Herrn Walsers Schlacht um den Seelenfrieden
Herrn Walsers Schlacht um den Seelenfrieden
Nein, nicht schon wieder! Die Walser-Bubis-Debatte noch einmal aufrühren? Dazu ist doch wirklich alles gesagt! Da liegt nun ein Brocken von Buch, 680 Seiten, vielleicht nur gedacht für einen Ehrenplatz im Archiv der Zeitgeschichte. Frank Schirrmacher hat fast alle Beiträge zum Thema versammelt und mit ausgewählten Briefen und Leserbriefen angereichert (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000). Eins ist sicher: Wer das Buch aufzuschlagen wagt, für den geht die Debatte weiter, einen Schlußstrich gibt es nicht, auch hier nicht.
Hochsensibel und platt, polemisch und dumpf, gespenstisch und erhellend – das Geflecht der Argumente und Meinungen ist kaum zu entwirren. Die geistige Elite des Landes hat ihre Visitenkarten abgegeben, und Visitenkarten kann man nicht rezensieren. Walsers Friedenspreisrede selbst, welche die hysterische Meinungsschlacht auslöste, ist jedoch auch noch nicht mit einer nüchternen Rezension gewürdigt worden.
Warum? Wie war es möglich, daß jene „Sonntagsrede“ die denkende Nation mehr als einen Herbst und Winter lang erregt hat? Selbst ein kluger Walser-Verteidiger wie M. Fuhrmann „wundert sich, wie ein und derselbe Text derart stark voneinander abweichende Reaktionen hat hervorrufen können“.
Schirrmachers Dokumentation lädt dazu ein, mit gebotenem Abstand noch einmal an den Anfang zu schauen, auf den Redetext, und seine Sprengkraft zu ergründen.
Der Meister der Ambivalenz
Bei jedem turbulenten öffentlichen Diskurs, zumal in Deutschland, funktioniert nichts so schnell wie die Feind- und Frontenbildung. In der allgemeinen Meinungswut fischte sich jeder, ob Verteidiger oder Ankläger, die ihm passenden Sätze und Zitat-Brocken heraus. Groß war der Spielraum zwischen „Brandstiftung“ und „Befreiung“. Neben dem Bundespräsidenten und seinem Amtsvorgänger versuchten nur wenige, der Pro- oder Contra-Mentalität zu entkommen.
So ging im Wettstreit um den richtigen Standpunkt, in der Behendigkeit der Parteinahme der Blick für die Schlingerbewegungen der Walserschen Rhetorik verloren. Außer von W. Schütte, G. Koch, Reich-Ranicki, Konrád und Schorlemmer („hin- und hergeschüttelt von Bejahung und Entsetzen“) ist kaum bemerkt worden, daß die Rede selbst voller Widersprüche steckte und gerade deshalb alle möglichen Reaktionen zuließ. Allerdings, es waren nicht allein bestimmte Thesen oder Schlagworte, die jene schlagenden Wirkungen auslösten. Es war, wie Ignatz Bubis zuerst bemerkt hat, vielmehr das, was nicht gesagt wurde, was in der „Wolkigkeit der Anklage“ (Harprecht) vernebelt blieb.
Am genauesten hat der Literaturkritiker Schütte Walser beschrieben als einen „Meister der Ambivalenzen und Ironien, der permanent changierenden Selbstbezichtigungen & – errettungen. Aber soll man das nur bewundern,“ fragt Schütte, „daß einer, der derart virtuos alle rhetorischen Register der Selbstpreisgabe und deren Rücknahme zieht und sich, wie in einer Echternacher Springprozession, sprechend vor- und zurückbewegt“?
Der Effekt, auf den so viele respektable Geister hereingefallen sind, ist im Grunde simpel: Walser flieht vor seinen eigenen Überlegungen immer dann, wenn sie Differenzierung erfordern. So halten sich die einen an das, was gesagt wurde. Die andern reagieren auf die Auslassungen.
