Friedrich Christian Delius, FCD

Hitlertest im Apfelland

Hitlertest im Apfelland/USA

„Hitler, he was an important man“, sagte der alte Bauer und schaute mich listig von der Seite an, bevor er mir die violettroten Breaburn-Äpfel empfahl. Wir standen in einer offenen Verkaufshalle für Obst und Gemüse an der Landstraße Nr. 94 im südlichen Pennsylvania. Ein strahlender Maientag, um uns herum blühende Apfelbäume, gepflegte Obstplantagen und frische Felder in einer gefälligen Hügellandschaft. Eine Gegend, die man auf den ersten und zweiten Blick idyllisch nennen könnte, eine fremde und vertraute Landschaft auf dem amerikanischen Kontinent, fern der europäischen Engen und deutschen Querelen – und dann kommt einem so ein einfacher Obstbauer mit Hitler.
Ich war nicht zum ersten Mal im Fruit Market des Bauern Peters. Als Gast des Dickinson College in Carlisle, vor einem Jahr ungefähr, gönnte ich mir hin und wieder das Vergnügen, aus dem Städtchen zwanzig Meilen nach Süden zu fahren, in bequemer Geschwindigkeit mit dem Auto über die Hügel zu schaukeln und mich dann beim Bauern Peters mit Äpfeln, Birnen, Marmeladen und Gemüse einzudecken. Nicht nur, weil alles besser schmeckte als die Supermarkt-Ware. Schließlich war ich mitten im Apple County, einem Zentrum der nordamerikanischen Obstindustrie, wo es großartige Apfelblüten-Feste, zarte Apfel-Königinnen und sogar ein National Apple Museum gibt. Mit Mr. Peters hatte ich mich fast ein wenig angefreundet, schon beim ersten Besuch hatte er mich in kuriose Debatten über Hindenburg und das Luftschiff, Eisenhower und Adenauer verwickelt. Ein Hobby-Historiker, wie es schien, der sein Wissen aus dem Fernsehen bezog. Wir sprachen uns bereits nach Landessitte mit Vornamen an. Er war stolz auf seine deutschen Vorfahren und eine alte Luther-Bibel, die er nicht lesen konnte und mir eines Tages zeigen wollte. In der Nachkriegszeit hatte er im Schwäbischen als Soldat der US-Army gedient. Und nun machte er mit mir den Hitler-Test.„Ein wichtiger Mann“, damit sagte er nichts Falsches, da konnte man nicht direkt widersprechen, aber der Akzent dieser scheinbar neutralen Wertung war deutlich: So schlecht war dieser Hitler nicht. Während John Peters die Äpfel wog, sagte ich zwei, drei Sätze, die im Amerikanischen nicht ganz so anklägerisch wirken wie im Deutschen: Gewiss sei Hitler ein wichtiger Mann gewesen, einen größeren Verbrecher und Mörder habe es, neben Stalin, in der Geschichte nicht gegeben, und so weiter. John Peters erklärte, was er mit wichtig meinte: Hitler habe mit seinen Untaten ja nur erfüllt, was den Juden vor zweitausend Jahren als Schicksal prophezeit worden sei. Ich holte noch einmal locker aus mit einigen Argumenten, aber es war klar, dass bei diesem Mann keine Argumente mehr halfen. Der suchte einen Verbündeten für seinen antisemitischen Quatsch, und merkte nun, dass er, obwohl er einen deutschen Kunden vor sich hatte, an die falsche Adresse geraten war.
