Berufsverbot für Betriebswirte
Berufsverbot für Betriebswirte!
(Vortrag auf der Leipziger Buchmesse am 18. März 2010)
In: Sprache im technischen Zeitalter, Heft 194, Juni 2010. SH-Verlag, Köln
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Ungefähr drei Wochen, nachdem ich so leichtfertig gewesen war, die Einladung zu einem Vortrag in Leipzig über das Thema Krise anzunehmen, begann es in meinem Ohr zu pfeifen. Im rechten Ohr zuerst, dann auch im linken. Ich hatte die ersten Notizen gemacht, ein Konzept überlegt, wollte einige Skizzen möglichst zügig hinwerfen, drehte die Antennen auf das Thema, ahnte ein paar und dann immer mehr Schwierigkeiten – da ereilte mich dieser leise pfeifende Schmerz in den Ohren, der nicht so schnell weichen wollte. Da war er, zum ersten Mal, der berühmte Tinnitus. Der Auslöser, so sagt einem jeder, auch jeder Arzt, sei Reizüberfluss, Überforderung, Stress. Ich sagte dem Arzt, ich bin nicht gestresst, ich fühle mich jedenfalls nicht gestresst, höchstens etwas überfordert mit einem Vortrag über die Krise, den ich zur Leipziger Buchmesse halten soll.
Als ich die Einladung annahm, hatte ich gedacht, das wäre eine gute Gelegenheit, die etwas konfusen Gedanken zum Thema Krise ein wenig zu ordnen, einige Zeitungsmeldungen und Meinungen von andern beizumischen und so weiter. Ich hatte überlegt, entweder das Wort Krise überhaupt nicht zu erwähnen oder mich für alles offen zu halten, was heute unter Krise firmiert und was man meistens, weil man nicht noch mehr belästigt werden will, beiseite denkt. Ich hatte mir vorgenommen, schau der Hydra mal in die diversen giftspeienden, stinkenden Köpfe, mutig und neugierig wie es sich gehört. Das war zu viel. Wenn die Aufmerksamkeit auf ein Lockwort wie Krise justiert ist, wenn sich Zeitungsartikel und Notizen, Exzerpte schneller stapeln als man lesen oder ordnen kann, wenn einem das Wort Krise von allen Seiten an die und in die Ohren dringt, dann ist es kein Wunder, wenn’s pfeift mit hoher Frequenz. Im langen I des Wortes Krise dominiert ein ähnlicher Ton, eine ähnliche Schwingung wie in dem Pfeifen in den Ohren, das einem unendlich lang gestreckten I-Vokal recht nahe kommt. In Leipzig absagen wegen Tinnitus, das wollte ich nun doch nicht, man will ja keine Memme sein und hofft, die Belästigung werde sich legen.
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Nur um mich zu schonen und nicht weiter die Ohren zu reizen, entschied ich, nicht über die Krise zu schreiben und zu reden, die mich derzeit am meisten beschäftigt, die Europa-Krise. Nein, nicht die griechische Schulden-Schlamperei. Sondern Italien, wo man beobachten kann, wie die Demokratie die Demokratie abschafft, Monat für Monat ein Stück mehr. Europa schaut stirnrunzelnd oder amüsiert zu. Und die CDU sitzt fröhlich mit der, vereinfacht gesagt, Mafia-Partei in einer Fraktion im Europa-Parlament. Nein, pfeift der leise Ton im Trommelfell, reg dich nicht auf, du hast schon zwei-, dreimal darüber geschrieben, mehr musst du dazu nicht sagen, wozu gibt es Webseiten.
