Rede Georg-Büchner-Preis
Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises am
29. 10. 2011
Hochgeachtete Zuhörer,
so begann Georg Büchner seine Probevorlesung über Schädelnerven in Zürich, hochgeachtete Zuhörerinnen und Zuhörer, so zitiere ich, nicht nur aus Respekt vor Büchner, sondern ebenso aus Respekt vor Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie jetzt nach sechs Reden immer noch guten Willen zeigen sollen, eine siebte zu hören – Hochachtung allen, die sich in der schönen Kunst des Zuhörens üben! Also schnell, ohne strapaziöse Vorrede zur Sache.
„Und Büchner wandert bei sterniger Nacht/ nach Offenbach“, so steht es in einem älteren Gedicht. Büchner wandert, wieso wandert Büchner, und warum ausgerechnet nach Offenbach? Bekanntlich hat er in Darmstadt, Gießen, Straßburg, Zürich gelebt, was soll er in Offenbach? Das Gedicht ist von 1965 und programmatisch angelegt – das uralte, damals neu gestellte Thema: Raus, ihr Autoren, aus dem Literaturbetriebsgehechel, weg von den Selbstgefälligkeiten der Bohème und der akademischen Zirkel, hin zu dem Widerborstigen, Anstößigen, hinein ins Unübersichtliche, zum Beispiel nach Butzbach, in die Banalitäten und Fatalitäten der Geschichte, hinein in den Schmerz und Krach der Welt! Das ziemlich rotzige, vorsätzlich kunstlose Gedicht heißt „Butzbach, zum Exempel“, und was wäre dieser Ort ohne Friedrich Ludwig Weidig, was wäre Weidig ohne Büchner? Also bedient sich der Autor, ein zweiundzwanzigjähriger Germanistikstudent aus Berlin, des einundzwanzigjährigen Medizinstudenten aus Gießen, genauer: des Buches von Hans Mayer „Georg Büchner und seine Zeit“, und streut die Namen Büchner, Weidig und Konrad Kuhl in das Gedicht, widmet Büchner aber nur ganze acht Wörter und schickt ihn auf Wanderschaft. Aber halt!, Büchner wandert nicht, das Verb stimmt nicht, hat der Verfasser, hab ich schon bald nach der ersten Veröffentlichung gedacht und denke es bis heute und frage, welches Verb träfe den dramatischen Punkt dieser Nacht in der Wetterau?
Sagen wir fürs Erste: Büchner läuft, er läuft schnell, aber er rennt nicht. Der Hessische Landbote ist, nach viel Streit, geschrieben, vom Butzbacher Rektor und Pfarrer Weidig verändert und gemildert (aus den „Reichen“ wurden die „Vornehmen“, um die Liberalen nicht zu verärgern), Büchner hat den Text in der Botanisiertrommel zur illegalen Druckerpresse nach Offenbach gebracht, jetzt ist gedruckt, Freunde sind unterwegs, die Schrift abzuholen. Karl Minnigerode wird, mit 150 versteckten Exemplaren, am Gießener Stadttor verhaftet. Eine halbe Stunde später läuft Büchner von dort los, es ist der 1. August 1834, zuerst nach Butzbach, wo er in der Nacht ankommt, um Weidig zu informieren, bei dem die Fäden zusammenlaufen, schläft kurz und eilt weiter nach Offenbach, um den Drucker zu warnen und die anderen Freunde. Das ist die Lage in dieser Augustnacht. Es geht um Leben und Tod, um Folter oder Flucht, Arrest oder Exil, und ich bitte Sie, hochgeachtete Zuhörer, für einige Minuten Ihre Phantasie-Kamera auf den Nahaufnahme-Modus umzuschalten, auf den einundzwanzigjährigen Studenten mit dem schüchternen Gesichtchen, der Butzbachs Mauern hinter sich lässt und um sein Leben läuft, und nicht nur um seines, Richtung Süden, auf der Landstraße, in der Nacht, im Morgengrauen.
