Einst hatte ich ein Rom-Bild
Einst hatte ich ein Rom-Bild
Hauptstadt der Fiktionen und Legenden. Die Ewige Stadt als blühendes Schlachtfeld der Kulturgeschichte
Kein vernünftiger Mensch schreibt über Rom, das war mein erster Gedanke, als ich die Einladung vorfand, ein paar Seiten über Rom und mein Rombild zu schreiben. Alle Leute meinen, nur weil so viele, gerade Deutsche, über Italien und Rom geschrieben haben und immer noch schreiben, sei es leicht, den Blick auf das rund zweieinhalbtausendjährige Rom in rund zweieinhalbtausend Worte zu fassen. Inspirationen flögen in der warmweichen Luft besonders gut, Szenen auf den Straßen brauche man nur abzumalen, ein bisschen Bildung reiche zur Tiefensättigung, und mit etwas ästhetischem Verstand ließen sich schöne Bogen schlagen zwischen altrömischen Säulen und finnischen Handys, zwischen Espressotassen und Schlaglöchern im Asphalt, zwischen päpstlichen Hutmoden und den Innovationen im erweiterten Geschäftsbereich der Kleinkriminellen, und so fort. Rom und Macht, und Schönheit, und Frömmigkeit, und Europa, und Poesie, unerschöpflich die Themen. Schließlich streift kein Lyriker durch Rom, ohne nicht mindestens ein halbes Dutzend Gedichte zu hinterlassen, da müssten einem, der dort im heiteren Süden lebt, die Einfälle nur so um die Ohren rauschen. Alles Unsinn. Die Einfälle reichen für Ansichtskarten oder dicke Bücher, aber nicht für Kurztexte.
Kein vernünftiger Mensch trägt ein Rombild durch Rom. Aber wer ist schon vernünftig? Besonders, wenn er in Rom lebt. Da lässt es sich sowieso nur aushalten, wenn man ein entspanntes Verhältnis zur Unvernunft entwickelt hat. Doch selbst wenn ich meinen ganzen Aberwitz zusammennähme und die deutsche Skepsis vor dem mit Klischees verminten Gelände ablegte, wie soll ich meine zirka siebenhundertdreiundfünfzig Rombilder in ein Bild zwingen? Nein, mit einem Rombild kann ich nicht dienen. „Mein Rom“, da ist der Kitsch nicht weit. Und nirgends bläht sich das besitzanzeigende Fürwort so ins Lächerliche wie in dieser Kombination. Mehr als jede andere Stadt lässt sich diese nicht aneignen, wie schon Nero und Franca Magnani feststellten. Auch nicht knappschriftlich, auch nicht essayistisch aneignen, würde ich als These behaupten – und versuchen, diese These schriftlich zu begründen und zu bespielen. Es lebe der Widerspruch!
Schüler, rombesoffen. Einst hatte ich ein Rombild, mit 19 Jahren. Im Frühjahr 1962, zweieinhalb Wochen mit der Abitursklasse des Korbacher Gymnasiums, habe ich die Stadt, auf die ich mir viel einbildete, nur weil ich hier geboren war, zum ersten Mal in Augenschein genommen. So fleißig und schwärmerisch wie damals habe ich nie wieder eine Stadt, ihre Museen, Straßen, Märkte bestaunt. Alles erregte mich, alles idealisierte ich, alles machte mich rombesoffen. Als wir danach einen Deutschaufsatz über die Reise schreiben sollten, verfasste ich einen schwülstigen Text, heute ein schöner Beleg für ein narzisstisches Rombild. Eine Probe:
„Der Kuppelbau, der sein einziges Licht von oben bekommt, heißt Pantheon. Hier stört es nicht einmal, daß man eine Kirche daraus gemacht hat. Die Kassetten legen sich zusammen, lassen dem Licht seinen Weg. Auf den Mittelpunkt, der gekennzeichnet ist, soll man sich stellen und nach oben sehen.
