Schlacht bei Bergen
Friedrich Christian Delius
Die Schlacht bei Bergen
(Abschiedsrede Bergen-Enkheim 28. August 2009)
Meine Damen und Herren,
eines schönen Sonntags in Bergen geriet ich mitten in eine Schlacht, die Schlacht bei Bergen. Im prächtigen Fachwerkhaus des Heimatmuseums hatte ich vieles erwartet, aber keinesfalls ein fürchterliches Gemetzel, das hier mit zweitausendzweihundertsechzig bilderbuchmäßigen Zinnsoldaten dargestellt war, die sich zwischen nachgebauten Stadtmauern, Häusern, Bäumen, Feldern und Kanonen gegenseitig ins Visier nehmen, totschießen oder schon totgeschossen haben.
Die Schlacht bei Bergen, nie gehört. Wann war das? 1759? Na gut, Bildungslücke, dachte ich, kannst du vergessen. Zweihundertfünfzig Jahre her, siebenjähriger Krieg, Preußen, Österreich, Frankreich, einer dieser aus heutiger Sicht völlig überflüssigen Prestigekriege mit komplizierten, aus heutiger Sicht absurden, ständig wechselnden Koalitionen, mit hunderttausenden von jungen Männern, abgeschlachtet von Flintenkugeln, Artilleriegeschossen oder Bajonettstichen. Ich halte zwar viel von Heimatkunde (ohne nordhessische Heimatkunde hätte ich zum Beispiel meinen neuen Roman über den Erfinder des Computers nicht schreiben können), aber ich bin kein Historiker. Über eine fast vergessene Schlacht will ich eigentlich nichts Näheres wissen, ich freue mich lieber, dass diese finsteren Zeiten und andere finstere Zeiten vorbei sind.
Aber wer, überlegte ich dann doch, kämpfte hier eigentlich gegen wen? Franzosen gegen Preußen. Aber warum? Und wer gewann? Die Franzosen. Und warum schlugen sie hier im Hessenland aufeinander ein, hier am schönen Berger Hang und direkt vor dem heutigen Stadtschreiberhaus?
Plötzlich wollte ich wissen, was vor meiner Tür, vor meinen Fenstern geschehen war, und schon sah ich das Schlachtfeld unter dem Asphalt, unter den Garagen und Vorgärten der Nachbarn. Ich sah Soldaten in blauen und in roten Uniformen über die Marktstraße stürmen. Nein, ich war nicht verrückt geworden, da bin ich relativ sicher, solche Bilder zaubert sich ein Stadtschreiber gern einmal vor die Augen, zwischen dem Zähneputzen und der Rasur oder einfach so, zur Übung, zum Training seiner Phantasie- und Einbildungskraft. Es muss ein riesiges Schlachtfeld gewesen sein, zwischen der Berger Warte und dem Ludwig-Emmel-Weg. Und auf dem Marktplatz, ungefähr hier, wo jetzt dies Zelt steht, müsste der Verhau aus gefällten Bäumen, also eine Art Barrikade den Angreifern im Weg gewesen sein, dachte ich.
Das Diorama aus dem Heimatmuseum begann sich in meinem Kopf zu bewegen, und das ausgerechnet in den Monaten, als die Zeitungen jeden Tag ausführlich über die aktuellste Schlacht berichteten, die unsere Köpfe beschäftigte, die zwischen Frankfurt und New York, zwischen Berlin-Brüssel und Washington, die große Schlacht der Wertberichtigungen auf den Finanzmärkten, auch das eine Schlacht mit komplizierten, absurden Koalitionen und Millionen Schwerstbetrogenen und Millionen von Illusionsverwundeten, die wie einst die Soldaten gedacht hatten, sie hätten ein halbwegs gesichertes Auskommen, einst bei der Armee, heute bei der Bank. So pendelten die Gedanken zwischen den beiden Schlachten hin und her, der Schlacht an der Oberpforte und der Schlacht in den bei jedem Spaziergang über der City aufragenden Bankentürmen.
Ich las weiter im Wirtschaftsteil der Zeitungen – und schaute aus dem Fenster und versuchte, mich ein wenig sachkundig zu machen über die Schlacht vor zweihundertfünfzig Jahren. Am meisten haben mir dabei die Aufsätze von Gerhard Clauß, Werner Henschke und Ingo Behringer über den „blutigen Karfreitag“ des Jahres 1759 geholfen, bei denen ich mich hier ausdrücklich bedanke.
Auch der siebenjährige Krieg, lernte ich, war ein Kampf um die Vorherrschaft zwischen England und Frankreich. Es ging um nichts geringeres als die Weltherrschaft, es ging um Nordamerika, um Indien, um die Weltmeere. Großbritannien war verbündet mit Preußen und Hannover, Thüringen, Hessen-Cassel. Frankreich mit Österreich, Russland, Sachsen, Württemberg. Und England finanzierte weitgehend die Preußen und ihre Alliierten, damit sie möglichst viele französische Truppen in Europa hielten und banden, sodass diese Truppen nicht in Übersee, in Indien oder Amerika eingesetzt werden konnten und die Engländer dort besser ihre Kolonien ausbauen konnten. Sie hatten dann ja bald alle Hände voll zu tun, in Nordamerika gegen die Unabhängigkeit der Amerikaner zu kämpfen. Deshalb war der siebenjährige Krieg, wie Historiker sagen, der Weltkrieg des 18. Jahrhunderts. Sie sehen, die Politik war schon damals eine hochspannende Angelegenheit.