Er eilt und darf doch keine verdächtige Eile zeigen, er ist in Panik und will keinen Fehler machen, er ist alarmiert und muss vernünftig bleiben, ein reisender Student, der zum Staatsfeind Nummer eins wird, das Großherzogtum ist ein Terrorregime. Er hat noch kein gedrucktes Exemplar des Landboten gesehen und weiß, dass die Flugschrift, die für die Bauern bestimmt war, nun von den Beamten gelesen wird, die er am schärfsten angegriffen hat, bei jedem Satz, jedem Wort wird ihnen die Empörung den Atem nehmen. Büchner geht auf der Landstraße nach Nieder-Weisel, über dem Vogelsberg der erste Morgenschimmer. Er hat nicht nur, die Franzosen zitierend, den Palästen den Krieg erklärt, er hat die Presser, Verräter und Schinder des Volkes, die Raubgeier, Schurken, den fürstlichen Popanz, die gesetzlichen Mörder und gesetzlichen Räuber, die einheimischen Tyrannen attackiert, er hat die Justiz die Hure der deutschen Fürsten genannt. Jeder Satz, jede Formulierung reicht für viele Jahre Kerker, und der Gipfel seiner Frechheit sind nicht die Verbalinjurien, sondern dass jeder Punkt der Kritik mit der Statistik des Großherzogtums Hessen-Darmstadt untermauert ist. Büchner weiß, was er geschrieben hat, er weiß, was ihm Weidig im letzten Moment noch gestrichen und mit Bibelzitaten verluthert hat, aber das spielt keine Rolle mehr. Was ihn bestürzt, was ihn zur Eile treibt, ist der Verräter. Das ist das Ärgste, irgendwo ganz nah neben ihm oder Weidig muss einer sitzen, aber wer? Ein Verräter so nah, das bedeutet: alles verloren, es ist alles aus. Und er gezwungen, sich doppelt verdächtig zu machen, gleich nach der Verhaftung Minnigerodes aus Gießen zu fliehen und durch die Dörfer zu rennen mitten in der Nacht.
Zwei Tage später wird er diese Stunden in einem Brief an die Eltern beschreiben: Ich benutze jeden Vorwand, um mich von meiner Kette loszumachen. Freitag Abends ging ich von Gießen weg; ich wählte die Nacht der gewaltigen Hitze wegen, und so wanderte ich in der lieblichsten Kühle unter hellem Sternenhimmel, an dessen fernstem Horizonte ein beständiges Blitzen leuchtete. Teils zu Fuß, teils fahrend mit Postillonen und sonstigem Gesindel, legte ich während der Nacht den größten Teil des Wegs zurück. Ich ruhte mehrmals unterwegs. Gegen Mittag war ich in Offenbach …
Der allseits bewunderte Büchner, ich meine, man sollte ihn auch für die Fähigkeit zu lügen bewundern – man bedenke die Aufregung in Darmstadt, der Sohn des höchsten Richters, des Hofgerichtspräsidenten Minnigerode verhaftet, und der rebellischer Umtriebe stets verdächtige Sohn des Hofmedizinalrats Büchner türmt eine halbe Stunde später, verlässt die Stadt, in der die Freunde studieren. Wie widerlegt man Gerüchte, die wahr sind? Wie beruhigt man aufgeregte, besorgte Eltern?
Im Sommer 1965 hat mich dieser Brief, bei Hans Mayer zitiert, so angerührt, dass der junge Büchner plötzlich seine Schulklassiker-Unnahbarkeit, die Aura des unerreichbaren Jung-Genies verlor, da wurde der Mensch sichtbar, der junge Kerl mit lauter unlösbaren Problemen. Ich sah ihn mehr verstört vom Verrat als vom Scheitern des Experiments, wie er sagte, mit dem Landboten. Sah ihn als Gehetzten, mit mehr Aufruhr, Poesie, Verstandesschärfe, mit mehr Liebe und Hass im unsortierten Dichterkopf als man in diesem Alter zu ertragen vermag. Mich erfasste eine Art Empathie mit ihm, und wenn es nicht so besitzergreifend klänge, könnte ich sagen: Von diesem Moment an habe ich ihn geliebt. Aber ich mochte damals nicht weiterdenken über seine Lage, wollte ihn nur einmal durch die Nacht, durch das Butzbach-Gedicht wandern sehen, acht schmucklose Worte lang begleiten, mich nicht mit ihm aufplustern, nichts einfühlend ausmalen: „Und Büchner wandert bei sterniger Nacht/ nach Offenbach“. Dann packte ich zwei Zeilen über Weidig hinzu und eine über den Verräter Konrad Kuhl, Hans Mayer hatte die Hintergründe geliefert über diese Sorte IM, der seine Informationen scheibchenweise verkaufte und Büchner noch schonte.
