Friedrich Christian Delius, FCD

Heiner Müller

Heiner Müller – Zwischen Dschuhs und Whisky

Die Entstehung einer Werkausgabe

„Dschuhs“, sagte Müller auf die Frage des Kellners, was er trinken wolle. Der Kellner verstand nicht, und Müller wiederholte, deutlicher: „Dschuhs!“ Als auch das nichts nützte, übersetzte ich dem Kellner, was der DDR-Bürger wünschte, „Saft, Orangensaft“. Der eine konnte nicht wissen, daß sich die DDR mit dem Import von englischen Begriffen für einfache Dinge wie „Saft“ oder „Brathuhn“ den Anschein von westlicher Weltläufigkeit verschaffen wollte. Der andere wußte noch nicht, daß diese Begriffe im Westen nicht verstanden wurden oder als besonders provinziell galten.
So fing die Geschichte an, die mich zum Müller-Schmuggler machte. Wir saßen mit Karlheinz Braun vom Verlag der Autoren und Klaus Wagenbach in einer Gaststätte im westlichen Berlin nicht weit vom Schiller-Theater, wo Der Horatier vorbereitet wurde, etwa im Dezember 1972. Der Frankfurter Verlag der Autoren vertrat Müllers Stücke in der Bundesrepublik und versuchte, den Verleger und den Lektor des Wagenbach Verlags zu einer Publikation dieser Stücke zu animieren. Klaus Wagenbach war skeptisch, wie meistens. Mich interessierte dieser Autor, von dem ich damals vielleicht zwei, drei Stücke gelesen hatte, – auch deshalb, weil er ähnlich schüchtern war wie ich. Freundlich eigensinnig. Bescheiden, beharrlich. Witzig, leise. Ich ahnte nicht, welche Schätze er in seinen Schubladen hatte.
Es war die Zeit, in der Müller noch als „junger, begabter“ Dramatiker und schon als schwierig, unspielbar gehandelt wurde. In der DDR war er unerwünscht oder angefeindet, und im Westen fingen einzelne Theaterleute an, sich für die Stücke zu interessieren – nicht zuletzt deshalb, weil ihr Autor in der DDR so gut wie nicht gespielt wurde. Und weil Karlheinz Braun unermüdlich für Müller trommelte. Die zwei Bücher, die es von ihm gab, waren Ladenhüter. Sogar in der DDR: Ödipus Tyrann, 1969 bei Aufbau erschienen, konnte man noch Jahre später kaufen. Und bei Suhrkamp lag Philoktet/Herakles 5, für 3 DM zu haben, wie Blei. Gewinn und Ruhm waren mit Müller oder gar mit einer Müller-Edition nicht zu erwarten.
Erst nach der Gründung des Rotbuch Verlags (infolge des Krachs mit Wagenbach im Frühjahr 1973) nahm ich, mit Rückendeckung des Verlags-Kollektivs und mit Hilfe von Kurt Bartsch, wieder Kontakt zu Heiner Müller auf, und nach einigen Besuchen am Kissingenplatz in Pankow waren wir uns im November 1973 einig: Wir publizieren nach und nach, beginnend im Frühjahr 1974 mit Geschichten aus der Produktion 1, eine Werkausgabe nach dem Vorbild der Brechtschen Versuche, also Texte in produktiver, reibungsstarker Reihenfolge und nicht im Käfig der Gattungen. Sieben Bände oder mehr. Das Ergebnis ist bekannt.
Skepsis überall, als wir begannen („Einer, der Müller heißt und Stücke schreibt, ist nicht zu verkaufen. Noch dazu Heiner! Unmöglich“, hieß es im Buchhandel). Von wenigen begeisterten Theaterleuten abgesehen, waren die Rezensenten anfangs sehr zurückhaltend. Manchen Kritikern versuchte ich Mut zu machen: „Paßt auf, der kriegt noch mal den Nobelpreis.“ Die Werkausgabe wuchs, mehr und mehr Stücke waren im Westen und dann das eine oder andere auch in der DDR zu sehen. Allmählich konnten der Rang und die Genialität Müllers von der literarischen Öffentlichkeit nicht mehr ignoriert werden. Der Aufstieg von einem fast ungespielten Stückeschreiber der Provinz DDR zum Weltautor dauerte – begünstigt auch durch die Ost-West-Gegensätze – nicht länger als fünf, sechs, sieben Jahre.