Plötzlich beginnt unsichtbar die Orgel zu spielen, es soll das ‚Ave Maria‘ von Schubert sein. Aus allen Steinen des Raumes kommen die Töne voll und klar. Verlegen weiß ich nicht, wohin sehen, wohin hören, ich stelle mich mit dem Rücken an die Wand. Plötzlich trifft sich hier alles. (…) Die Harmonie aus Orgel, dieser traurigen Musik der Freude, und diesem Bauwerk öffnet mich. Ich beginne zu begreifen.
Die Orgel nimmt ihren Ton aus dem Licht und füllt die Steine mit dem großen Singen an. Meine Schritte auf diesen Klängen fallen leise zurück. Anderes kommt nach, drängt und füllt sich, das Pantheon wird mein Brennpunkt mit Rom und mit mir selbst.
Morgen falle ich von der Nacht ab. Heute.“
Mangelhaft, anmaßend. Der Lyrismus und die synästhetischen Sprünge des sechsseitigen Textes, den der Deutschlehrer mit „Mangelhaft“ benotete, dienten nur einem Ziel: Alles in Rom Gesehene auf mich zu beziehen, mich an Rom aufzurichten und zu berauschen, kurz: der Rom-Besoffenheit. Das hat der Lehrer damals durchaus erkannt: „Die Haltung des Verfassers ist lauschend, erkennend – aber auch verzerrend; er gibt sich selten bescheiden, oft genug anmaßend.“
Bescheidenheit passt nicht zu Rom, könnte ich heute antworten, damit käme man nicht mal über den Zebrastreifen und morgens wie abends nicht in den Bus. Die Anmaßung war offenbar nötig, um sich gegen die Übermacht der Geschichte, ihrer Steine und Bilder zu wehren – und gegen die Neigung, sich davon einschüchtern zu lassen. Vor den römischen Wirklichkeiten und Vielfältigkeiten wollte der Jüngling nicht kapitulieren, darum bezog er alles, was er sah, auf sich und floh, aus Hilflosigkeit und Eitelkeit, zum literarischen Verfahren der Extremsubjektivierung. So wurde der Tourist zum Dichter, so gewann er ein Rombild, mangelhaft und anmaßend – aber keine Wahrnehmung der Widersprüche. (Erst heute weiß ich, dass arroganza eine römische Primärtugend ist.)
Chaos, Collage und andere Trivialitäten. Die Metropole Rom ist ein fraktales, vielschichtiges, vieldimensionales Gebilde, oder nicht mal ein Gebilde, sondern ein unordentlich geordnetes Chaos mit schönen Steinhaufen im Kern und bestürzender Hässlichkeit nicht nur in den Außenbezirken, dazwischen die lethargisch geschäftigen, eher mürrischen als herzlichen Römer, darüber der bekannte blaue oder der verdrängte graue Himmel und die ausgeleierten Umlaufbahnen der abendländischen Ideen und Mythen – schon solche verkrampften Metaphern zeigen, dass sich schnell blamiert, wer so töricht ist, die ewig genannte Stadt auf einen Nenner, in ein Bild, auf eine Linie von ein paar Zeilen bringen zu wollen.
Die Kontraste sind so heftig in Rom, dass sie alle Formeln, Gleichungen, Vereinfachungen sprengen. Die Stadt besteht, ich bitte um Nachsicht für die unvermeidliche triviale Feststellung, aus verschiedenen Schichten – sogar Freud konnte daran die Schichtungen der „seelischen Vergangenheiten“ illustrieren. Rom, der „Weltknotenpunkt“ (Gregorovius), besteht aus seinen Gegensätzen. Aus abrupten Übergängen, Schnitten und Abgründen der Geschichte. Nicht zu zählen die Straßenecken, an denen ein Blick zweitausend Jahre oder mehr fixiert. Das Konstruktive und das Destruktive, in schönster Disharmonie.