Zweitens, ich werde Ihnen und meinen Ohren auch nicht den Tort antun und aus den 199 weiteren Krisenherden der deutschen Politik eine handverlesene Auswahl aufblättern, nein. Oder die Gedanken bis Afghanistan marschieren lassen, das zum Schlachtfeld für Besserwisser aller Richtungen geworden ist. In einen Krieg, der nicht zu gewinnen ist und der unserer Gesellschaft eine Glaubwürdigkeitskrise bescheren wird, die irritierender sein wird als die Finanzkrise (siehe die Niederlande). Denn hier stecken alle in der Falle, die Jasager genauso wie die Neinsager. Und leider bin ich immer noch kein Zyniker, der sich zurücklehnen könnte und beobachten, wie die Generation der Anti-Achtundsechziger, die immer gern gespottet hat über das emotionalisierte Interesse der Achtundsechziger am Vietnamkrieg, heute über einen Krieg entscheiden muss, der nicht weniger langwierig und grausam sein wird, aber nicht mit einem „Amis raus!“ oder „Deutsche raus!“ zu lösen ist. Nein, Schadenfreude ist nicht angebracht, wenn die Anti-Achtundsechziger Politiker und Journalisten die Achtundsechziger beneiden werden um die Leichtigkeit des Neins – vor vierzig Jahren.
Vorsicht, um diese steinigen Felder mach bitte einen Bogen, pfiff der Tinnitus. Fange bei dir selber an.
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Im Jahr 1998 verfasste der Autor, der hier spricht, ein kurzes „Selbstporträt mit Schimpansen“, das unter anderem folgenden Gedanken enthielt: Er sei einer „aus der Generation, die es so gut hatte wie keine vor ihr und so gut, wie es keine nach ihr haben wird“. Nein, das war keine Beschwörung kommender Krisen, die heute gern fixiert werden auf den 11. September Nulleins und den 15. September Nullacht. Eher der Versuch, nicht immer von der eigenen Lage her zu urteilen und den Blick auf die Realitäten möglichst frei von Eigeninteressen zu halten. Vielleicht ein instinktives Vortasten hin zu einer Einsicht, die sich heute langsam herumspricht und die Harald Welzer in die Formel gefasst hat: „Heute, zum ersten Mal in der Geschichte, gibt es die Ahnung: Die Gegenwart ist besser als die Zukunft.“ Welzer begründet das nicht katastrophistisch, sondern nüchtern ökonomisch: „Unser System war erfolgreich, weil es seine Rohstoffe von außen bezogen hat. In dem Augenblick, in dem sich dieses Wirtschaftsprinzip globalisiert, geht es zugrunde, weil eine globalisierte Welt kein Außen hat.“ (SZ 19.9.09)
Ein anderes Argument, weshalb es kein Wachstum mehr geben wird und Wachstumsversprechen glatte Lügen sind, liefert heute jeder bessere Volkswirt oder Wirtschaftsredakteur, sogar in der FAZ: „Ab einem Verschuldungsgrad von 90 Prozent (den wir in Deutschland erreicht haben) sinkt das Wirtschaftswachstum um ein Prozent … Entweder wachsen die Staatsschulden munter weiter; dann wird der Wohlstand der Menschen mittelfristig durch Schuldendienst und Inflation entwertet. Oder aber, was besser ist, die Staaten kürzen ihre Ausgaben. Dann kostet das auch Wachstum.“ (Hanke, FAS 10.1. 10)
Als ich an dieser Stelle überlegte, ob ich schreiben sollte „Es geht also eher abwärts als aufwärts mit dem Wachstum. Die Frage ist nur, in welchem Neigungswinkel. Und ob die Mehrheit der Verdränger erlaubt, dass wir uns darauf vernünftig einstellen“, da begann wieder die kleine Tinnitus-Sirene in den Ohren zu heulen: Lass das, lass das, verlier dich nicht in Gruselgeschichten. Bleib gelassen …
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Denn: Krise ist immer. Und das Reden über Krisen ist kaum weniger banal ist als die Krisen selbst. An Krisen mangelte es nie, wird es nicht mangeln. Krisen sind der Normalzustand. Also kein Grund, hysterisch zu werden.
