Georg und Anneliese Groscurth
Die Verlegenheit vor den Guten – Georg und Anneliese Groscurth, Robert Havemann, Paul Rentsch, Herbert Richter
(Gedenkfeier Yad Vashem in der Botschaft Israels am 19. Juni 2006)
Wenn Menschen sich versammeln, um andere Menschen auszuzeichnen, die sich, wie wir zu sagen pflegen, menschlich verhalten haben, dann hat das leicht etwas Befremdliches, zumindest etwas Steifes. Es gibt – aus guten Gründen – eine Verlegenheit vor dem Guten und vor den Guten. Wie soll man auftreten und was soll man sagen, wenn wie hier fünf Menschen geehrt werden, die in finstersten Zeiten offenbar zu den Ausnahmen gehörten, obwohl sie für uns hier keine Ausnahmen waren, sondern Vater oder Mutter oder Mann oder Verwandte oder Freunde, die sich gegenüber anderen Menschen nichts weiter als normal, also hilfsbereit, anständig, freundlich, solidarisch benommen und dafür ihr Leben riskiert haben?
Heute werden Georg Groscurth, Robert Havemann, Paul Rentsch, Herbert Richter und Anneliese Groscurth von Yad Vashem mit der Aufnahme in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“ geehrt. Das wird jeden Angehörigen und jeden, der diese Menschen gekannt oder sich mit ihnen beschäftigt hat, mit tiefster Freude und Dankbarkeit erfüllen. Nach über sechzig Jahren ein weiterer, sicher der ehrenvollste Schritt der Rehabilitierung der Widerstandsgruppe „Europäische Union“.
Das Wort Widerstandsgruppe führt leicht zu Missverständnissen. Es ist wichtig zu betonen, dass die Geehrten schon lange, einige Jahre vor der formellen Gründung der EU, die erst im Juli 1943 erfolgte, im Sinn der heutigen Auszeichnung tätig waren:
Juden verstecken oder Verstecke für sie organisieren, Lebensmittel für die Versteckten beschaffen, falsche Papiere für sie besorgen oder die in ihren Verstecken tagsüber Eingesperrten mit Dia-Abenden aufmuntern, andere unter falschem Namen ärztlich behandeln, das gehörte fast zum Alltag dieses Freundeskreises, zu dem wir auch die tapferen Frauen Antje Havemann, Grete Rentsch und Maria Richter zählen dürfen. Außerdem horchten sie hohe Nazis aus, halfen jungen Männern, bei der Musterung der Wehrmacht durchzufallen, oder jungen Frauen, die von der Gestapo gesucht wurden, weil sie Juden versteckt hatten.
Erst im Juli 1943, nach Mussolinis Sturz, formierte sich der Viererkern zur“Europäischen Union“. Sie wählten diesen Namen, weil zumindest Havemann und Groscurth sicher waren, dass ein antinazistisches Deutschland nur in europäischer Kooperation aufgebaut werden könne. Nun halfen sie auch Widerstandsgruppen ausländischer Zwangsarbeiter, formulierten in Flugblättern ihr Programm, usw. – und suchten weiterhin verfolgte Einzelne zu verstecken und zu retten.
Ihnen, die Sie hier sitzen, meine Damen und Herren, brauche ich die Einzelheiten dieser vielfältigen Aktionen der „Gerechten“ nicht auszubreiten, vieles davon kennen Sie, anderes ist in der Autobiografie von Robert Havemann, dem verdienstvollen Buch von Simone Hannemann „Robert Havemann und die Europäische Union“ und in meinem Roman leicht nachzulesen.