Wenn ich je über ihn schreiben sollte, habe ich später gedacht, müsste ich Georg Büchner durch solch eine Nacht oder ein Halbjahr schicken, als einen Lenz mit anderen Vorzeichen: Erst der Verrat, dann das Verlieren politischer lllusionen, das die ungeheuren poetischen Energien freisetzt, die feinen Verknüpfungen zwischen Ethik und Ästhetik, innere Monologe auf Streuobstwiesen, Sehnsuchtssprünge zur Braut nach Straßburg neben Bauernkaten bei Bergen und Enkheim, Briefzitate unterm Sternenhimmel. Aber da mir das romanhafte Ranschmeißen an andere Dichter immer suspekt gewesen ist, begnügte ich mich mit dem Standfoto: Büchner wandert aus Butzbach hinaus.
Und so sah ich ihn auch in den letzten Wochen, als ich wieder zu seinen Werken griff, sah wie vor sechsundvierzig Jahren den schmallippigen Medizinstudenten, der die gefährlichste und strafbarste Schrift seiner Zeit verfasst hatte, im Halbdunkel der Straße, sah ihn auf seinem Weg am Rande der westlichen Wetterau, an einem der Drehpunkte seines kurzen Lebens, in den Stunden, in denen er begreift, gescheitert zu sein, verraten und gescheitert, auf sich gestellt, einsam, allein mit dem, was er schon erahnt, was er in sich trägt noch ganz ungeformt. Und wie er nach all dem Streit in den politischen Zirkeln und mit Weidig, erst recht nach dem Spitzel-Schock gedacht haben könnte: Du kannst dich nur auf dich allein verlassen, was du sagen willst, musst du allein zu Papier bringen. So wird aus dem, der eben noch den Bauern die Revolution gepredigt, also Antworten versucht und die Sprache, wie es die Politik tun muss, appellativ vereinfacht hat, in kurzer Zeit ein Dichter, ein Differenzierer, ein Seelendeuter, ein Fragensteller, der wie kein anderer die größte denkbare Revolution, die Französische, am Seziertisch seines Vaters in der Darmstädter Praxis heimlich bis in alle Verästelungen darstellend durchschaut und schon im sechsten Satz seines Stückes Danton sagen lässt: wir sind sehr einsam. Und wenn ich mich, mit mehr als respektvollem Abstand, diesem Dichter, der gerade dabei ist, einer zu werden, an die Fersen hefte, will es mir scheinen, als habe er in jener Augustnacht in der Wetterau einiges von dem vorempfunden, was er ein Jahr später dem umnachteten Lenz in den Vogesen zuschreibt: … es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte nicht, er wagte kaum zu atmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen …
Alleinsein, Einsamkeit, Abstandhalten, Meinungsvorsicht, Zweifel, Freude am Fragen, Schweigen, das sind die ersten Voraussetzungen, um zu schreiben, und das realisieren zu müssen als junger Kerl, ist ein existenzieller Schock, den ich ungefähr ein halbes Jahr nach der Lektüre des Büchnerschen Wanderlügenbriefs vielleicht nicht begriffen, aber erahnt habe, an der Hardenbergstraße in Berlin stehend, den Blick auf das Amerikahaus auf der anderen Straßenseite gerichtet. Einige Studenten hatten sich wegen des Krieges der USA in Vietnam – für uns waren die südvietnamesischen Bauern was für Büchner die oberhessischen waren – zum Sitzstreik niedergelassen und wurden von der Polizei weggeprügelt, andere warfen ein paar Eier auf das Haus und zogen die Fahne auf halbmast, die Szene, zwei Jahre vor dem berüchtigten Achtundsechzig, ist in „Amerikahaus“ beschrieben. Als ich, der vorher mitdemonstriert hatte und nun vor weiteren Schritten zurückschreckte, stehenblieb und durch Aktionismus alles verraten sah und mich dabei ertappte, ein Zuschauer, nur ein Zuschauer zu sein, da kam mir, noch ehe schlechtes Gewissen sich breitmachen konnte, der befreiende Gedanke: Hier stehst du richtig, einer muss das beobachten, einer muss das vielleicht sogar aufschreiben irgendwann, und wer, wenn nicht du, der Prügeleien meidet, Gefahren ausweicht, kein Blut sehen kann. Der keine schnelle Antwort parat hat, ob diese Aktionen nun richtig sind oder nicht, der nur spürt, wie das, was da vor den eigenen Augen geschieht, schon bald zu Meinungsgefechten und Rechthaberei führen wird. So begann ich zu meiner vertrauten Rolle als Schweiger auch die neue Rolle als Zuschauer zu akzeptieren und mit immer mehr Eigensinn aufzuladen und gegen den bissigen Vorwurf: Du hältst dich raus, du tust nichts! die leise Antwort zu finden: Doch, ich tue was, ich schaue zu, ich schaue nicht weg, ich merke mir das, ich hebe das auf.