Oder kennt jemand von Ihnen, meine Damen und Herren, einen Sektor, eine Branche, einen Landstrich, wo die Verhältnisse so stabil sind wie sie vorgeben zu sein? So verlässlich solide, wie sie von Chefs und PR-Beratern dargestellt werden? Ökonomisch vernünftig, politisch fair, menschenfreundlich, schmalbürokratisch? Wo immer man hinter Fassaden, unter Teppiche, in die unverfälschten Bilanzen schaut: Brüche, Risse, Hohlräume, Attrappen, Intrigen, lächerliche Rivalitäten, Abgründe, und seien es Abgründe an Inkompetenz. Es müssen gar nicht immer Korruption und Betrug oder Bestechung mit und ohne Boni ins Spiel kommen. Obwohl der krisenstiftende oder krisenstimulierende Betrug umso wahrscheinlicher wird, je höher die Beträge sind, um die gehandelt wird.
Wo Risiko ist, da ist Krise. Und wo kein Risiko, da erst recht. Neu scheinen uns nur die Dimensionen, die Summen, die Nullen, die selbstverständliche, lässige Rede von den unvorstellbaren Milliarden. Aber sehr viel anders wird es den Leuten im 17. Jahrhundert in Amsterdam auch nicht gegangen sein, als die große Krise ausbrach, nachdem die Gier auf Tulpenzwiebeln diese so teuer gemacht hatten, dass eine Tulpe so viel wert war wie ein ganzes Haus. Neu ist, zumindest für unsere Generationen, dass aus dem vor kurzem noch so strotzend stabil scheinenden Wirtschaftssystem nun, erkennbar für alle, ein morbid labiles geworden ist.
Warum aber sind Krisen Normalzustände geworden? Vielleicht, weil es vor lauter Krisen gar keine sogenannte Normalität mehr gibt oder die Gesellschaften sich nicht mehr auf Normen für das sogenannte Normale einigen können. Weil immer mehr Räume frei werden für Egoismus? Weil, wo Verantwortung regieren sollte, Bürokratie herrscht?
„Die Finanzkrise eine Finanzkrise zu nennen, ist eine schamlose Verharmlosung … Vielleicht ist es eine Krise unseres Blicks, eine ästhetische Krise in dem Sinne, dass wir das Sehen wieder lernen müssen.“ (Armin Nassehi, FAZ 17.6. 09) Vielleicht, ergänze ich, sind Scheinwelten, Scheinzahlen, Scheinqualitäten (und „Scheinriesen“, wie Michael Ende weise vorhergesehen hat) für eine infantilisierte Menschheit einfach attraktiver sind als die grauen Realitäten.
Gustav Seibt erklärt das so: „Die oft diagnostizierte Umstellung des kapitalistischen Systems von Arbeit auf Konsum – letztlich eine Auswirkung des historisch wohl vorübergehenden, auf dem Öl basierenden Energieüberflusses vor allem seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts – diese Umstellung hat langfristig einen neuen Menschentypus herausgebildet. Das sind wir, die schwerelosen, heiteren und leichtsinnigen Bürger der Wohlstandszonen auf der nördlichen Hemisphäre des Erdballs. Parallel zur Entfaltung dieses leichtfertigen Menschentypus entwickelte sich eine ganze Branche, die von solcher Leichtfertigkeit profitierte. Die Leute zum Schuldenmachen zu überreden, wurde zu einem eigenen Geschäftszweig…“ (SZ, 23.9.08)
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Jeder halbwegs informierte Mensch weiß: die Finanzkrise ist nicht vorbei, sie fängt erst an. Die Krisen werden sich eher potenzieren als minimieren. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass die wichtigsten Probleme in absehbarer Zeit nicht gelöst werden: die Regulierung der Finanzmärkte, die Regulierung der Klimaveränderungen, der Hochrenditen-Wahn der Wirtschaft, die heikle einseitige Abhängigkeit der US-Wirtschaft von China. Die deutschen Banken besitzen bereits Städte wie Wuppertal oder Oberhausen, die chinesischen Banken einen großen Teil der USA. 1989 dachten wir: Hurra, die Mauer ist weg! Heute sind die Mauern wieder aufgebaut, zum Beispiel mitten durch das Mittelmeer und und um Israel. Während die Mafiosi aller Welt die Finanzzentren unterwandern, zum Beispiel