Obwohl die Römer die Etrusker vernichteten, sind die weiterhin präsent: kein Kolosseum ohne die Erfindung der etruskischen Amphitheater. Die cloaca maxima aus etruskischen Zeiten ist teilweise immer noch in Gebrauch. Obwohl das kaiserliche Rom das republikanische systematisch zerstörte, triumphiert das SPQR-Zeichen, Senatus populusque romanum, immer noch im Stadtwappen, auf Straßenlaternen, Kanaldeckeln und Autobussen.
In jeder Epoche versuchten neue Mächte die vorigen zu übertrumpfen, auszurauben oder auszulöschen, und doch sind sie alle noch da: das kaiserliche, das frühchristliche, das von Vandalen und anderen Barbaren geplünderte, das mittelalterliche, das liberale renaissance-päpstliche, das barocke, das diktatorisch päpstliche, das monarchisch-bürgerliche, das faschistische, das von Nazis besetzte, das christdemokratisch-mafiöse – und das heutige, halblinks regierte und sich dem globalisierten Tourismus bereitwillig öffnende Rom.
Wo nichts zusammenpasst, passt dann doch wieder alles zusammen: als lebendige Collage. Hier überlagert ein Bild das andere, das wiederum ein drittes überlagert, mindestens ein drittes. Und jedes hat seine eigene Tiefendimension. In New York braucht man keinen Baedeker. In Rom aber steigert sich das Vergnügen der Wahrnehmung noch ganz altmodisch durch Bildung, die sich portionsgerecht aus Reiseführern abrufen lässt.
Neuigkeiten über das Alte. Kein Wunder, dass allein auf Deutsch mehr als dreißig lieferbare Titel vorliegen. Und gleich daneben hunderte Bücher mehr oder minder kluger Spezialisten, Wissenschaftler und Sachbuchautoren, die aus den diversen Vergangenheiten immer wieder schönste und spannendste Details hervorzaubern und ausleuchten. So ist kein Mangel an Neuigkeiten über das Alte. Die Geschichte ist voll von frischen und frisch aufgemachten Sensationen. Wer will, erfährt alles über die Politik des Propagandaministers Maecenas, die angeblichen Gebeine des Petrus, die Kriminalgeschichten der Kunstgeschichte oder die Mätressen der Päpste oder die Kotflügel von Mussolinis Karossen oder Neues von der Feigheit Pius XII. vor den Nazis oder von Berlusconis Bestechungstricks.
Ein wildes Konglomerat aus zweitausendfünfhundert Jahren Geschichte mit tausend Stories von Macht, Intrige und Widerstand aus allen Epochen. An jeder Straßenecke Historie. Je länger man sich in Rom aufhält, desto größer wird das Vergnügen, sich ihrem Sog hinzugeben und den unerschöpflichen Fakten und Legenden nachzuspüren.
Es gefällt mir zu wissen, warum Giordano Bruno ausgerechnet auf dem Campo dei Fiori verbrannt wurde, und warum und wann ihm genau dort ein Denkmal errichtet wurde, denn so verstehe ich die ganze Stadt, den ewigen Gegensatz von Klerus und Volk viel besser. Es gefällt mir die Episode, nach der die Königin Christine von Schweden, durch ihren Verzicht auf den Thron und Übertritt zum Katholizismus ein exzentrischer Popstar des 17. Jahrhunderts, aus Jux oder Frust mit Kanonen auf die Villa Medici schießen ließ. Ich bewundere Garibaldi und die Gründerväter Italiens noch mehr, seit ich weiß, dass sie tapfere Laizisten waren (Mazzini: „Das Papsttum, eine Religion der Lüge“). Es gefällt mir, dass der deutsch-französische Krieg von 1870/71 wenigstens ein erfreuliches Ergebnis hatte: die französischen Truppen, die den Papst schützten, wurden in der Heimat gebraucht, darum konnten die Italiener, wie Gustav Seibt eindrucksvoll schildert, Rom erobern, dem Kirchenstaat ein Ende machen und endlich die Einigung Italiens vollenden. Mir gefallen sinnlose, surreale Hypothesen: Wie lange hätte Italien auf seine Einheit warten müssen ohne die Emser Depesche?
