Friedrich Christian Delius, FCD

Gerd-Peter Eigner

Gerd-Peter Eigner, Lichterfahrt mit Gesualdo

Zwei Freunde reisen von Paris nach Münster – einfacher könnte die Handlung, die sogenannte, eines Romans kaum sein. Sie sind mit einem Transporter voll Umzugsgut unterwegs, sie fahren des Nachts, der eine ein gescheiterter Musiker und erfolgloser Musikschriftsteller, der andere, der Erzähler, am Steuer, ein ordentlicher Westfale, Nahverkehrsunternehmer, sie werden von der Polizei verdächtigt, gestoppt, kontrolliert, fahren weiter durch Belgien ins Rheinland. Das soll ein Roman sein? Ja, und was für einer! Seine Spannung, die sogenannte, bezieht er von einem dritten Passagier, nicht blind, aber unmündig, ein Kind von gut anderthalb Jahren, ein Mädchen in Windeln – das Kind wird entführt.
Selten genug, dass in unserer Literatur Kinder eine tragende Rolle spielen, noch seltener, von einer Entführung ohne jeden sentimentalen Ton lesen zu dürfen. Hier wird das Kind gar zur Triebkraft des Erzählens. Beck, der Musiker, erklärt während der langen Nacht mit Gesualdos Musik, wie das Kind ins Auto kam. Da zeigt sich die Meisterschaft des Gerd-Peter Eigner: Mit sicheren Strichen zeichnet er seine Figuren, beschreibt wie neu die Metropole Paris, den Verkehr, die Katakomben, Lichter, Baustellen, arabischen Viertel und den Himmel über der Stadt, schildert den grotesken Kampf einer auf Sanierung versessenen Hausverwaltung gegen einen Mansardenbewohner, weiß mit Feinheit über Musik und ihre Verlockungen zu sprechen und moduliert den Gesang einer jungen Frau in einem Fußgängertunnel der Metro so mitreißend und herzenstief, dass wir lesend dieser Loreley, übrigens aus München, fast so verfallen wie der Musiker Beck. Das alles macht dem arg unterschätzten Autor Eigner in der gegenwärtigen deutschen Literatur so schnell keiner nach. Auch nicht die Liebesgeschichte der Sängerin Kristina, die nur dann singt, wenn der Orgasmus ausbleibt, mit dem eigensinnigen Musiker, der keiner sein will – das ganze Scheitern- und Hoffensdrama zweier Menschen, jeder ein Narziss überdies, die nicht zu durchschauen und nicht zu berechnen sind und deshalb durch eine wilde, von Streit und Spontaneität stets wieder zerstörende und glückende Liebe taumeln.
Ein Roman mit viel Komik: zwei unfähige Männer wechseln eine Windel, philosophieren über die Beleuchtung der belgischen Autobahnen, ein Hundehasser wird zum Hundefreund, groteske Nebenliebesgeschichten. Auf jeder Seite waltet eine trockene Ironie, selbst bei dem plötzlich erwachenden Kinderwunsch von Kristina und Beck. Nein, ein Kind zusammen kriegen sie nicht, und doch wird eins geboren, das Beck, infolge einer Alkoholentziehungskur, mit einer Zufallsfreundin zeugt, das dann als Bündel, fast zufällig, in den Umzugswagen gerät. Mehr über dies Rätselkind kann hier nicht verraten werden, das kurze Buch über eine lange Nacht hat ohnehin noch viele Überraschungen zu bieten mit jenem ziemlich verrückten Liebespaar, mit dem schrägen Freundespaar und dem sogenannten „armen Einzelschwein“.
Unsere Literatur ist ja voll von Aufbrüchen und Fluchten weg von Deutschland, einst Italien, dann Paris, heute New York, Orient, usw. Hier wird ausnahmsweise einmal eine Rückkehr dargestellt und damit sogar die unscheinbarste Landschaft aus dem Sendegebiet des WDR gefeiert: „Was für ein Sonntagmorgen! Die Wiesen und Äcker. Es schob sich ein buttermilchkühles Blau in den Blick, ein Blau, das über den Wiesen lagerte wie kristallisierter Schmant, kleine weiße Eiszipfel bedeckten die Krumen der Winteräcker, die Pappeln drehten sich in die Fahrt wie Formationen auf weitem Turnierplatz, in hoch aufschießenden Reihen treten sie an und gehen sie vor gegen die knotigen, kopfigen, niedrigen, die geschnittenen Weiden ähneln, es ist ein Bild des Unausgetragenen und der Ruhe, die Ebene weitet sich, bis ganz langsam das matte, erdbeermilchmatte Licht der Sonne zwischen den kahlen Ästen der Bäume aufsteigt, ein Bild des feurigsten Friedens, man muß es gesehen haben …“ Man muss es gelesen haben, dies Buch.

(WDR 3 Gegen den Kanon, 21. 11. 2003)

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