Nein, ich will nicht vortäuschen, bei dieser Urszene am 5. Februar 1966 an Georg Büchner gedacht zu haben, an seine Nacht auf dem Weg zwischen Butzbach und Offenbach, aber ich bin sicher, dass das Muster Kuhl – Weidig – Büchner eine gewisse Nüchternheit in studentenbewegten Jahren befördert hat: Von drei Leuten wird einer aufgeben und vielleicht sogar den Weg des Verrats gehen, wird einer den Weg in die Politik suchen, und einer hat vielleicht die Chance, auf dem Weg des Fragens, also des Schreibens zu bleiben. Denn wer einmal die Frage gestellt hat, was den Hütten zu wünschen sei, wer die Frage nach Gerechtigkeit nicht dem Schicksal oder dem Markt überlassen möchte, wer einmal den Mut aufgebracht und das Vergnügen gespürt hat zu fragen nach Erhalten oder Verändern, die Geschichte zu befragen und die eigene Zeit, beispielsweise vor dem mickrigen Birnbaum in Ribbeck neun Wochen nach dem Fall der Mauer, und wer vor den Fakten nicht ausweichen, nicht alles verdrängen will und kann, dem wird der Kopf schwirren ein Leben lang bei der Anstrengung und den Freuden, für all das ästhetische Lösungen zu suchen und hin und wieder mit Glück eine zu finden.
Vergessen wir nicht, der mit schnellen Schritten nach Offenbach laufende Büchner, der seinen ethischen Aufruhr in ästhetischen zu verwandeln und zu potenzieren beginnt, der weiß noch nicht einmal, ob er ohne Arrest und Folter und Tod davonkommt. Nie wird er erfahren, dass er es dem Verräter Konrad Kuhl verdankt, schreiben zu dürfen und Dramatiker, Erzähler, Mediziner zu werden, denn Kuhl verrät ihn einstweilen nicht. Das sollte man sich an einem feierlichen Nachmittag wie heute mal wieder klarmachen: ohne die Laune oder Gerissenheit eines vom Großherzog bezahlten Spitzels wäre Georg Büchner mit Sicherheit durch Folter in den Wahnsinn getrieben worden wie Minnigerode oder in den Selbstmord wie Weidig, der Lehrer und Pfarrer und Turner, ohne das Kalkül des Verräters gäbe es, außer dem christlich gemilderten Landboten, nichts von Büchner, keinen Danton, keinen Lenz, keinen Woyzeck – und erst recht keinen Büchner-Preis.
Es gäbe aber, falls Sie mir diese heimatkundliche Pointe erlauben, hochgeachtete Zuhörer aus Darmstadt, den Langen Ludwig durchaus. Der verdankt sich Darmstädter Bürgern, die genau im Jahr 1837, nur wenige Wochen nach Weidigs und Büchners Tod, eine Initiative für ein Denkmal für Großherzog Ludwig starteten, den Verfassungsfeind mit der Verfassung in der Hand auf der Säule. Der zweite Ludwig, ein noch ärgerer Verfassungsgegner, hat die Säule dann bauen lassen, der direkte Verantwortliche für Weidigs Foltertod, Minnigerodes Wahnsinn, Kuhls Judasgeld und Büchners Exil.