Dieser beginnt mit einem Motto von Imre Kertész, ein Zitat aus „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ – und ich erlaube mir das hier zu zitieren, weil es mitten in unseren heutigen Nachmittag führt: „Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute.“
Das Gute, sagte ich, bringt uns in Verlegenheit – oder die Guten bringen uns in Verlegenheit. Nicht nur, weil hier in Deutschland Menschen, die sich Mühe geben, nicht nur an sich und ihren Besitz zu denken, also die Scheuklappen des Egoismus zu überwinden, von feuilletonistischen Zeitgeistvertretern gern als Gutmenschen denunziert werden. Sondern weil die, die wir „Gerechte“ oder „Gute“ nennen dürfen, ja selbst immer wieder betont haben, dass sie nur das Normale, das Selbstverständliche getan haben.
Es gab keine Helden in der „Europäischen Union“ und ihrem Umkreis, keine heroischen Einzelfiguren, keine großartigen Kämpfer des Widerstands. Es war eine Gruppe von anständigen Leuten, die sich aufeinander verlassen konnten, eine eher lockere Gruppe mit politischem Verstand, guten Nerven und Instinkt, die zu ihrem Mut auch noch Glück hatte – aber das leider nur bis zum Sommer 1943.
In Georg Groscurths Abschiedsbrief an seine Frau, geschrieben am Tag seiner Hinrichtung am 8. Mai 1944, steht gegen Ende die Zeile „Denke daran, daß wir für eine bessere Zukunft sterben, für ein Leben ohne Menschenhaß“. Ein schlichter Satz, und doch ein Schlüsselsatz von zeitloser Gültigkeit. Menschenhass, in diesem Wort steckt das Aktive und das Passive, das Hass-Subjekt und das Hass-Objekt. Warum wählt einer, fünf Minuten vor dem Gang zum Fallbeil, dieses Wort? Nicht, weil er an eine diffuse Nächstenliebe glaubte. Nicht, weil er dem Alle-Menschen-werden-Brüder-Idealismus verfallen gewesen wäre. Es war vielmehr das deutlichste politische Wort in diesem Moment, das radikalste, das heißt bis an die Wurzeln gehende Widerstandswort.
Denn die ganze Nazi-Ideologie war ja im Kern eine Ideologie des Hasses. Die Nazi-Sprache war durch und durch eine Hass-Sprache. Der Hass, wir wissen es, richtete sich zuerst und zuletzt gegen Juden und gegen alle, die den Antisemitismus und das Morden und das Massenmorden verabscheuten, und gegen alle, die nicht in die albernen Rasse-Klischees passten. Der Hass galt den demokratischen Grundrechten ebenso wie den demokratischen Institutionen.
Mit dem Hass, dem Schüren des Hasses fängt es an. Mit dem geschürten, in Verordnungen, Gesetze und Befehle gegossenen Hass geht es weiter. Mit dem Tod durch Gas oder das Fallbeil oder Panzerkanonen hat der Hass sein Ziel erreicht – und sucht sofort neue Opfer.
Man hat, völlig zu Recht, nicht nur am Beispiel Eichmann, von der kalten Bürokratie bei der Durchführung der Massenmorde gesprochen. Aber darüber sollte man nicht vergessen, dass die Befehle, auch die Befehle am Ende langer Befehlsketten und auch in den Formeln der Bürokratie scheinbar versachlicht, einmal einen Anfang hatten: mit Emotionen, mit der Sprache des Hasses.
Wir können die Wucht der Sprache des Menschenhasses noch heute spüren – an dem Urteil des sogenannten Volksgerichtshofs vom 16. Dezember 1943 gegen die vier Männer der „Europäischen Union“. Diese werden unter anderem so klassifiziert: dekadente Intellektualisten, die sich nicht scheuten, feindhörig Auslandsender abzuhören, lebten sich in feigen Defaitismus hinein, Deutschland verliere den Krieg. Oder: Um die Macht an sich zu reißen, gründeten sie die „Europäische Union“, deren zur Schau getragenes Programm vor Kommunismus und angelsächsischer Scheindemokratie kriecht.