in London, wie der oberste Mafia-Bekämpfer Italiens, Oberstaatsanwalt Roberto Scarpinato, feststellt. Er schreibt: „Das Ende des Kalten Krieges und der Mauerfall haben nicht den erhofften weltweiten Triumph der Demokratie zur Folge gehabt, sondern im Gegenteil die Welt als Makrosystem ins Ungleichgewicht gebracht. Es sind riesige rechtsfreie Räume entstanden, in denen starke Kräfte auf legale und illegale Weise den Zustand der Anarchie für ihre Interessen ausnutzten. Das Resultat ist, dass die Wirtschaft der Politik den Rang abgelaufen hat. Deshalb sind weltweit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr. … Man feiert den Triumph des globalen Kapitalismus, an dem die Mafia und das internationale Verbrechen entscheidenden Anteil nehmen.“ (FR 8.2.09)
Vor einem Jahr hofften Optimisten ja noch auf die Lernfähigkeit der Geldhändler, Anleger und Abzocker, auf Zähmungen der menschlichen Neigung zur sogenannten Gier, auf die Ächtung der Schuldenmacherei, auf Spielregeln für die international agierenden Anarchisten, auf neue Kulturen der Bescheidenheit. Nichts davon oder fast nichts ist geschehen. Auch weil die Politik zu schwach ist oder zu plump und immer wieder einknickt vor der Macht oder der Gerissenheit der Wirtschaft. Statt auf Zertifikate zielt der ganz große Erwerbstrieb, oft mit dem Wort Gier verniedlicht, nun auf Rohstoffe, was gewiss üblere Folgen haben wird. Und wen wundert es noch, dass die Banken das Geld nicht mehr zum Investieren rausrücken, weil sie mit dem Spekulieren mehr Gewinn machen? Nicht einmal die, wie ich finde, simpelste Bauernregel der Ökonomie hat sich unter den Ökonomen durchsetzen können: Je höher die Renditeerwartung oder das Renditeziel, desto wahrscheinlicher die Pleite. Wohlstand und Wachstum sind bekanntlich auch bei 2 oder 4 oder 6 Prozent gesichert, aber heute meinen die Herrschaften ja zu verhungern, wenn sie nicht 25 % erwirtschaften.
Das alles wird tagtäglich in schriftlicher und mündlicher Form in allen Weltsprachen durchdekliniert und feinkommentiert, da muss ein Schriftsteller auf einer Buchmesse nicht auch noch offene Türen einrennen. Einer, der gut reden hat in seiner vergleichsweise krisenfesten Branche Literatur und Kunst. Aber aus dem rechten Ohr pfeift die Frage: Wie kommt das, dass man sehr schnell altmodisch wirkt, wenn man heute vorsichtig erinnert an die alten, neuen Ideale, die noch gestern in den Sonntagsreden und Pressekonferenzen beschworen wurden? Wenn man neben der Wertschöpfung auch die anderen Werte betont, Vernunft, Verantwortung, Spielregeln, volkswirtschaftliches Denken, Gemeinsinn. Bei jedem dieser Wörter hab ich, egal wie elegant sie ausgesprochen oder flott in business language übersetzt werden, den Verdacht: da lachen die Hühner, wenn sie dich hören, die Betriebswirte. Oder ganze Rudel von Bankern abends in der S-Bahn von Frankfurt nach Bad Homburg. So lange, bis es mir heftig in den Ohren pfeift. Mir, und nicht ihnen.
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Die neuen Schwankungen zwischen Stabilität und Labilität lassen viel Raum für Interpretationen, Spekulationen, Zukunftsgemälde. Also haben Journalisten, Philosophen, Ökonomen, Wissenschaftler und Schreiber aller Fakultäten Hochkonjunktur. Auf Zeitungsseiten, in Fernsehredaktionen, hinter Medien-Kulissen wird munter gekämpft um die Deutungs-Hoheit und das Kommentier-Privileg über die Krisen. Artikel, Essays, Bücher stapelweise Deutungen, Erklärungen, Vorschläge, wohin man schaut. Ja, das Neue an der neuen Labilität will verstanden und interpretiert werden. Die Suche nach Orientierung, wegweisender Vernunft und minimalen Sicherheiten, ist verständlich. Auch diese Veranstaltung, auch diese Anmerkungen, auch mein Ohrensausen verdanken sich dieser Konjunktur.
