Thomas Brasch
„Für meinen ersten Verleger“ – Wie es zu „Vor den Vätern sterben die Söhne“ und Thomas Braschs Ausreise kam
Die Verbindung stiftete Heiner Müller. Vom Herbst 1973 an fuhr ich von der Potsdamer Straße in Tiergarten ungefähr zweimal im Monat zum Kissingenplatz nach Pankow. Wir, der Rotbuch Verlag im Westen Berlins, hatten mit Heiner Müller im Osten Berlins und mit dem Verlag der Autoren und dem Henschel Verlag verabredet, nach und nach eine Werkausgabe herauszugeben. Ein kühnes Unternehmen in einer Zeit, als Müller im Westen bestenfalls als Geheimtip und in der DDR als unspielbar galt. Nicht weniger kühn war der Vorsatz, das Büro für Urheberrechte, die Zensurbehörde der DDR für das Ausland, zu überlisten und die Bücher nicht anders als in der vom Autor gewünschten Weise zu publizieren. Als Lektor dieser Werkausgabe hatte ich den nicht gerade zuverlässigen Heiner ständig an die vereinbarten Termine zu erinnern, Bildmaterial zu beschaffen, Fahnen zur Korrektur zu bringen usw. Kurz, viel Arbeit und viele Gründe, immer wieder am Kissingenplatz aufzutauchen.
Ich erzähle das, weil das Wohnzimmer von Heiner Müller und Ginka Tscholakowa im Lauf der Jahre so etwas wie ein kleiner literarischer Salon wurde: Witze, Tratsch, Tips und Ansätze ernsthafter Debatten. Es gab eine Reihe solcher Kreise in den Wohnzimmern Ostberlins, hier aber ließ sich nebenbei der Zellkern der Heiner-Verehrung beobachten. Konnten wir anfangs, beim Konzipieren und Redigieren der Bände „Geschichten aus der Produktion 1 und 2“ noch halbwegs ungestört arbeiten, begann sich das Zimmer seit 1975 immer mehr zu füllen mit jungen Dichtern und Theaterleuten, auch verdächtige darunter, mit Professoren und Studentinnen aus den USA, und bald mit den ersten Fans aus der Bundesrepublik.
Hier traf ich Thomas Brasch. Vom ersten Moment an überrascht von seiner tänzelnden, aggressiven Intelligenz, vom Pathos seiner Nüchternheit und der Schärfe seines literarischen Urteils. Es muss im Frühjahr oder Sommer 1975 gewesen sein. In jenem Jahr erschienen nach langem Hin und Her endlich einige seiner Gedichte, als Nummer 89 in der von Bernd Jentzsch herausgegebenen Reihe „Poesiealbum“. Das Bändchen von 32 Seiten genügte, um dem kritischen Lektor zu beweisen: Das ist ein Dichter! Thomas lud mich ein, zu ihm zu kommen, er wollte mir seine Prosatexte zeigen. Ich zögerte nicht – trotz der Enttäuschungen, die ich bei solchen Hausbesuchen erlebt hatte. Auch Heiner, den ich gelegentlich fragte, welche Autoren er unserem Verlag empfehlen könne, sagte: Brasch! Bei Thomas und Katharina Thalbach in der Wilhelm-Pieck-Straße, sitzend in einem Ledersessel (es kommt mir heute vor, als hätte es in jeder Dichterwohnung die gleichen alten, wuchtigen, braunen Sessel gegeben), mit einem Bündel von Erzählungen und kurzen Texten in der Hand, war nach wenigen Minuten der Lektüre klar: Das müssen wir drucken! Eine so luzide, illusionslose, gestochene, mitreißende Prosa, besser als alles, was in den siebziger Jahren in der DDR auf diesem Feld geschrieben wurde, davon war ich überzeugt. Beglückt, verstört, kommende Schwierigkeiten ahnend, voll Entdeckerfreude las ich weiter und sah das Bündel durch, aus dem später der Band „Vor den Vätern sterben die Söhne“ wurde. Keine Frage, sagte ich ungefähr zu Thomas, das machen wir.
