe. Heute wird es immer schwerer, das, was Macht ist, noch sprachlich zu fassen. Die Macht der Politik schrumpft, die der Wirtschaft wächst, das merkt jeder, und ich frage mich, was heißt das für die Literatur? Sind die alltäglichen Skandale, Staatsaffären, Korruptionsfälle noch ein Sujet, regen sie noch auf? Ein „Bericht über Putin“ oder ein „Bericht über Berlusconi“ würde den „Bericht über Bruno“ weit in den Schatten stellen – nicht von der Tiefe, nicht von der Raffinesse des Stils, nur vom Skandalpotential her gesehen. Wie verändern sich Gesellschaften, wenn der Präsident der Weltmacht Nummer 1 keine Autorität mehr ist und offensichtlich bornierter als durchschnittliche politische Narren wie unsereiner? Was wird aus den Grundrechten, wenn wir feige tolerant, also ohnmächtig werden gegenüber den Verächtern der Grundrechte? Was würde Breitbach dazu sagen, dass Konzernchefs erpresst werden von den smarten Burschen der Investmentfonds und nicht mehr unternehmerisch handeln dürfen, wie Herr von Pierer berichtet hat? Wohin driftet die Wirtschaft, wenn die Hochrendite-Fundamentalisten alles entscheiden und immer lauter rufen: 24 Prozent Rendite sind nicht genug? Wohin Bildung und Forschung, wenn auch hier die Macht der Bürokratie und der Armseligkeit der Betriebswirte überlassen wird zwecks allgemeiner Demotivierung und Erhöhung der Produktion von Schrumpfköpfen? Wohin der Reichtum unserer Kultur, wenn die Quoten-Fundamentalisten bald überall das Sagen haben? Ganz Deutschland, jede Branche, jede Institution, vom Museum bis zum Krankenhaus und Pflegeheim, stöhnt unter der McKinsey-Diktatur, weil sich alle gegenseitig etwas vorlügen müssen bei dieser „neuen Form der Planwirtschaft“ (Hegewald), wie erodiert die Macht der Demokratie, wenn alles ökonomisiert, also der Lüge der Zahlen überlassen wird? Was richtet das an mit der literarischen Sprache, die, ich komme auf Ilse Aichinger zurück, kontern muss? Ist es schon völlig abgeschafft, das aufklärerische Programm, das draußen auf der Fassade dieses Theaters steht: Musis, moribus et publicae laetitiae?
Sie sehen, meine Damen und Herren, die Fragen, zu denen Breitbach nur mit diesem einen Werk anstiftet, sind unendlich – jedenfalls für einen Autor, der es keineswegs für altmodisch, sondern für die beste Investition gegen Verblödung, Verwahrlosung und Terror hält, den Musen, den guten Sitten und dem öffentlichen Vergnügen zu dienen. Wir haben ja gesehen, was dabei herauskommt, wenn weder George Bush noch Wolf Biermann Carl von Clausewitz lesen.
Bagdad, über das zu sprechen der Preisstifter mich fast gegen meinen Willen verführt hat, belastet das Sensorium leider noch immer. Und Capri?
Erst als wir die Nordostspitze der Insel passiert hatten und das Boot nach Süden abdrehte, wurde der widrige Wind zum Rückenwind, und ganz allmählich stellte sich die Erleichterung ein, aller Voraussicht nach nicht ersaufen zu müssen. Die Angst ließ nach, aber sie blieb in den Knochen. Bald kam das Ziel in Sicht, die Villa Malaparte. Der Schriftsteller Curzio Malaparte, ein halbdeutscher Super-Italiener mit zwei lesenswerten Büchern über den Zweiten Weltkrieg, war profaschistisch, proamerikanisch, promaoistisch, angeblich prokatholisch (also ein Opportunist der Macht par excellence – so kompliziert können Autoren sein!), dieser Malaparte hat sich im Krieg eine spektakuläre Villa bauen lassen, wie ein Schiff oder wie ein länglicher Tempel auf eine steil aufragende Felszunge geschmiegt, erdrot über dem Meerblau.
Das Boot umfuhr den Felsen, den die Villa krönte, drehte bei und legte an. Als wir an Land gingen, zitterten mir immer noch die Knie. Das Gefühl, gerettet zu sein, stellte sich nur ganz allmählich ein, als wollte es in aller Sentimentalität und Dankbarkeit ausgekostet werden, mit jedem Schritt auf steilen Treppen den Hang hinauf wurde es mehr und mehr zur Gewissheit. Ein Aufstieg mit weichen Knien, aber doch ein Aufstieg, und das auf dem Grundstück eines Macht-Opportunisten. Mit wachsender Höhe wurde das Panorama der Capri-Kulissen mit bilderbuchblauem Meer immer prächtiger. Viele Treppenstufen ging es hoch, das Atmen war kein Schnaufen, sondern eher ein Durchatmen, diese Anstrengung eine einzige Erleichterung, festen Boden unter den Füßen zu haben.
Und, so seltsam es klingt, ein ganz anderes, doch entfernt verwandtes Gefühl der Erleichterung befiel mich, als mir eines Samstagnachmittags im Juni die Entscheidung der Jury des Joseph-Breitbach-Preises eröffnet wurde. Und was für ein Aufatmen, als ich die Begründung für diese Wahl las. Mir zitterten dabei zwar nicht die Knie, aber ich gestehe, zuerst rot geworden zu sein bei der Lektüre. Dann dachte ich: Complimenti! Was für kluge Leserinnen und Leser! Nachdem dir jahrzehntelang alle möglichen, mehr oder weniger halbfalschen Etiketten aufgeklebt wurden, ist hier in wenigen Sätzen, zwar viel zu schmeichelnd und übertrieben, aber doch bündig formuliert, was das Spezifikum deiner Arbeit ist oder idealerweise sein sollte. Jetzt, dachte ich, mit dieser Begründung bist du – gerettet. Jetzt bist du, ein halbes Jahr vorm Rentenalter, endlich erwachsen, denn nun brauchst du dich am beliebtesten Kinderspiel der Literaten, „O weh, wie bin ich verkannt!“, nicht mehr zu beteiligen.
Es hat sich also auch aus diesem Grund gelohnt, vor Capri nicht ersoffen zu sein. Darum danke ich der geneigten Jury nicht nur für ihre Entscheidung, sondern ebenso für die schriftliche Begründung. Und ich danke Heinrich Detering dafür, dass er diese auf seine begeisternde Weise noch untermauert hat. Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich, dass Sie mir eine Rede oder eine Bootsfahrt lang gefolgt sind und mich auf dem schwierigen Kurs begleitet haben. Am Ende danke ich Joseph Breitbach für diesen guten Batzen Geld, den ich in meine Arbeit investieren werde, also in die Sorgfalt der Form, also in die „Höflichkeit des Erzählers“. Das bringt mich zur Höflichkeit des Redners, der weiß, wann er den Punkt zu setzen hat, auch wenn die Sache Clausewitz noch lange nicht geklärt ist, nämlich jetzt.