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Eins allerdings hat die bisherige Krisendeutungskunst übersehen: Wird von Krise geredet, schwindet der Humor.
Denn das erste Opfer der Krise ist nicht, wie eine leichtfertige Plattitüde es vom Krieg behauptet, die Wahrheit, sondern der Humor. Niemand scheint die Komik zu bemerken oder zu bedenken, die darin liegt, dass die Finanzkrise eine Folge des Überflusses ist, des Überflusses an Geld, an Kapital. Die Labilität des Wirtschaftssystems kommt nicht daher, dass in den Gesellschaften zu wenig Geld vorhanden wäre, also aus Not, sondern daher, dass zu viel da ist. Und dies Geld ist auch noch viel zu billig zu haben, für ein Prozent, mehr oder weniger. Eine Labilität, die wir den Reichen und Wohlhabenden verdanken, die nicht wissen, wohin mit ihrem überflüssigen oder für unsichere Zeiten zurückgelegten Geld. Ist das nicht ein erheiternder, spannender Punkt: Der Reichtum ist das Problem Nummer eins, das überflüssige Geld, das in der Welt zirkuliert und fleißig da eingesetzt und investiert wird, wo es in aller Regel am Ende die Ärmeren ärmer und die Reicheren reicher macht und manchmal auch nicht, ein alter Hut. Aber neu ist, dass das überflüssige Geld inzwischen auch den durchschnittlichen Wohlstand in den hochentwickelten Gesellschaften senkt, zum Beispiel Reallöhne und Realgehälter fallen lässt, in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren bei der Hälfte aller Berufe.
Zweihundert Jahre Kapitalismus, und die Leute, die ständig mit Geld umgehen, können immer noch nicht vernünftig mit Geld umgehen, weil sie meinen, immer noch nicht genug zu haben. Deswegen ist die Finanzkrise eigentlich eine Komödie, eine ziemlich simpel gestrickte Komödie, 34 Millionen Leute weltweit, die vor 2008 noch Arbeitsplätze hatten, dürfen sich die Komödie jetzt auf den Bildschirmen ansehen. Die Quoten steigen, wie schön!
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Und da ist noch ein zweiter komischer Aspekt:
Was früher die Marxisten wollten, die Verhältnisse zum Tanzen bringen, erledigen heute die Betriebswirte. Fachidioten, die nicht unterscheiden können zwischen Kostensenkung als einem wirtschaftlich sinnvollen Ziel – und Kostensenkungswahn. Die nicht unterscheiden zwischen Größe als einem wirtschaftlich sinnvollen Ziel – und Größenwahn. „Spezialisten der Geldvermehrung landen in Führungspositionen, deren sozialen, menschlichen und kulturellen Anforderungen sie in keiner Weise gewachsen sind“ (Martin Suter). Hochstapler, die mit Zahlen jonglieren, nicht mit Waren, Dienstleistungen, nicht mit dem Kapital der Ideen, Fähigkeiten, Erfahrungen. McKinsey-Buben, Exponenten der rücksichtslosen Gewinnmaximierung, der Hochrenditen, die der Ideologie der unbedingten Kostensenkung verfallen sind, aber volkswirtschaftlich nicht bis drei zählen wollen oder dürfen.
Darum tanzen und wanken die Verhältnisse, von innen her, sie erodieren und implodieren. Krisen entstehen überall da, wo solche BWLer und Controller nicht mehr dem Geschäftszweck untergeordnet arbeiten, sondern als Entscheider sich austoben und „rationalisieren“, etwa bei der Weichenwartung, bis nichts mehr richtig funktioniert, siehe das Beispiel Deutsche Bahn.