Der Weg vom ersten Urteil bis zum fertigen Buch ist oft lang, im West-Ost-Literaturverkehr war er zudem höchst kompliziert. Erst musste ein befreundeter Journalist das Manuskript in den Westen schmuggeln. Dann stimmte der Lektoratsausschuss unseres Verlages zu, begeistert. Übrigens: Zwei anderen Lektoren aus dem Westen, ich nenne die Namen hier nicht, hatte Thomas vorher die Texte gezeigt, beide waren von der Qualität überzeugt, wollten es sich aber wegen der politischen Brisanz der Texte nicht mit der DDR verderben. Dass wir, ein sogenannter linker Verlag, den Mut hatten, uns diesem Opportunismus zu widersetzen und uns bedingungslos auf die Seite des Autors zu stellen (wie mit Heiner Müller und Miklos Haraszti „Stücklohn“ und anderen), hat Thomas erst ungläubig, dann mit größter Freude registriert. Es schien, als hätte er sich verliebt in den Rotbuch Verlag. Und wir vereinbarten weitere Bücher, mit Gedichten, Kurztexten, Stücken.
In den siebziger Jahren durfte nach den Gesetzen der DDR das Manuskript eines Autors nur dann westlichen Verlagen angeboten werden, wenn es zuvor bei zwei Verlagen der DDR abgelehnt worden war und wenn das Büro für Urheberrechte den Vertrag mit dem Verlag im Westen genehmigt hatte – die Lex Biermann. Thomas wollte seine Texte unbedingt in der DDR veröffentlichen und hoffte nach verschiedenen Ablehnungen bis zuletzt auf die Zusage des Hinstorff Verlags. Wir hofften mit, denn eine solche Kooperation wäre wesentlich einfacher gewesen als eine Konfrontation mit dem Büro für Urheberrechte. Aber schon Braschs Biografie war skandalös, Sohn emigrierter Juden, der Vater ein hoher SED-Funktionär, als Journalistikstudent 1965 exmatrikuliert wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“, als Filmstudent wegen Flugblättern gegen den Einmarsch in die CSSR 1968 zu Gefängnis verurteilt, als Arbeiter in verschiedenen Berufen immer wieder angeeckt. Und seine Prosa war nicht weniger skandalös, sie zeigte, dass der Arbeiter in der DDR nichts zu Lachen und die Jugend nichts zu Hoffen hatte. Hinstorff hielt ihn und uns hin.
Thomas hatte eine klare Strategie: Wenn sie mein Buch nicht drucken, dann habe ich keine Arbeitsgrundlage mehr in der DDR, dann werde ich einen Ausreiseantrag stellen, und wenn ich ausreise, soll das Buch im Westen bei Rotbuch sofort veröffentlicht werden. Das deutete oder drohte er den Behörden an, allen voran dem Literatur zuständigen Minister Höpke. Damals erregten „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze in Ost und West die Gemüter, peinlich für die DDR-Zensoren. Von der größten Krise, der Biermann-Ausbürgerung im November 1976, der folgenden Protestwelle und den „Ausreisen“ von Sarah Kisch, Günter Kunert, Jurek Becker und vielen andern war noch nichts zu ahnen.
Wir im Verlag stellten uns auf diese Strategie ein. Während „Vor den Vätern sterben die Söhne“ lektoriert, gesetzt und korrigiert wurde, versuchte Thomas, als Sohn eines hohen Funktionärs und zweifach Exmatrikulierter so bekannt wie berüchtigt, für sein Werk in der DDR zu kämpfen. Nur 32 Seiten waren von ihm publiziert, und doch konnte er sich geachtet oder gefürchtet fühlen. Natürlich hat es ihm gefallen, den ängstlichen Haufen der Staatsvertreter vor die Wahl zu stellen: Entweder ihr duldet und fördert mich hier – oder ihr kriegt noch mal so viel Ärger wie mit Kunze – oder ihr lasst mich ziehen.
Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns am 17. November 1976, dem Protest-Brief aller wichtigen Autorinnen und Autoren dagegen und den Schikanen gegen die wachsende Schar der Unterzeichner veränderte sich alles. Selbstverständlich hatte auch Thomas unterschrieben. Er begriff sofort, dass er in der DDR keine Chance mehr hatte und stellte den Ausreiseantrag mit Katharina Thalbach und ihrer Tochter Anna. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Absage von Hinstorff schon vorlag oder nicht, sie spielte keine Rolle mehr.