Dafür ein Beispiel: Mit der ehrenwerten Absicht, die Erwartungen an eine kritische Friedenspreisrede zu unterlaufen, scheint Walser trotz aller koketten Volten durchaus aufrichtig. Seine „freiheitsdurstige Seele“ sei eigentlich auf einen „Potpourri des Schönen“ aus, doch er beläßt es bei mürrischen Andeutungen dieser Möglichkeit. Hier, am Anfang der Rede, fallen die Sätze, die ihm später, nicht ganz zu recht, zum Komplex Auschwitz vorgehalten wurden. Sie stehen wie ein Motto über allem: „Ich verschließe mich Übeln, an deren Behebung ich nicht mitwirken kann. Ich habe lernen müssen wegzuschauen. Ich habe mehrere Zufluchtwinkel, in die sich mein Blick sofort flüchtet, wenn mir der Bildschirm die Welt als eine unerträgliche vorführt. … Unerträgliches muß ich nicht ertragen können. Auch im Wegdenken bin ich geübt.“ Eine gelungene Provokation, die man ihm gerne abnehmen würde, wenn er sie vertieft hätte, wenn er über die Widersprüchlichkeit des Hinschauens und Wegschauens als Autor und aufmerksamer Zeitgenosse nachgedacht hätte – oder sich in seiner Rede daran gehalten und die Notwendigkeit des Wegschauens und Wegdenkens begründet hätte. Aber er läßt die Sätze einfach stehen, so bleibt von der Provokation nur ihre biedere Kehrseite – der Redner jedoch hat Freund und Feind schon an der Angel. Natürlich liebt er es, des provokativen Effekts gewiß, seine Sätze wenige Sekunden später zu widerlegen. Er wendet sich einem politischen Fall zu, den er für unerträglich hält und bei dem er trotzdem nicht wegschaut, den Fall des DDR-Spions Rupp, den er mit viel Fleiß zum Opfer stilisiert, um beim Bundespräsidenten seine Begnadigung zu erwirken.
Walser wäre nicht Walser, wenn er nicht auch seinen Appell mit klagenden Fragen über seine absehbare Wirkungslosigkeit enden ließe. Ich bin nicht so naiv, an die Macht meiner Worte zu glauben, teilt er den Zuhörern mit, ich bin nicht so naiv, mit einer kritischen Rede mein Gewissen entlasten zu wollen. Wie jede gerät ihm auch diese Geste zur captatio benevolentiae: indem er auf seine Bescheidenheit und Klugheit weist, schmeichelt er der Klugheit seiner Zuhörer.
Mehr als die Thesen sind solche Winkelzüge der Grund für die widersprüchliche Wirkung der Rede. Fast immer, wenn Walser sich mutig gibt, kommt ein gar nicht so mutiger Schlenker.
Die bösen Intellektuellen
Doch das fällt kaum auf, weil er stets aus der Defensive heraus spricht, von Feinden umstellt. Natürlich ist es ihm ernst damit, die Rolle des „Gewissens der Nation“, wie es zu Bölls Zeiten hieß, abzulehnen, nicht nur einen Sonntag lang, sondern generell. Zu recht will er „den Anschein vermeiden, man wisse etwas besser. Oder gar, man sei besser.“ Er lehnt den „moralisch-politischen Auftritt“ ab, er, der neben Böll und Grass einst der dritte deutsche Meister in „moralisch-politischen Auftritten“ gewesen ist. Nichts gegen den Überdruß an dieser Rolle, nichts gegen einen Meinungswandel und erst recht nichts gegen die Attacke auf die Formel vom „Gewissen der Nation“. Aber Walser erklärt nicht, warum er in jüngeren Jahren der gegenteiligen Ansicht war und was ihn getrieben hat, sich immer wieder in politischen Fragen zu melden. Er habe, behauptet er, „derartige Auftritte nicht vermeiden können.“ Als sei er schon damals gegen seinen Willen genötigt worden. Skrupulös, das wissen wir, ist er aus guten Gründen schon immer gewesen. Aber die Rolle, die er gespielt hat (und als Propagandist der DKP gespielt hat), einfach zu verdrängen und sich als Opfer hinzustellen, das ist eine Kühnheit, bei der er nicht zu zittern schien.