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Wer die Krisen ernsthaft bekämpfen will, dem würde ich in aller Heiterkeit als erstes ein einfaches Rezept empfehlen, das zwar nicht alle Probleme lösen dürfte, aber doch ein konstruktiver Anfang wäre: Berufsverbot für Betriebswirte!
Ehe der Chor der Betroffenen aufschreit, sag ich schnell noch: das Quantum an Menschenverstand, das es braucht, eine Firma zu leiten und auf Erfolgskurs zu halten, das kann jeder begabte Kaufmann oder jede dito Kauffrau durch die Praxis lernen und einige Faustregeln und, nebenbei, von dem Erfahrungsschatz der Literatur, zum Beispiel an den dort auftretenden Hochstaplern.
Und dann ruf ich schnell noch, ehe man mich an den Pranger stellt: Ludwig Erhard hat schon gesagt, die Wirtschaft bestehe zur Hälfte aus Psychologie. Heute, meinen sogar Manager, sei man bei 99 Prozent angelangt. Also müsste sowieso mehr Menschenkenntnis gelehrt und gelernt werden als Finanzmathematik. Und wenn man dann aus New York hört, dass der Anteil der psychisch Gestörten und Depressiven in der Finanzbranche dreimal so hoch ist wie in der übrigen Bevölkerung, wenn durch ihre Arbeit gerade die erfolgreichsten Wall Street-Leute „geistig und emotional am meisten gestört“ sind (Spiegel 13/08) und so die ganze Welt finanziell krank machen, wird man ja wohl über die Rettung dieser Kranken nachdenken dürfen.
Und ehe ich gelyncht werde, sag ich schnell noch: als wir viel weniger Betriebswirte in den Betrieben hatten, und viel weniger Betriebswirte die entscheidenden Entscheider waren, da ging es der Wirtschaft doch sehr viel besser, oder etwa nicht?
Wenn die Betriebswirte nun protestieren, sie seien unschuldig, das Investment-Casino mit den immer neu zusammengewürfelten Finanzprodukten der Banken werde heutzutage von Mathematikern betrieben, dann sollen sie die, wenn sie Absolution wollen, vorher rausschmeißen, oder nicht?
Und wenn die Betriebswirte darauf verweisen, auch die Volkswirte wüssten nicht weiter, nicht einmal die Spitzenleute in der noblen Vereinigung amerikanischer Ökonomen, inclusive mehrerer Nobelpreisträger? (FAS 10.1.10) Dann sag ich: aber die geben es wenigstens zu.
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Meine Damen und Herren, Sie wissen, es steht nicht in meiner Macht und es gehört nicht zu meinen Vergnügungen, Verbote auszusprechen. Ich möchte nur daran erinnern, dass man in der Bundesrepublik vor rund vierzig bis dreißig Jahren schon einmal ein Berufsverbot praktiziert hat. Für den öffentlichen Dienst, z.B. als Lehrer, wurde nicht zugelassen, wer angeblich oder tatsächlich nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stand, was vor allem für junge Leute galt, die von Marx mehr hielten als von Schumpeter, von Arbeitern mehr als von Unternehmern. Wenn es einem mit der Verfassung ernst ist und man diese harmlosen, oft auch verbohrten Leutchen damals vergleicht mit denen, die heute mit ihrem Hochrendite-Wahn die Demokratie tatsächlich in Gefahr bringen, die Verfassung unterwandern, die freiheitlich-demokratische Grundordnung mit unverschämtesten Lobbyismus der Lächerlichkeit preisgeben, mit dem Anhäufen von Schuldenbergen des „Raubs an den Enkeln“ (FAS, 27.12.09) schuldig sind und den Kindern schon heute die Grundrechte der Zukunft beschneiden – dann drängt sich der Gedanke an ein Berufsverbot für solche Verfassungsfeinde auf, nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern zumindest überall da, wo öffentliche Gelder im Spiele sind, und wo sind sie das nicht.