Büchner entwischt also, läuft um sein Leben nach Nieder-Weisel, läuft oder kommt per Postwagen nach Ober-Mörlen, an Nauheim und Friedberg vorbei, über Rosbach, Erlenbach, Eschbach, Bergen nach Offenbach, warnt die Freunde, geht über Frankfurt, um ein Alibi zu haben, nach Gießen zurück, wo er sich mit offensiver Frechheit vorläufig rettet gegen den Universitätsrichter, der seine Wohnung schon durchsucht hatte. Es bleiben ihm zweieinhalb Jahre, und sein Hass gegen den verachtenden Egoismus der Besitzenden und Gebildeten hört nie auf, entfaltet sich dank einer „gegen jede verlogene Harmonie gerichteten Ästhetik“ (Mayer) zu einem Werk, das uns heute deshalb so verblüfft, weil unsere abgelebte, moderne Gesellschaft sich in den Problemen zu verfangen scheint, die Büchner Achtzehnhundertsoundsoviel dargestellt hat. Dantons Dilemma betrifft heute jeden Politiker, nur dass die Lösung nicht mehr Giullotine heißt, sondern Aufsichtsratsposten. Lenz‘ Krankheit Depression ist zur Volkskrankheit Nummer Eins geworden. Woyzecks Satz Jeder Mensch ist ein Abgrund ein Gemeinplatz, rund um die Uhr bei RTL 2 zu besichtigen. Und in den Bankpalästen, hoch über den Hütten und Zelten, arbeiten Rohstoffhändler auch im Jahr 2011 daran, das im Hessischen Landboten beschriebene Elend zu fördern und zu afrikanisieren.
Und wir, in welcher Büchner-Welt leben wir? Im deutschen Bio-Biedermeier? Im munteren Rendite-Radikalismus? Im narzisstischen Wettstreit zwischen diversen Migrationsvordergründen? Einig nur beim Verdrängen der großen Mauer, die nicht mehr durch unser Land, sondern mitten durch das Mittelmeer geht? Wo schwanken die Fundamente denn nicht? So viel emotionaler, rechthaberischer Aufwand für Bahnhöfe, aber wenn es um den Abriss der Demokratie geht vor unserer Haustür in Ungarn und in Italien, warum herrscht dann das große Gähnen? Was muss der regierende Wirtschaftskriminelle, der, statt hinter Gittern zu sitzen, das halbe italienische Parlament aufgekauft hat mit dem Segen der verschiedenen Mafien und des Vatikans, was muss der noch alles anstellen, damit Europa in ihm einen der ärgsten Antidemokraten erkennt? Die von Büchner und seinen Freunden erträumte und uns zugefallene Errungenschaft der Gewaltenteilung, sollten wir die nicht noch ein Weilchen hochhalten, einüben, ausüben, bevor die Chinesen, weil sie unsere Währung irgendwann retten müssen, Europa zu ihrer Edel-Provinz machen?
Wir wissen nicht, in welcher Epoche wir leben, habe ich von Arnold Esch gelernt, wir Zeitgenossen wissen nicht, wie man unsere Zeit einst nennen und bewerten wird. Fürs Erste aber, schlage ich vor, können wir uns an Leonce und Lena orientieren, der Komödie der Müdigkeit und der universellen Langeweile, einer Welt, „die ihren Sinn verloren hat und richtungslos agiert“ (Mayer). Seit die bürgerlichen Werte an den Finanzplätzen verschleudert werden, der Liberalismus zum Lobbyismus und zur Marktblödheit verkommt, scheinen die Demokratien in feudalistische Zeiten zurückzutaumeln. Das Kapital selbst bringt die Verhältnisse zum Tanzen – nicht weil Geld fehlt, weil wir sparen müssten, sondern, das ist die Komödie daran, weil zu viel Geld da ist, das angelegt werden will. Reiche Leute können nicht mehr mit den überflüssigen Millionen und Milliarden umgehen, niemand will sich mit einer soliden Rendite von fünf Prozent zufrieden geben, es müssen überall und sofort gleich fünfundzwanzig sein. Ich erzähle Ihnen nichts Neues, aber von Büchner: Genau wie der Staatsrat im Königreich Popo können sich nicht einmal die weisesten Ökonomen der Welt auf Lösungen verständigen. Seit man in der Wirtschaft mehr mit Fiktionen, Derivaten, Utopien, mehr mit der Leere der Nullen als mit Realien handelt, sind wir im Reich des König Peter angelangt, wo der Mittelstand bereits abgeschafft ist, bis auf einen Schulmeister, der die Hartz-IV-Empfänger zu dressieren versucht. Des Königs Weisheit beschränkt sich auf den Satz: Der Mensch muss denken.