Wie gern, dürfen wir den vielen zustimmenden Briefen entnehmen, sieht man den unschuldig Verfolgten, Genötigten, Klagenden zum Angriff übergehen. Gegen die Auftritte „dieses oder jenes schätzenswerten Intellektuellen“, die sich angeblich auf ihr Gewissen berufen. Mit zwei ziemlich alten Sätzen zweier nicht genannter Suhrkamp-Autoren wird die Entrüstung von 1998 begründet, Denker und Dichter hielten Regierung, Parteien und „die braven Leute“ für moralisch-politisch verwahrlost. Das reicht schon, um die These von der ewigen Selbsterniedrigung und Selbstbeschuldigung der Deutschen zu belegen. (Daß der eine Satz sich auf Österreicher bezieht, ist eine recht dünne Pointe.) Hier läßt sich studieren, mit welch rhetorisch trainierter Simplizität das gigantische Medien-Echo erwirtschaftet wurde. Bisher hat der Redner strikt in der Ich-Form gesprochen, nun tritt er plötzlich im Namen aller auf, im Namen der Nation, sogar als gequältes Gewissen der Nation: „Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns weh tun, weil sie finden, wir haben das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: alle Deutschen.“ Eine These über das Versagen der Politik angesichts des rechten Terrors, eine Beobachtung über das Nazi-Denken braver Leute, eine mißratene Formulierung einer Zeitung – schon ist die Rede auf der Höhe des Plurals, schon werden alle Deutschen aufgefordert, sich ihrer Opferrolle klar zu werden. Und der Chor der erleichterten Leserbriefschreiber dankt. Nach dem Für und Wider jener These wird nicht gefragt, nicht nach der Genauigkeit oder Ungenauigkeit jener Beobachtung, ihren Urhebern werden nichts weiter als sadistische und masochistische Absichten unterstellt. Selbst diese Vermutung könnte ja zum Ansatz eines brillanten Essays über den deutschen Selbsthaß werden, aber daran scheint Walser in seiner „Ich-Bornierung“ (M. Brumlik) kein Interesse zu haben. Seine Meinung steht fest: er sieht alle Deutschen als Opfer, und wer unter allen Opfern am meisten leidet, ist kein geringerer als er selbst. Dank dieser Dokumentation läßt sich nun zeigen, warum ein deutscher Schriftsteller, wohl zum ersten und letzten Mal im 20. Jahrhundert, als Retter aus nationaler Seelennot gefeiert wurde. Das konnte gelingen, weil er sich vom altbösen Feind, „den Intellektuellen“ abgrenzt. Weil er sich selbst Schritt für Schritt zum Opferlamm stilisiert, das nun zum großen Befreiungsschlag gegen die unerträgliche Situation ausholt: „Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.“
Es erstaunt, daß die Befürworter Walsers an solch einem Satz nichts auszusetzen haben. Eben „alle Deutschen“, jetzt „kein Tag, an dem …“, da wird fast ein totalitärer Staat suggeriert, in dem „die Beschuldigten“ jeden Tag sühnen müssen. Sogar die Täter sind bekannt: „die Intellektuellen.“ Mit dieser dritten Verallgemeinerung wird das altbeliebte Feuilleton-Kasperletheater eröffnet: wenn Intellektuelle Intellektuelle bezichtigen, dies oder jenes gesagt oder getan oder nicht gesagt oder nicht getan und damit als Intellektuelle versag zu haben. „Die Intellektuellen“, versteht sich, sind immer die anderen.