Zu lektorieren gab es an Heiners Texten so gut wie nichts. Sie standen wie gestanzt auf dem dünnen, holzhaltigen Papier, oft mit handschriftlichen Korrekturen oder Streichungen. Hin und wieder machte ich Vorschläge, da ein Komma zu setzen, dort ein Adverb zu streichen, hier ein Präfix zu präzisieren, viel mehr zu tun wäre mir als Anmaßung erschienen.
Arbeit blieb genug – die komplizierte Rechtslage, die Suche der Bilder, die Auswahl der Texte. Dazu immer wieder neue Abwägungen, wann und wie mit einer Behörde (wie dem „Büro für Urheberrechte“, der Zensurbehörde für das „Ausland“) zu kooperieren sei, wann und wie sie ignoriert werden sollte. Wenig konnte brieflich fixiert werden, am Telefon sprachen wir nur Termine ab. Zuverlässigkeit war Müllers Stärke nicht. Alles mußte direkt besprochen, nichts durfte der Post (also der Stasi) überlassen werden. Fünf Jahre lang fuhr ich mindestens zwei Mal im Monat über die Grenze, um mit Heiner diese Kleinarbeit voranzubringen. Die Zusammenstellung jedes einzelnen Bandes war zu besprechen, die verborgenen Kommentare und Kontraste der Texte untereinander. Besonders bei der Kurzprosa und den Gedichten fragte Heiner immer wieder: „Taugt das was? Können wir das bringen?“ Die meisten dieser kleineren Texte (von Bilder bedeuten alles am Anfang bis Todesanzeige), aber auch die Hamletmaschine und vieles mehr trug ich im Rücken zwischen Hemd und Haut über dem Gürtel versteckt über die Grenze. Es empfahl sich, auch die bereits „genehmigten“ Texte, die vom Henschel Verlag als Bühnenmanuskripte gedruckt waren, am Körper über die Grenze zu bringen – man ersparte sich damit Verhöre und Scherereien. Als Schmuggler bin ich nie erwischt worden, die Zöllner filzten im allgemeinen nur das Auto, Taschen, Mäntel. Und fünf Minuten vor Mitternacht, hoffte ich, fingen sie keine Leibesvisitation mehr an. Angst hatte ich selten, trotzdem bekam das dünne Papier der Manuskripte jedesmal etwas Rückenschweiß ab.
Ich traute Heiner. Auch in den wilden Zeiten nach der Biermann-Ausbürgerung 1976. Von seinen literarischen Urteilen habe ich viel gelernt, und ihm verdankt der Rotbuch Verlag Autoren wie Thomas Brasch, Paul Gratzik, Stefan Schütz. Es war ein Vergnügen, ihn über Gott und Welt und alles reden und Witze machen zu hören – lange vor den Interviews, die ihm später Extraportionen Ruhm eintrugen. Wie alle, die ihn besuchten (und die Besucherfrequenz verdoppelte oder verdreifachte sich zwischen 1973 und 1978), bewunderte ich, wie er Probleme und Gedanken verknappte und vom Kopf auf die Füße stellte. Ich kannte einige DDR-kritische Autoren in Ost-Berlin, keiner schien mir so illusionslos und antiideologisch wie Heiner. Selbst wenn er wieder einmal trotz aller Versprechen einen Text nicht fertig hatte – immer verließ ich seine Wohnung, ob mit oder ohne Whisky im Kopf, heiterer als ich gekommen war.
Das Wort „juice“ habe ich nie mehr von ihm gehört. Immer öfter aber „Whisky“. Da gab es keine Mißverständnisse, erst recht nicht im westlichen Berlin.

(Akademie der Künste Berlin. Ausstellungskatalog Heiner Müller, 1998)

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