Wenigstens Alarich und seine Westgoten könnten mir wurscht sein, dachte ich bis vor kurzem. Weit gefehlt. Ohne die Zerstörung und Plünderung Anno 410 hätte der Bischhof von Rom nicht die Versorgung und das Überleben der Stadt organisiert, der Kaiser war längst geflohen, und so den Staat der Kirche begründen und sich auf dem von den Goten abgeschlagenen Caput mundi inthronisieren können. Und als ich in Edward Gibbons „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“ genauere Nachrichten über das Jahr 410 las, spürte ich wieder die Geschichtssucht, die Droge, die mich plötzlich zu dem uralten Alarich-Krimi hinzog – und musste mich wehren: lass den Gibbon, lass die Goten! (Und doch, Alarich ist überall: Hitler und seine Generäle benutzten den Namen als Code und taktierten 1943/45 nicht viel anders als der Gotenkönig.)
Kurzum, man könnte Rom als Schlachtfeld beschreiben, als blühendes Schlachtfeld mit Siegern, die schon die Besiegten sind.
Rom ohne Römer. Auch heute ist Bewegung auf dem Schlachtfeld. Wohin man schaut: Gegensätze, Widersprüche, Kontraste. Hier die katholischste aller Städte mit elf eng bedruckten Telefonbuch-Seiten (ohne den Vatikan) mit allen Gemeinden, Instituten, Kongregationen, Missionen – dort die kilometerlangen Reihen der Sklavinnen der Prostitution an den Ausfallstraßen. Hier die faschistischen Bauten, faschistische Politiker in den Parlamenten, der „römische Gruß“ und antisemitische Hetze im Olympiastadion – dort die Feiertage der Befreiung und die jährlich erneuerten Kränze an den Häusern ehemaliger Widerstandskämpfer oder Opfer der SS-Massaker. Hier die Anhänger von AS Roma – dort die von Lazio, beide Parteien setzen den Fußballkrieg mit Schmierereien bis in die äußersten Nebenstraßen fort, die Ultras beider Vereine sind rechtsradikal und doch unversöhnlich. Hier der Egoismus der Autofahrer, denen der halbgrüne Bürgermeister nun sogar unter dem Paradehügel Pincio ein riesiges Parkhaus bauen lässt – dort das teilweise sogar erfolgreiche Ringen um städtebauliche Vernunft, saubere Luft, Erhalt der Baudenkmäler. Hier die frisch renovierten Fassaden – dort „das schlimmste Übel von Rom: eine unerbittliche Gleichgültigkeit gegenüber Krankheit, Leiden, Armut, Tod“ (Natalia Ginzburg). Hier „Faschisten“ – dort „Kommunisten“, die Zweiteilung lebt fort, nicht nur in Schimpfworten, obwohl es beide Partein auf dem Papier nicht mehr gibt. Hier die Regierung, die Ministerien – dort auf der anderen Tiberseite die Kirche, die immer offener in die Politik hineinregiert.
Die größte Schlacht aber schlagen die reichen Römer gegen die nichtreichen. Als Gadda und Levi („Die Uhr“), Morante, Moravia, Pasolini, Koeppen, Kaschnitz und Bachmann ihre meisterlichen Texte über Rom schrieben, als Fellini und andere ihre Romfilme drehten, in den vierziger, fünfziger und anfangsechziger Jahren, war das Zentrum von Rom noch von Römern bewohnt. Der popolo romano zeigte sich von früh bis spät, die kleinen Handwerksbetriebe arbeiteten halb auf den Straßen, die abends mit Tischen der Trattorien vollgestellt wurden, und die Fremden waren noch in der Minderheit. Sie konnten, was sie sahen und hörten, als Theater betrachten, das Klischee der Commedia dell‘ arte war nicht weit, und gerade die deutschen Intellektuellen wünschten sich so das Volk: in engen Gassen heiter streitend, heftig liebend, arm-aber-glücklich, essend mit Genuss und ohne Etikette, begleitet von Mandolinen und melancholischen oder rebellischen Gesängen.