Jedes Wort, Sie merken es, ist eine Verurteilung, jedes Wort getragen von Vernichtungswünschen, von der Absage an jede Differenzierung und vom Hass auf jede menschliche Regung. Zitat: sie rüttelten an der Sicherheit unseres Staates dadurch, dass sie Juden falsche Papiere verschafften, die sie als deutschblütig tarnen sollten. Oder: Merkwürdig, was für jüdisches und kommunistisches Pack sich gerade immer bei diesen Angeklagten einfand.
Erlauben Sie, dass ich weiter zitiere? Es wird noch grausiger. Wie schamlos die Gesinnung der vier Angeklagten ist, ergibt sich auch daraus, daß sie geradezu systematisch illegal lebende Juden unterstützten, ja sogar mästeten.
Mir scheint es wichtig, hin und wieder solche Sätze aus den Akten herbeizuholen, weil man hier in einem einzigen Satz die ganze Brutalität eines Verbrecher-Regimes erfassen kann. Darin steckt ja mehr als die Verhöhnung der Verfolgten und ihrer Helfer. Und mehr als die Schamlosigkeit der Verbrecher. Solche Sätze sind ja nicht vom Himmel gefallen oder sagen wir besser aus der Hölle heraufgeweht, sondern sie haben Verfasser mit Namen und Adresse. In diesem Fall die Herren Freisler und Rehse. Gebildete, zumindest ausgebildete Juristen, der unbekanntere von beiden Kammergerichtsrat und überdies Pfarrerssohn, und natürlich mehr als parteitreu, von Hitler persönlich an den Volksgerichtshof berufen. In dem Prozess gegen „Havemann und andere“ ist Rehse der Berichterstatter gewesen, er hat überlebt, durfte in den fünfziger Jahren wieder amtieren, war dann der einzige Nazirichter, gegen den ein Verfahren eröffnet und durch zwei Instanzen geführt wurde. Rehse wurde schließlich freigesprochen, weil das Schwurgericht am Berliner Landgericht seinem Argument folgte, er habe ja keineswegs das Recht gebeugt, sondern nach seiner damaligen Rechtsauffassung gehandelt. Und nur wegen Rechtsbeugung, so die Rechtslage, könne ein Richter verurteilt werden, sagten seine Richter im Dezember 1968. Eine Revision dieses Urteils war auf dem Wege, doch Rehse starb bald, juristisch unschuldig.
Es scheint so, als hätten die Richter, die Rehse freisprachen, niemals wenigstens eines seiner Todesurteile gelesen. Denn die Beugung des Rechts, damit auch der Sprache des Rechts, ist jedem Satz dieses Urteils anzumerken. Der Hass regiert Wortwahl, Grammatik, Zeichensetzung. Allein dies eine Wort „mästeten“, bei dem sich jedem nicht dem Hass verfallenen Menschen auch nach über sechzig Jahren noch die Haare sträuben, hätte genügen müssen, um seinen Verfasser schuldig zu sprechen.
Die „zweite Schuld“, wie Ralph Giordano das Versagen der bundesdeutschen Justiz vor den Scharen der Naziverbrecher aus den höheren Kreisen und insbesondere vor den tausenden von Nazijuristen nannte, ist heute nicht das Thema.
Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass Groscurth gewiss auch solche Urteilssätze im Ohr hatte, als er, mit gefesselten Händen, fünf Minuten, bevor man ihn abführte, mit einem Bleistift sein Ideal, seinen Wunsch fomulierte, der gewiss auch der Überzeugung der anderen heute Geehrten ausdrückt: ein Leben ohne Menschenhass.
Und danach schrieb er: „Ich habe die Menschen sehr geliebt und hätte sicher noch viel Gutes getan.“
Alle heute Ausgezeichneten hätten diesen Satz unterschrieben – und gewiss auch die hier genannten und die nicht genannten Frauen und Männer, die ihnen nahe standen.
Und wir heute, in ganz anderen politischen Zeiten, spüren sehr deutlich, welch radikales politisches Programm da vor 62 Jahren in der Zelle von Brandenburg formuliert wurde, und stehen verlegen vor dem Anspruch dieser Utopie: „Ein Leben ohne Menschenhaß.“