A propos Denken: Wir sind ja schon viel närrischer als Büchner es sich ausgedacht hat. Obwohl nachgewiesen ist, dass Lebenskompetenz am besten durch Bücher-Lesekompetenz erworben wird, sind Denk- und Bildungsfragen dem Berechenbarkeitswahn und dem Diktat der allerwindigsten Industrie unterworfen, der Werbeindustrie. Was dem Banker das Derivat, ist dem Politiker die Floskel, ist dem Medienmensch die Quote, also statistische Leere, die Inhalt vortäuscht. Es löst längst keine Empörung mehr aus, dass die „Quoten-Idioten“ in den Sendern, Verlagen, Ministerien, Universitäten die geistige Anstrengung für gemeingefährlich halten, nicht aber das von ihnen geförderte Analphabetentum – Büchners Valerio weiß auch hier den passenden Satz: Der Weg zum Narrenhaus ist leicht zu finden.
Leonce und Lena empören sich nicht, sie leben aus zweiter Hand, sie romantisieren sich die Welt wie wir uns das Schlaraffenland Internet. Zugegeben, eine Komödie, doch nah an unserer digitalen und infantilen Zeit, die Sprache der Figuren zeigt schon den Abstieg in die Logik von Null und Eins und Ja und Nein und Flop und Top.
Im Widerstand gegen diesen Fundamentalismus des Entweder-Oder, in der Spannung zwischen Ja und Nein, in den Nuancen zwischen Gut und Böse liegt der Reichtum des Subjektiven, des Menschlichen, liegen die Chancen der Kunst, der Literatur. Den vieldimensionalen Raum zwischen der Scheinalternative von Null und Eins mit Leben zu füllen, sich breit zu machen zwischen Up und Down und Top und Flop, das gelingt den Sprachen der Kunst, gestützt auf heitere Kompromisslosigkeit und die Produktivkräfte Chaos und Eros. Nein, der Wettstreit zwischen Algorithmen und Sätzen, zwischen Formeln und Wörtern, zwischen Schwarmverhalten und Eigensinn ist noch lange nicht entschieden. Wenigstens in der Literatur haben wir eines der frei zugänglichen und vergleichsweise krisenfesten Paradiese, in dem Erfahrungen ausgetauscht und gesammelt, Erkenntnisfreuden verschenkt, Distanzen verringert, Augenblicke festgehalten, also Raum und Zeit erweitert werden. Aber nicht dass wir uns hier zu wichtig nehmen – am Ende entscheiden in der Literatur, welcher Sorte auch immer, allein die Sätze, der Satz. Die Energie und die Unruhe, die sich zwischen zwei Punkten entfalten.
Die richtigen Wörter, die richtigen Sätze jedoch sind nicht selbstverständlich, sie wollen sich oft nicht einstellen, und jetzt verstehen Sie vielleicht mein gründliches, jahrzehntealtes Unbehagen an dem Verb wandern, das zwar O-Ton Büchner, aber doch falsch ist, weshalb wir diesen schwer durchschaubaren Studenten ein kurzes Stück auf seinem Weg zur Druckerpresse nach Offenbach begleitet haben. Er müsste sich jetzt Nauheim nähern, wir eilen dem Ende zu: Für müde Füße ist jeder Weg zu lang, stöhnt der Prinz Leonce, für müde Ohren ist jedes Wort zu viel, entgegnet Prinzessin Lena.
So danke ich nun der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für diesen Preis. Ich freue mich sprachlosen Herzens dieser Anerkennung und danke Sibylle Lewitscharoff für ihre Lobrede. Ich denke in diesem Moment an die großen Autoren meiner Generation, die zu jung starben, um diese Anerkennung zu erhalten, Nicolas Born, Libuse Moníkovà, Thomas Brasch, W.G. Sebald. Ich danke den Geldgebern, danke der Akademie für die Gelegenheit, einmal öffentlich über ein unstimmiges Verb nachzudenken. Vierundwanzig Minuten reichen oft nicht, das richtige Wort, den richtigen Satz zu finden, aber sie müssen reichen für eine Rede, bei der ich nun zum Punkt komme, nicht ohne Dank an Sie, hochgeachtete Zuhörer, für Ihre rekordverdächtige Aufmerksamkeit, ich danke Ihnen allen.
(c) Friedrich Christian Delius