Rom, so viel ist sicher, lehrt sehen und hören. Ingeborg Bachmanns „Was ich in Rom sah und hörte“ ist immer noch einer der besten deutschsprachigen Rom-Texte, weil er solche Klischees unterlief. Aber das Rom, das sie beschreibt, ist vom Jahr 2007 schon so weit entfernt wie das Rom, das Goethe vor 220 Jahren beobachtet hat, vom Rom der fünfziger Jahre.
Heute sind die Römer aus dem Centro vertrieben – und es wird schwierig, Rom wahrzunehmen oder gar zu beschreiben ohne seine Bewohner. Die Pendler aus den Vorstädten und Außenbezirken kommen kaum noch als flanierende Städter, sondern als Konsumenten oder Arbeitsplatzbesitzer, die sich am Morgen und am Abend in Autos, Bussen, Bahnen quälen, drängeln und quetschen müssen oder mit ihren Motorrollern jeden freien Quadratdezimeter auf Straßen und Plätzen besetzen. Das Zentrum ist etwas für Privilegierte, und privilegiert ist, wer sich einen kurzen Weg zur Arbeit leisten kann. Der alte Adel, Reiche, Mailänder Neureiche aus dem Berlusconi-Dunstkreis, Ausländer, Diplomaten, dazu die Hausmeister und eine Minderheit von Alten, die ihre Wohnungen nicht verlassen wollen, sind noch innerhalb der Mauern – und die Urrömer, die Juden im einstigen Ghetto-Viertel.
Aber sonst sind fast überall die Handwerker den Boutiquen-Damen gewichen, die römischen Bettler den rumänischen, sogar die Katzen den Hunden. Die Trattorien passen sich mit Sahnesoßen, Hochpreisen und dem aufdringlichen Englisch ihrer Kellner dem Trend an. Die Fußgängerzone der Via del Corso unterscheidet sich von der Hohen Straße in Köln, ich übertreibe, nur noch durch die stolze Architektur der Palazzi. Rom wird inglifiziert, touristisiert, globalisiert, und das anschaulichste Bild dafür liefern die Scharen afrikanischer Immigranten, die chinesische Falsifikate italienischer oder französischer Markenprodukte im Auftrag der napoletanischen Comorra oder anderer Mafien den amerikanischen, japanischen, britischen und deutschen Reisenden aufdrängen.
Rom wird entkernt, und wer die „typischen“, also die kleinbürgerlichen Römer sehen und hören will, wird sie in den Randbezirken finden: immer noch an den Wäscheleinen vor den Fenstern, den Roma- oder Lazio-Fahnen und am Dialekt zu erkennen. Die Unterschicht dagegen ist kaum noch sizilianisch oder sardisch, vielmehr chinesisch, philippinisch, afrikanisch, rumänisch, albanisch und südamerikanisch gefärbt.
Jongleur unterwegs. Wenn ich durch die Stadt streife, offenen Blicks und assoziationslustig, darf ich mit mindestens sechs Wahrnehmungs- und Erinnerungsebenen gleichzeitig im Kopf jonglieren:
Erstens die spärlichen Bildungs-Reste, die sich vor altrömischen, frühchristlichen, mittelalterlichen, barocken, savoiisch-königlichen Gemäuern und Bruchstücken einstellen. Zweitens die Zeit des Spätfaschismus um 1943, über die ich für das „Bildnis der Mutter als junge Frau“ recherchiert habe und die mir sehr präsent ist. Dann die Zeit des christdemokratischen Absolutismus um 1962, als ich, auf Klassenfahrt, zum ersten Mal süchtig nach Bildern wie ein Schwärmer durch Rom streifte. Viertens die rebellische Zeit der italienischen Klassenkämpfe um 1972, als ich Stipendiat in der Villa Massimo war und hier, besser als in Berlin, lernte, politische Horizonte zu erweitern und skeptische Distanz zu aller Schwärmerei zu üben. Schließlich die Zeit um 2001, als ich für drei Monate nach Rom kam, diesmal als Stipendiat der Casa di Goethe, und dann, der Liebe wegen, hier wohnen blieb. Und sechstens die Gegenwart, in der plötzlich die Neugier erwachen kann vor einer alten Kirche, etwa Santo Stefano Rotondo: Warum hier der erste Horror-Comic der Welt auf den Fresken (1583) mit den drastischsten Folterungen und Verstümmelungen der Heiligen?