Meine Damen und Herren, nun sehe ich die deutliche Frage in Ihren Gesichtern, ob der Mann da vorn das irgendwie ernst meint oder ob Schriftsteller immer auf so naive Weise spinnen. Die Antwort kann und will ich Ihnen nicht abnehmen. Vielleicht finden Sie die in der Zeitung, so wie ich.
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Kurz nachdem dies skizziert war, stand in einem Kommentar des Tagesspiegel die Formulierung „staatszersetzender Koalitionspartner“, darunter die Sätze: „Noch stehen die meisten Bürger zu diesem Staat. Aber wenn es nicht gelingt, die Zinslast wieder zu verringern, dann wird diese breite Zustimmung früher oder später verschwinden und mit ihr die Stabilität des ganzen Landes.“ (12.1.10)
Bald darauf sah ich mich bereits an der Seite des französischen Staatspräsidenten Sarkozy, der in Davos Folgendes gesagt hat: „Der absolute Glaube an den Markt und den kurzfristigen Gewinn habe ‚die Demokratie beschädigt‘ und dazu geführt, ‚dass nur die Gegenwart zählte und die Zukunft nichts galt.‘“ (Tsp 31.1.10)
Und gleich daneben die Begründung aus einer aktuellen wissenschaftlichen Studie: „Konstatiert werden ‚Desintegrations- und Abwertungsprozesse‘ als Folge der Krise. So hat sich der Anteil der Deutschen, die glauben, im Vergleich zu andern benachteiligt zu sein, deutlich vergrößert. Und während das Gefühl politischer Machtlosigkeit in Ostdeutschland schon länger vorherrscht, ist es nun auch in Westdeutschland signifikant gestiegen. ‚Die Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben‘, sie suchen nach Sündenböcken. Je größer das Empfinden ist, in Zeiten sinkender Normalarbeitsverhältnisse selbst Opfer der Verhältnisse zu werden, desto stärker scheint auch die Bereitschaft zu einer ‚gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘, die sich gegen die ‚Banker‘ oder ‚Amerika‘, aber auch generell gegen Ausländer oder Muslime richten kann.“
Und noch vier Tage später sprang mir sogar ein gewisser Peter Gauweiler bei. Der alte Haudegen der CSU forderte in einem längeren Beitrag in der Süddeutschen Zeitung (4.2.10) einen „Erlass gegen Extremisten und Radikale im Bankgewerbe“. Nach deutschen Gesetzen sei das relativ einfach zu machen. Ein solcher Radikalenerlass würde bedeuten, dass Banken und Banker „bei Ausführung hochriskanter Geschäfte … die Banklizenz verlieren müssten, da sie die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ins Wanken bringen können.“
An Begründungen wäre also kein Mangel, und ich muss den alten Satiriker in mir bremsen, die weiteren Vorteile eines solchen Berufsverbots für Betriebswirte aufzuzählen, inclusive der damit erreichbaren Spareffekte für Staat und Wirtschaft. Ich will es mit einer Drohung bewenden lassen. Nebenbei, mein Krisen-Tinnitus hat sich dank dieser Idee schon ein wenig beruhigen lassen.
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Wenn die Geldmenschen schon nichts lernen aus der Krise, dann ist den Wortmenschen das Lernen ja nicht verboten. „Man darf sich von der Macht der anderen nicht dumm machen lassen,“ so zitiert Alexander Kluge Adorno, „und man darf sich durch die eigene Ohnmacht nicht dumm machen lassen.“
Überall da, wo mit der Dummheit gehandelt wird, wo mit Derivaten, Zertifikaten, Blasen, Quotengier, Bestsellergier, kurz, wo mit Leere, mit leeren Versprechungen, gerade auch in der Politik, mit Hohlräumen, mit Nullen oder Null-Informationen oder Nullgeschwätz, wo mit Illusionen und Lügen gehandelt wird, wo Quantität mehr zählt als Qualität, Bildungs-Leistungspunkte mehr zählen als Bildung und Leistung, war Krise oder ist Krise oder wird Krise sein. Und das ist, um es flapsig zu sagen, auch gut so.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein Gesellschaftsspiel für Demokraten anregen, allein oder in beliebiger Gemeinschaft zu fragen: Wo sind, wo entstehen, wo lauern, wo wünschen wir, wo brauchen wir Krisen und wo vielleicht lieber doch nicht?