Das Komische ist, daß es Walser bitter ernst ist damit. Warum geht er so tief unter seine Wahrnehmungskraft? Wie groß muß sein „feiner Hang zum Ressentiment“ (Th. Schmid) sein, daß er jede Differenzierung fahren läßt? Wer an die Verbrechen der Vergangenheit rührt, wird pauschal verdächtigt, sich selbst entschuldigen zu wollen. Wer im „grausamen Erinnerungsdienst“ arbeitet (hier ist nicht das Erinnerte grausam, sondern das Erinnern!), scheint der größte Feind des Autors zu sein. „Deshalb hat Ignatz Bubis Walser schon richtig mißverstanden.“ (S. Reinecke).Die Instrumentalisierung„Ich will meinen Seelenfrieden, verstehen Sie?“ In diesem Satz aus dem FAZ-Gespräch hat Walser mehr eingestanden als in der Rede. Und doch muß man kein bösartiger Interpret sein, um im Angriff auf die Instrumentalisierung der „Schande“ eine sehr persönliche Instrumentalisierung zu entdecken. Auch die Plädoyers seiner Verteidiger können den Eindruck nicht ausräumen, daß er nur vordergründig gegen die Routine im Umgang mit dem Thema Nazi-Terror kämpft. Man kennt ihn als einen, der sich gern „angeklagt fühlt“ und „nach einer Form von Erlösung sehnt“ (H. Kesting). Selbst als Friedenspreisträger sieht er sich auf Schritt und Tritt als Beschuldigter, obwohl er schon seines Alters wegen für kein Nazi-Verbrechen und keine nationale Schande verantwortlich sein kann. Ständig verwischt er das persönliche Problem mit einem öffentlichen. Seine zentrale These beginnt er mit zwei offensichtlichen Unwahrheiten: „Manchmal, wenn ich nirgends (!) mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung (!) attackiert zu werden“, um sie mit einer halben Wahrheit, die eine Platitüde ist, zu beenden: „muß ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden.“ Konkret dürfte das an keinem „Medium“ zu belegen sein, doch der allgemeine Eindruck ist nicht falsch, daß „Erinnerung“ häufig routiniert dargeboten wird – wie jedes große öffentliche Thema. Doch auch hier wird nicht weitergedacht, sondern auf die alten Leiden des alten W. verwiesen: Er habe „bestimmt schon zwanzigmal“ wegschauen müssen. „Wenn mir aber jeden (!) Tag in den (!) Medien diese (!) Vergangenheit vorgehalten (!) wird“ – vier unverfrorene Übertreibungen, um die Abwehr „gegen diese Dauerrepräsentation unserer Schande“ zu begründen. Walsers Verteidiger (v. Dohnany, M. Maron und viele Dutzend) betonen stets, es sei ihm doch nur um den Mißbrauch und die Instrumentalisierung der Erinnerung, der Vergangenheit, der „Schande“ zu tun, um das Unbehagen an der Gedenkkultur. Das ist, denke ich, nur halb richtig. Gewiß wird auch Mißbrauch mit dem Thema Holocaust getrieben, und das Unbehagen darüber ist viele Male formuliert worden. Natürlich mag Walser das aufgreifen und wiederholen, es soll nur nicht ganz vergessen werden, daß ähnliches Unbehagen schon vor Jahren von Pohrt, Geisel, Broder und anderen viel besser artikuliert wurde. Zum zweiten übersehen die Verteidiger, daß Walser auf das Loswerden, Abschütteln der „Schande“ aus ist, nicht auf veränderten Umgang oder neue Glaubwürdigkeit. Und, meinten viele, hatte er nicht wenigstens recht mit der „Instrumentalisierung der Schande“? Sicher, aber indem er selbst „instrumentalisiert“. Er nimmt Bemerkungen von Grass über Auschwitz im Zusammenhang mit der deutschen Teilung und Einheit und die Vorwürfe eines Literaturkritikers, der ihm Verharmlosung von Auschwitz vorgeworfen habe, weil er Auschwitz in einem Roman nicht erwähnt habe. Während er auf die fragwürdige Grass-These nicht weiter eingeht, putzt er den Kritikus mit aller Wortmacht und allem Recht nieder. Hier tut er genau das, was er seinen Gegnern vorwirft, nur unverschämter. Aus Privatinteresse, um süße Rache an einem Kleingeist zu üben, betreibt der Großmeister die maßloseste Instrumentalisierung von Auschwitz – vor sämtlichen Medien in der Paulskirche. „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“ Er behauptet, vor Kühnheit zu zittern – beim Aussprechen dieser Platitüde, der doch jeder nur zustimmen kann. Danach wirkt die anschließende Frage rhetorisch: „Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft?“ Als brauche nicht mal erwogen zu werden, ob die Deutschen vielleicht ein „normales“ Volk mit einer unnormalen Geschichte seien. Als hätten die Routine des Informierens und die Ritualisierung des Gedenkens etwas mit der erwünschten oder fragwürdigen „Normalität“ zu tun! Logisch ist der Zusammenhang nur im Subtext, durch den erstrebten „Seelenfrieden.“
Der Lastenträger
Während über die „Normalität“ heftig gestritten wurde (u.a. von M. Zuckermann, K. Harprecht, Th. Assheuer, P. Bahners, F. Duve, Ch. Meier), ist in der in der ideologisierten Hitze der Debatte völlig untergegangen, in welchen Widerspruch, in welche Falle sich Walser mit seiner Terminologie begeben hat. Wer die Verbrechen der Vergangenheit nur als „Last“ betrachtet und sich selbst als unfreiwilligen, niedergedrückten Lastenträger, wird aus dem Stöhnen und Ächzen nie herauskommen und das Ziel der „Normalität“ ohnehin nicht erreichen. Er kann sich nur ins Ressentiment retten oder mit dem Abwerfen der Last „befreien“ wollen. Stellvertretend für alle Deutschen sieht Walser sich als Opfer, das genug geschleppt hat und „nicht mehr belästigt werden“, aber es bleibt unklar, „auf welche Last er dabei zielte“ (M. Zuckermann).Erstaunlicher als der Rückgriff auf das trübe Vokabular der fünfziger Jahre ist das antiaufklärerische Vorurteil, das hier waltet. Von „unserer geschichtlichen Last“ wird gesprochen, als mache historisches Wissen den Wissenden zum Sklaven. Als sei Wissen nicht erleuchtend und befreiend. Die Verbrechen sind geschehen und mehr oder weniger bekannt, die Täter fast alle ausgestorben, und den Nachkommen bleibt, auf das Wissen mit Scham und Lernen zu reagieren. Bei Walser aber sind Wissen und Kennen der „Schande“ nur negativ konnotiert. Kein Gedanke, daß Wissen auch etwas Produktives, Erleichterndes, Befreiendes sein kann, ein bereicherndes, notwendiges Ferment im demokratischen Alltag. Ist das Wissen, was eine verbrecherische deutsche Diktatur getan hat, nicht eine einmalige Chance, ja fast ein Privileg unserer Gesellschaft? Woher könnten die Deutschen besser lernen, was sie an ihren demokratischen Freiheiten haben und wieviel Einsatz diese fordern? Walser sagt nie, wie das Gedenken aussehen könnte, wie man der Ritualisierung entkommt, wie die Nazi-Verbrechen heute vermittelt werden sollten. Das sei sein Thema nicht, pflegt er zu antworten. Wer aber das Gewissen privatisieren will, wer keine Grenze zieht zwischen „dem Selbstverhältnis einer Person und der Selbstverständigung einer Gesellschaft“ (Assheuer), wer immer, wenn Reflexion ansetzen sollte, trotzig darauf pocht, nicht belästigt werden zu wollen, muß sich nicht wundern, wenn er in der FAZ-Debatte mit Bubis und Korn so rechthaberisch und herzlos wirkt und sich in dumpfen Vorurteilen verfängt. Selbstkritisch wird Walser erst, wenn er den vermeintlichen Befreiungsschlag hinter sich hat, wenn er die Last, unter der eingebildeten Last zu leiden, losgeworden ist. Dann funkeln Ironien, Klugheit und sogar Deutlichkeiten, „Ich gebe zu, der Schriftsteller ist selber schuld, wenn er sich auf diese geliehene Sprache einläßt…“ Wenn er in seinem Metier ist, kehrt endlich Glanz in die Rede ein: „Nichts macht so frei wie die Sprache der Literatur.“
Es mußte erst Bubis kommen, um aus der „Rede des Jahres“ eine Debatte des Jahrzehnts zu machen. Es mußte erst Broder kommen, um die Frage zu stellen, warum Walser keine Fernbedienung benutzt. Diese Frage, vielleicht die wichtigste, wird auch auf den 682 Seiten nicht beantwortet.
(glossen nr. 11/2000)