Das ist mein römisches Vergnügen: den Blick auf die Stadt immer wieder neu zu justieren, je nachdem, welche der verschiedenen miteinander wetteifernden Vergangenheiten sich gerade vor die Augen der Gegenwart drängt. Keine der römischen Vergangenheiten ist vorbei. Das Schlachtfeld blüht.
Anbeten und Andichten. Rom, sagte ich, lässt sich nicht aneignen. Und doch neigt der Mensch zur Besitzergreifung. Während die Römer die Haltung des „arrangiarsi“, des nüchternen sich Arrangierens mit den Gegebenheiten pflegen, ziehen die Fremden die Haltung des Anbetens vor.
Wie seit Jahrhunderten kommt die Mehrheit der Leute nach Rom, um anzubeten. Die Pilger aus aller Welt, es werden immer mehr, hatten und haben es relativ einfach mit ihrem Rombild, denn sie haben klare Ziele: Den Papst sehen und St. Peter, dazu die Kirchen besonders attraktiver Heiliger, vielleicht noch die Katakomben. Die Pilger brauchen sich vom Alltag der weltlichen Stadt, ihren Trümmern und Kunstschätzen nicht weiter irritieren zu lassen, sie knien an den heiligen Stätten nieder, holen sich den Segen und den Skonto für die Sündenrechnung, und mit ein paar Papsttellern, Gips-Madonnen und Plastikkreuzen Made in China geht es ab nach Hause.
Daneben die Anbeter des alten Roms und der Paradiesgärten der Kunst. Obwohl die gute alte, vielbesungene Italien-Sehnsucht fast ausgestorben ist (außer bei ehemaligen Bewohnern der DDR und der sog. sozialistischen Länder) – im Zeitalter von easyjet wird selbst Rom zu einer easy Angelegenheit – suchen viele Fremde den Monumenten und dem Geist der Antike, der Renaissance, des Bernini zu nachzuspüren und der Welt des Schönen näherzukommen. Nirgends sonst auf so wenigen Quadratkilometern so viele Gelegenheiten zum Erkennen und Entzücken vor den sinnlichsten Bildern und Skulpturen – all die attraktiven Aphroditen und Apolli, Dianen, Daphnen, Galateen, Herkulesse, Satyrn und Nymphen, all die Götter, Halbgötter und Heiligen mit ihren Legenden, die verzückten Teresen, Katharinen, Cäcilien, die tapferen Sebastians, Georgs und Hieronimi. Rom verführt bildungsreisende Leute dazu, insgeheim doch so etwas wie eine Erweckung („Et in Arcadia ego“) zu erwarten oder sich der Illusion hinzugeben, die Rätsel Roms zu durchschauen. Ihr Irrtum zeigt sich schon in der Ansicht, Rom sei schön – als gehörte das Eigenschaftswort hässlich nicht genauso hierher.