Ich gebe zu, ich war mehr amüsiert als betroffen von der blödsinnigen Geschichtsklitterung des Obstbauern. Mitten im beschaulichen Apfel-Paradies von Pennsylvania musste ich an Martin Walser denken, der sich wahrscheinlich auch hier belästigt gefühlt hätte. Hat er nicht in seiner berühmten Friedenspreisrede von 1998 wortreich geklagt, wie unerträglich es sei, bei jeder Gelegenheit an jedem Ort in jedem Medium und von jedermann auf die Nazi-Verbrechen gestoßen zu werden? Nein, dachte ich, Walser irrt auch darin, nicht nur in seinen selbstgefälligen Übertreibungen. Es ist keineswegs unerträglich, ich finde es sogar immer wieder hübsch lehrreich, auf den alten Hitler angesprochen zu werden. Natürlich ist es nicht angenehm, in allen Landstrichen der Welt mit diesem vor Jahrzehnten von anderen Deutschen erwählten größten Mörder aller Zeiten in Verbindung gebracht zu werden. Aber es ist unvermeidlich, dieser Mann lässt sich einfach nicht aus dem Gedächtnis der Völker löschen, und wir können uns nicht von ihm „befreien“, wie Walser wünschte. Und weil es unvermeidlich ist, ja normal, eine Art Gesellschaftsspiel, dürfen wir ruhig etwas gelassener damit umgehen. Denn der Teufel mit Schnurrbart, der da aus dem Kasten springt, sagt mehr über den aus, der ihn beschwört und braucht und mit ihm provozieren will, als über uns, die Kinder und Enkel der Nazi-Generation. John braucht Hitler, ich nicht. Wir sollten nicht so viel darüber jammern, dass wir es uns nicht aussuchen können, ob aufgeklärte, zumeist sympathische Leute uns wegen der Verbrechen der Väter und Großväter-Generation in Verdacht nehmen oder ob dumme, zumeist unsympathische Leute uns in eine schäbige Kumpanei ziehen wollen. Beide Fraktionen irren sich.
John Peters fragte, ob ich noch eine Apfeltorte haben wolle, geschenkt, und natürlich sagte ich ja. Ich hatte ihn nicht überzeugt, vielleicht respektierte er meinen Widerspruch. Gewiss gibt es schwierigere Diskussionspartner als diesen Obstbauer an der Landstraße 94. Ein treuer Wähler der Republikaner und amerikanisch frommer Mann, ein hilflos geschichtsblinder Mensch, der sich einen Reim auf die unerklärliche Welt macht, dabei seinen Unsinn redet und Muster für das Gute und für das Böse braucht. Für ihn ist Hitler ein populäres Reizwort, die Puppe des Bösewichts im Kaspertheater, immer für eine kleine Provokation gut. Deshalb ist es so töricht, jedesmal, wenn die zwei Silben Hit und ler fallen, sofort mit Schuldgefühl und Schwermut zu reagieren. Außer alten und neuen Nazis muss sich niemand angegriffen und belastet fühlen. Hier liegt der größte Flurschaden, den Walser vor zweieinhalb Jahren angerichtet hat: Bei jeder solcher Gelegenheiten sich selber, pars pro toto, als unfreiwilligen, niedergedrückten Lastenträger, als spätes Opfer der einstigen Verbrechen darzustellen, das genug geschleppt und bewältigt hat und nicht mehr belästigt werden will. Walser hat von „unserer geschichtlichen Last“ gesprochen, als mache historisches Wissen den Wissenden zum Sklaven. Als wären Wissen und Kennen der „Schande“ nur negativ konnotiert. Kein Gedanke, dass Wissen etwas Produktives, Erleichterndes, Befreiendes sein kann, ein bereicherndes, notwendiges Ferment im demokratischen Alltag. Ist die Kenntnis der Fakten über eine verbrecherische deutsche Diktatur nicht eine einmalige Chance, ja fast ein Privileg unserer Gesellschaft? Woher können die Deutschen besser lernen, was sie an ihren demokratischen Freiheiten haben und wieviel Einsatz, Kritik und Lebendigkeit diese fordern?
So etwas Ähnliches hätte ich John vielleicht noch gesagt, wenn ich es in einfachen Sätzen hätte sagen können. Als wir seine Apfeltorte aßen, beim Abendessen mit Freunden, erzählte eine Lehrerin, die von den Sioux abstammt, wie sie in einem Restaurant in Carlisle nicht bedient worden sei, wegen ihrer Hautfarbe und des indianischen Gesichts.

(Das Plateau 65, Februar 2001)

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