Ich mach mal den Anfang und gebe ein konkretes Beispiel für eine Krise, die ich mir wünsche. Auch diese Buchmesse steht im Zeichen einer Mode, der Mode der Vampir-Bestseller. Diese Literatur gibt es schon lange, aber so wie heute haben die Vampir-Romane noch nie die Buchhandlungen und Bestsellerlisten besetzt. Das kann kein Zufall sein. Ich vermute hier eine indirekte Verbindung zur Finanzwelt und zur Finanzkrise. Vampire sorgen, wenn ich recht informiert sind, für Ungleichheit bei der Verteilung von Blut, von Lebenssaft. Alle Menschen haben ungefähr die gleiche Menge Blut, Vampire aber zapfen anderen Lebenssaft ab und erhöhen ihre eigene Menge dieser kostbaren Flüssigkeit. Einige bekommen immer mehr, viele behalten immer weniger. Auch wenn die Menschen nicht mit ähnlich hohen Geldkonten auf die Welt kommen, das Festbeißen, Aussaugen, Abzapfen, Ausleeren ist das Kerngeschäft der Finanzwelt und der Vampirwelt. Vampire werden uns in diesen Schwarten als gute, liebesdurstige, ja bessere Menschen verkauft. Diese Motive wiederholen sich unendlich, bis bald auch die letzten Leser von den immer ähnlichen Zapf-Stories genug haben, so wie sie heute von den Finanzhaien genug haben. Die Krise der Schrottpapiere der Vampir-Zertifikate wird bald kommen, dieser Markt ist völlig überhitzt. Egal, ob danach die Heuschrecken-Romane die Verkaufslisten erobern, ich freue mich schon heute auf die Vampir-Bestsellerkrise, und solche bescheidenen Freuden lassen mein leises Pfeifen im Ohr immer leiser werden und nach und nach verschwinden.
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Eins ist sicher, die Vampir-Bestseller werden eher verschwinden als die Vampir-Betriebswirte. Aber weil die Entscheidung über ein weltweites Berufsverbot für Betriebswirte sich vielleicht noch etwas hinziehen wird, will ich, gutwillig und konstruktiv wie immer, eine Zwischenlösung vorschlagen. Oder einem Kompromiss zustimmen, den ein Wissenschaftler aus einer höchst neutralen Disziplin unterbreitet hat, der Soziologe Armin Nassehi in der FAZ vom 17.6.2009:
„Vielleicht sollte man dem Führungsnachwuchs in den wohlklingenden neuen Studiengängen nicht nur jene skills beibringen, mit denen man sich in den selbsterzeugten Welten so geschmeidig bewegt, dass das Fragile nicht mehr auffällt. Vielleicht sollte man sie nicht sicherer machen, sondern unsicherer. Vielleicht sollte man sie – ganz bürgerlich – stattdessen in Museen und Galerien schicken, in Opernhäuser und Konzertsäle, in Kunstwerkstätten und Bibliotheken. Nicht Künstler sollen sie dort werden, aber sehen, wie sich Dinge dadurch formen, dass sie gemacht werden müssen, und dass nichts notwendig so ist, wie es ist. Nachdem wir uns nun kollektiv so viele Milliarden leisten können und müssen, um aus der Krise zu kommen, sollten wir uns auch diese altmodische, bürgerliche Tugend leisten können und den High Potentials eine ästhetische Schule des Blicks angedeihen lassen – damit man sehen kann, was man nicht sehen kann. Und vielleicht liegt die Stärke dieses Vorschlags zur Rettung der Welt nicht darin, dass er so naiv ist. Naiv sind derzeit viele Vorschläge. Die Stärke liegt vielleicht darin, dass er um seine Naivität weiß.“
Zitat Ende. Tinnitus Ende, hoffentlich. Ich danke Ihnen.