Und was bleibt den Dichtern? Nur das Rom-und-Ich-Pathos, das vor allem bei den belletristischen Autorinnen und Autoren aus dem Norden durchschlägt? Understatement scheint weder zu den Säulen noch zu den Barockkuppeln zu passen. Humor auch nicht. Eine Ausnahme ist Günter Eich mit seiner „Fußnote zu Rom“: „Ich werfe keine Münzen in den Brunnen,/ich will nicht wiederkommen.// Zuviel Abendland,/ verdächtig.// Zuviel Welt ausgespart./ Keine Möglichkeit/ für Steingärten.“ Auch Brinkmann suchte sich zu verweigern, schrieb trotzdem wunderbare Rom-Gedichte – und zog in „Rom, Blicke“, erschreckend humorlos, aus Abwehr gegen das Anbeten und Andichten alle Register der Vorurteile. Rom ist Hassobjekt, endlich mal, aber Brinkmanns Hass unterscheidet sich nur im Wortreichtum und in der Wahrnehmungsweite vom Hass eines rassistischen deutschen Landsers, dem die Italiener nicht sauber, nicht diszipliniert, nicht ernst und nicht zackig genug sind.
Wer über Rom schreibt, tut schlauer als er ist. (Ich auch.) Oder gibt sich auf seltsam feierliche oder schnoddrige Art Mühe, angesichts des vermeintlich Ewigen möglichst viel Klugheit zu zeigen oder wenigstens die Funken, die beim Reiben des Ich am Ewigkeitsklischee entstehen.
Man kann die Probe aufs Exempel machen und die Gedichte studieren, die im Lauf der Jahrzehnte von Stipendiaten in der Villa Massimo geschrieben worden sind – auch die besten Lyriker schrieben, wenn sie über Rom schrieben, unter ihrem Niveau. Fast alle zeigen eine schmalpathetische Demutshaltung, die einst Gottfried Benn mit berechtigter Verachtung gestraft hat: die Haltung des Andichtens. Also die laizistische Form des Anbetens.
Legenden, Fiktionen, Wunder. „Das Eigenartige an dieser größten Metropole des Mittelmeers liegt darin,“ meinte der fromme Stefan Andres, „daß sie den Schriftsteller stets dazu anregt, sich über die Welt und über die Menschen aus einer besonders weiten Sicht Gedanken zu machen. Die Stadt läßt einen nicht in Ruhe.“ Und was ist mit Paris, Dublin oder Halberstadt? Welcher Ort lässt einen Schrifsteller schon in Ruhe?
Rom, die ewige Stadt der Legenden und Fiktionen, ist ein gefährliches Pflaster für Literaten. Weil Rom der Mythos seiner selbst ist. Das fängt mit dem Gründungsmythos an, mit dem Konstrukt des Äneas-Erbes und dem Märchen von Romulus und Remus im Weidenkorb. Es geht weiter mit den wunderbaren, weisen und sinnlichen Home- und Lovestories der griechischen und römischen Götter, die in keiner Stadt der Welt so ausgestellt lebendig sind wie hier. Dann die katholisch verfälschte Kirchengeschichte (man schaue zur Klärung dann und wann in Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“) und die Menge der erfundenen Heiligen oder ihren erfundenen Wunder. In diesem Zusammenhang sei auch Goethe erwähnt, der seinen römischen Aufenthalt vierzig Jahre später in der „Italienischen Reise“ aufs raffinierteste fiktionalisierte. Die Liste ist unendlich, sie hört mit dem Lügenbaron Berlusconi, der politischen Fintentechnik und beim Fußball-Superstar Totti, der sein Trikot Nr. 10 der Wunder-Maria in „Divino Amore“ darbringt, noch lange nicht auf. In diesem Frühjahr beispielsweise wähnt sich der Vatikan, die Weltmacht für Legendenbildung, von den Fiktionen und Legenden eines Romanautors bedroht – und niemand lacht darüber. All das gleichzeitig, auf engstem Raum, und so es ist kein Wunder, dass man von den Römern sagt, sie glaubten an nichts, außer an Wunder.
Nur eins ist sicher: es schärft den humoristischen Verstand, durch eine Stadt zu streifen, wo Mythen und Legenden, Wunder und Fiktionen ernster genommen werden als Realitäten. Deshalb schreibt kein vernünftiger Mensch über Rom, könnte ich sagen, und noch einmal, vollkommen unvernünftig, von vorne anfangen.
(Literaturen 06/2007)