Wir hatten geplant, das Buch im Frühjahr 1977 herauszubringen. Thomas, der eine Ausreise Ende Dezember erwartete, brachte uns dazu, den Titel vorzuziehen. Den gemütlichen Rhythmus Frühjahr-Herbst-Frühjahr-Herbst bei Verlagen, Druckereien, Buchhändlern und Lesern und Lesern durcheinander zu bringen, erfordert einige Energie – Thomas hat es geschafft, uns diesem Stress auszusetzen. Bis dahin galt bei uns im Verlag die Regel: keine Autorenfotos auf dem Umschlag – Thomas hat es geschafft, mit einem Foto plus biografischen Daten statt eines Klappentextes gewürdigt zu werden. Die Presse musste außer der Reihe mit Fahnen und Büchern beliefert werden – auch diese Ausnahme wurde für Thomas gemacht. Die Einzelheiten jener dramatischen Tage zwischen Mitte November und Ende Dezember sind in der Erinnerung zusammengeschnurrt zu dem Eindruck: es ging um Stunden. Da wir ja nichts dem Telefon oder der Post anvertrauen durften, fuhr ich mehrmals in der Woche, kontrolliert am Übergang Heinrich-Heine-Straße oder Bornholmer Straße, in die Wilhelm-Pieck-Straße. Kurz vor der Ausreise wurde Thomas zu Erich Honecker vorgelassen – und hat mir sofort von dem vertraulichen Gespräch berichtet. Das gefiel ihm, vom Staatschef mit beschränktem Respekt und mit Handschlag verabschiedet zu werden.
Der Termin stand fest – das genaue Datum weiß ich nicht zu nennen, in meinem Lektoratskalender von 1976, in dem 34 mal „Thomas“ oder „Brasch“ steht, ist der Tag seiner Ausreise nicht verzeichnet. Die Packer rückten an, vieles wurde an Freunde gegeben, die Wohnung war leer, und am letzten Abend kamen Anne Duden und ich zum Abschiedsbesäufnis mit vielen Freundinnen, Freunden und Kathis Theaterleuten in die ausgeräumte Wohnung. Tränen, Flüche, Verwünschungen, Umarmungen, Küsse, Verabredungen, Neid, Verzweiflungen. Thomas hatte mich gebeten (oder ich hatte es angeboten), am nächsten Morgen die drei von der S-Bahn am Bahnhof Zoo mit dem Auto abzuholen. Thomas und Kathi wollten unbedingt die erste S-Bahn früh gegen halb sechs nehmen. Ich versuchte ihnen das auszureden und bei den ersten Schritten im Westen halbwegs ausgeschlafen zu sein: Ihr könnt doch um sieben oder neun kommen, der Westen läuft euch nicht weg. Nein, auch hier setzte sich Thomas durch. Als wir uns kurz vor Mitternacht verabschieden mussten, kam er mit hinunter auf die Straße, ihm war nach Weinen zumute, wir umarmten uns fester denn je.
Am nächsten Morgen war ich früh um halb sechs am Bahnhof Zoo, da kamen sie mir schon entgegen, die S-Bahn-Treppe hinunter mit leichtem Gepäck, Thomas, Kathi und das Kind Anna. Die einzigen S-Bahn-Fahrgäste im Halbdunkel. Gehetzt sahen sie aus, erledigt von der langen Nacht. Wir brachten Kathi mit Anna nach Reinickendorf oder Tegel zu Verwandten, Thomas kam mit in meine Wohnung. Mir ist, als wäre er schon nach dem ersten Schluck Kaffee ans Telefon gegangen, um seine westberliner Freunde zu benachrichtigen. Ich sagte: Die schlafen noch. Das war ihm egal, seine Freunde hatten nicht zu schlafen, wenn er anrief.
Bald kamen Jörg Mettke, der „Spiegel“-Redakteur, und ein oder zwei andere Bekannte, während Thomas begann, von uns umringt und beraten, eine Presseerklärung zu formulieren. Den ersten Entwurf schrieb er auf Packpapier. Bis zu einer befriedigenden Fassung dieser wenigen Sätze dauerte es wohl an die zwei Stunden, so müde, erregt und wild auf einen neuen Anfang war der Landwechsler. Er wollte sich auf keinen Fall zum Dissidenten machen, das musste sofort deutlich werden.
