Friedrich Christian Delius, FCD

Preußen, wozu?

Preußen, wozu?

„Im deutschen Kaiserreich gab es vor dem ersten Weltkrieg 420 000 Beamte, heute haben wir fünf Millionen im öffentlichen Dienst,“ sagte der alte Herr und fügte mit unbeholfener Ironie hinzu: „Sie können das natürlich für einen Fortschritt halten.“
Draußen ein grauer Wochenendhimmel, Kastanien im Wind, und drinnen im Saal schmunzelten dreißig, vierzig Leute. Das Bild Preußens sei von Vorurteilen und Verleumdungen verstellt, meinte der fünfundsiebzigjährige Herr, vornehm gekleidet, lächelnd, liebenswürdig. Deshalb müsse er Aufklärung treiben. Mitten im ländlichen Brandenburg, in Wustrau, nicht weit von Neuruppin und Rheinsberg, hat ein Bankier im Ruhestand, mehrfacher Millionär, sich seinen Lebenstraum erfüllt. Seit Jahrzehnten ein Sammler preußischer Devotionalien, hat er nach der Wende ein Museum zur Ehrenrettung Preußens entworfen, auf eigene Kosten bauen und nach seinen Vorstellungen einrichten lassen – ohne den Beistand von Historikern, denen er eine zu kritische Sicht auf sein Hobby unterstellt. „Und bei der Kultur,“ fuhr der Bankier fort, „gab es zu Kaisers Zeiten 134 Beamte, heute sind es in allen Kultur-Ministerien der Länder und des Bundes 74 000.“Allein wegen dieser Zahlen, flüsterte ich zu meiner Begleiterin, hat sich der Ausflug gelohnt. Gewiss, der gute Mann pries unter der Hand die Vorzüge der Monarchie gegenüber der Demokratie und stellte die Zeit vor 1914 als makellos dar – aber wo der Preußenfan recht hat, hat er recht. Mit den Beamten traf er wieder einmal den Punkt. Schon war, während wir zuhörten, in unseren Köpfen das alte Klagelied über die spezielle deutsche, fortschrittshemmende Regulierungswut angestimmt, Unmut und Spott über die viel zu große Zahl der viel zu teuren Beamten aufgefrischt. Ich rechnete nach: Verzehnfacht, ja mehr als verzwölffacht hat sich Anzahl der Beamten bei etwa gleicher Bevölkerung in neunzig Jahren. Im Bereich der Kultur ist sie sogar mehr als fünfhundertmal angewachsen – da allerdings hat der Millionär, nach meinen Recherchen, etwas übertrieben gerechnet. Aber: man muss kein Monarchist und nicht einmal ein Preuße sein, um solche Informationen mit ironischem Genuss in einen Wunsch zu verwandeln: preußische Sparsamkeit zuerst einmal in den Verwaltungen, das wäre doch mal wieder ein vernünftiges Staatsziel! Jährliche Reduzierung des Personals im öffentlichen Dienst um 5 %, dazu die Reduzierung der Vorschriften und Verordnungen um 5 % jährlich, beides zehn Jahre lang! Dafür, dachte ich, ist das Preußenjahr gut, dass hier und da etwas für die Allgemeinbildung abfällt – und hin und wieder eine aus der Vergangenheit geschöpfte, erstrebenswerte Utopie.
Der Propagandist aus Wustrau ist unter den vielen Experten, Schwärmern und Kommentatoren, die in diesem Jahr sich auf das Thema Preußen stürzen, wohl einer der bizarrsten, versponnensten und fanatischsten. Erstaunlich, was so ein „Preußenjahr 2001“ bewirkt: überall, nicht nur im Raum Berlin und Brandenburg, auf allen Feldern der Medien stehen Leute auf, die über Preußen etwas zu sagen haben. Die meisten verfallen bei diesem Thema sofort in positive oder negative Erregungen und beginnen reflexartig über das Für und Wider, das Wenn und Aber, die Dialektik von Nostalgie und Aufklärung oder über das alte Wechselspiel von Heroisierung und Verteufelung zu streiten.
Der stolze Gründer führte durch sein Museum, wir folgten ihm, belehrt, amüsiert – und erstaunt über die nationalistischen Versimpelungen, mit denen die historischen Fakten umflort wurden.
Warum werden alle Leute beim Thema Preußen gleich so preußisch grundsätzlich und springen in die Schützengräben der Ideologien? Es schadet doch nichts, wenn ein paar Fakten verbreitet oder im Gedächtnis wieder zurechtgerückt werden. Ob ein Monarchist wie dieser Bankier oder ein Emigrant wie Sebastian Haffner diese ausspricht sagt, ist erst einmal nebensächlich. Niemand muss sich genieren, dass Preußen lange vor den anderen europäischen Staaten Hexenprozesse und Folter abschaffte und die Sklaverei verbot. Niemandem schadet zu wissen, dass dieser höchst umstrittene Staat vor fast allen anderen Staaten das Los der Bauern erleichterte, die Religionsfreiheit und die Schulpflicht einführte, usw. usw. Was aber treibt so viele Menschen in die Museen und Ausstellungen? Weshalb lassen sie sich sogar monarchistische Sonntagspredigten gefallen? Viele hundert pilgern jeden Monat ins abgelegene Wustrau, hunderttausende strömen in die Berliner und Potsdamer Ausstellungen, nach Sanssouci, Charlottenburg und Rheinsberg. Bildungshunger allein wird es nicht sein. Natürlich liegt der Verdacht nahe, die neue Preußen-Konjunktur verdanke sich einem historischen Ausgleichssport. Hier darf man sich einem Teil der deutschen Geschichte nähern, der, zumindest vor 1870, nicht mit schweren Verbrechen vergiftet ist (wenn man einmal von der Polenpolitik absieht). Eine ziemlich unbekannte und spannende Geschichte, nicht beladen mit Nazi-Schuld und Nazi-Verdacht. Nein, das Rätsel, scheint mir, liegt tiefer. Preußen ist deshalb so attraktiv, weil es mit Mann und Maus untergegangen ist. Die ‚Titanic‘ der Historie. Weil es, ohne Zutun oder gar Schuld der heute Lebenden versunken ist, mitsamt seinen berühmten Tugenden und dem Verantwortungsdenken und staatstragenden Anti-Egoismus. Schon im Kaiserreich war nicht mehr viel von den sogenannten Tugenden übrig, aber heute scheinen die obersten dieser Gebote, Ehrlichkeit – Unbestechlichkeit – Gemeinsinn, völlig ins Gegenteil gekehrt. Korruption ist nicht mehr die Ausnahme, sondern Alltag. In der Statistik der Organisation Transparency International, die den Grad an Korruption in der Wirtschaft und Politik eines Landes abschätzt, ist Deutschland in den letzten Jahren um mehrere Stufen nach oben geklettert – nicht an die Spitze, aber doch mit der stärksten Zuwachsrate.
Fast alle Skandale der letzten Jahrzehnte sind Korruptions-Skandale gewesen. Die Krönung haben wir bei einem Altkanzler erlebt, der, nicht anders als ein Mafiaboss, den Freundschaftsdienst über das Gesetz stellt. Nicht besser ein kürzlich enttarnter Beherrscher Berlins, der sich als größter Plünderer der Stadt entpuppte. „Eigentlich,“ sagte ich auf der Rückfahrt zu meiner Begleiterin, „hätten wir den Bankier fragen müssen, was er zu dem unpreußischen Gebaren seiner Geschäfts- und Parteifreunde meint.“„Und zu den Beamten,“ warf sie ein, „die versetzt werden, wenn sie sich, sogar in Bayern, im besten Sinne preußisch verhalten und solche Skandale aufdecken.“
Es gibt sie noch, die Sehnsucht nach einem unbestechlichen, sparsamen, selbstbewussten Staat. Preußen liefert Maßstäbe, wird also gebraucht, auch 2002.Aber welche Beamten, Herr Bankier, würden Sie zuerst abschaffen?

(Das Plateau 67, Oktober 2001)

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