Auf den Zetteln, die in meinem Exemplar von „Vor den Vätern sterben die Söhne“ aufbewahrt sind, lautet die letzte Fassung so: Wie mir die zuständigen Staatsorgane der DDR mitgeteilt haben, ist es auf absehbare Zeit nicht möglich, den größten Teil meiner schriftstellerischen Arbeiten in der DDR zu veröffentlichen und zu verbreiten. Dabei handelt es sich neben Stücken und Gedichten vor allem um den Anfang 1977 im Westberliner Rotbuch Verlag erscheinenden Erzählungsband „Vor den Vätern sterben die Söhne“, in dem Erfahrungen mit dem Land beschrieben sind, in dem ich aufgewachsen bin und das mich geprägt hat. Weil für mich öffentliche Auseinandersetzung mit meiner Arbeit lebenswichtig ist, sah ich mich gezwungen, einen Antrag auf Ausreise aus der DDR zu stellen. Diesem Antrag und dem Wunsch, mit der Schauspielerin Katharina Thalbach zu übersiedeln, ist stattgegeben worden.
Ich tippte die Erklärung ab, Mettke gab sie an dpa, ein „Spiegel“-Gespräch, das wir vom Verlag aus angeregt hatten, wurde vereinbart. Jetzt erst wurde Thomas etwas ruhiger, das angebotene Bett aber lehnte er ab, wieder ging er ans Telefon, um andere Freunde für den Abend in ein Restaurant am Kudamm zu bitten. Ich staunte, wie viele Leute, prominente darunter, er bereits in seinen ersten Stunden auf westberliner Boden zu mobilisieren verstand.
Wenige Tage später war das Buch da, das „Spiegel“-Gespräch, die Presse jubelte, die ersten 8000 Exemplare waren im Nu vergriffen – und bereits an seinem dritten oder fünften Tag im Westen hatte Thomas in Frankfurt Siegfried Unseld getroffen und das nächste Buch bei Suhrkamp vereinbart.
Nie bin ich von einem Autor so verraten worden, anders gesagt: nur diesen Verlagswechsel habe ich als Verrat empfunden. Wir hatten ihm zur Ausreise verholfen, und während unser ganzer Verlag daran arbeitete, ihm einem optimalen Start im Westen zu ermöglichen, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich sofort an den größeren und reicheren Verlag zu verkaufen. Überdies mit einem Manuskript (Grundlage für „Kargo“, 1977 erschienen), das wir mündlich vereinbart hatten. Was hatten wir in den letzten Wochen geschuftet, um ihn, den völlig unbekannten Autor, mit seinem Buch nach ganz oben zu bringen! Was hatten wir seinetwegen für Risiken, auch für die Fortsetzung der Heiner-Müller-Ausgabe, auf uns genommen! Was war das für Freund, der gestern noch unsere Freundschaft beschworen hatte, und heute sagte: Sorry, so what? Es war bitter, seine faulen Entschuldigungen zu hören: Er sei kein linker Autor, was solle er in einem linken Verlag. Außerdem wolle er nicht mit Müller in einem Verlag sein, er müsse sich von Heiner emanzipieren.
Der Schock saß tief, wir gingen uns nach Möglichkeit aus dem Weg, während sein Buch immer besser verkauft wurde, sein Ruhm stieg, die Theater sich um ihn rissen. Erst nach einem halben oder einen Jahr wurde die Beziehung wieder besser. Ich versuchte meine Enttäuschung abzubauen mit der These: Er ist ein Genie, Genies sind Verräter, sie können nichts dafür, nimms ihm nicht übel. Nach anderthalb Jahren, mit Kathi, ein erstes versöhnliches Gespräch. So kamen wir, auch wenn wir uns lange Zeit kaum sahen, ganz gut miteinander hin. Die Lust und die Kraft, seinen Größenwahn ein wenig zu steuern und ihn zu kritisieren, wo er es brauchte, hatte ich nicht mehr.
Nie hat Brasch wieder solche Auflagen erreicht, nie wieder ein so gutes Prosabuch publiziert wie „Vor den Vätern sterben die Söhne“. Und in den neunziger Jahren, als er in verschiedenen Dingen meinen Rat suchte, schrieb er mir in seine Bücher, teils aus schlechtem Gewissen, teils aus Sentimentalität: „Für meinen ersten Verleger.“
(Arbeitsbuch Thomas Brasch, Theater der Zeit, Berlin 2004)