Beide Parteien hatten es auf Frankfurt abgesehen, die Franzosen waren schneller und besetzten die Stadt, die Preußen versuchten es ebenfalls, kamen aber zu spät. Und statt sich nun im Waldstadion, am Bornheimer Hang oder am Bieberer Berg zu prügeln, trafen die Armeen unterhalb der Berger Warte aufeinander. Ein ideales Schlachtfeld für die Verteidiger, ein katastrophales für die Angreifer.
Rund um dieses Zelt, vor den Stadtmauern von Bergen, das muss man sich erst einmal richtig klar machen, das muss man sich erst einmal mit einer guten Rindswurst auf der Zunge zergehen lassen, hier in Bergen wurde nicht nur um die Mauern, die Berger Warte und das Obertor, die Oberpforte gekämpft, hier kämpften London und Berlin gegen Paris und Wien. Und worum kämpften sie? Um das Neue York und das alte Kalkutta,um Kanada, um die Antillen und das Kap der guten Hoffnung. Bergen als Dreh- und Angelpunkt der Weltpolitik, jedenfalls am 13. April 1759.
Die Franzosen siegten, aber der Sieg nützte ihnen nichts, der Krieg ging ja weiter. Am Ende hatten sie zwar Bergen gewonnen, aber Amerika und Kanada und Indien verloren. Hätten die Preußen gesiegt, wie sie schon gut drei Monate später bei Minden gesiegt haben, hätte ihnen der Sieg auch nicht viel genützt. Der Krieg ging ja weiter, und fast wäre Preußen zerrieben worden.
Die Franzosen unter Broglio siegten, weil sie als erste auf dem Schlachtfeld waren und ausgeruht und von der Berger Warte aus die beste Sicht und freies Schussfeld hatten. Die Preußen unter Ferdinand von Braunschweig, Schwager des Alten Fritz, verloren, weil sie zu spät und erschöpft auf dem Berger Hang eintrafen und ihre Kanonen erst gegen Ende der schon verlorenen Schlacht einsetzen konnten. Die Preußen verloren vor allem deshalb, weil sie keine Spione oder schlechte Spione hatten. Der Herzog von Braunschweig dachte auf 3000 oder 8000 Feinde zu treffen, es waren aber 35000.
Es ist uns nicht verboten, meine Damen und Herren, vom Berger Marktplatz hinüberzuspekulieren zu den Bankentürmen in Frankfurt City. Wer will, mag aus der Vergangenheit ein paar lockere oder banale Schlüsse ziehen über die Kunst, den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort für Attacken oder Verteidigungen zu wählen, über den gelegentlichen Nutzen von Geheimdiensten, Schlüsse über das strategisch beste Verhalten in heutigen Krisenzeiten, bei feindlichen Übernahmen oder freundlichen Rettungspaketen oder kontraproduktiven Abwrackprämien. Man wird als Außenseiter auch fragen dürfen: Wie überflüssig war die Schlacht von Bergen? Wie überflüssig sind die heutigen Schuldenschlachten, wenn die alten Kämpen wieder fast ungehindert Beute machen dürfen auf alten oder neuen Schlachtfeldern?
Ich will hier nicht zu viel herumspekulieren, nur eine Sache noch, die dem Stadtschreiber an die Niere geht, er hat nur noch eine. Also, den Blick noch einmal Richtung Westen zu den schönen Türmen. Da gab es einmal in Frankfurt eine Gruppe tüchtiger Steuerfahnder, die für besonders vermögende Nichtsteuerzahler und entsprechende Firmen zuständig waren. So kam wenigstens ein Teil der weggeschwindelten Millionen wieder in die Kassen des Landes Hessen. Dafür wurden diese Fahnder jedoch nicht befördert, sondern auf harmlose Posten versetzt, und als sie sich beim Finanzminister beschwerten und, weil der nicht antwortete, auch beim Ministerpräsidenten, wurden sie zu einem vom Land Hessen bevorzugten Psychiater bestellt, der sie nach einer Stunde Gespräch für „anpassungsgestört“ und damit für „dienstunfähig“ erklärte, worauf die pflichttreuen Beamten, darunter zwei im Alter von Mitte dreißig, vom Finanzministerium in den Ruhestand versetzt wurden. Diese Geschichte wurde, so weit ich sehe, in der hessischen Presse nur sehr zaghaft aufgegriffen, niemand will es sich mit dem Finanzminister verderben. Wie man hört, leide die Attraktivität des Finanzplatzes Frankfurt, wenn dort nach Recht und Gesetz gehandelt werde. Die entlassenen Beamten arbeiten inzwischen wieder, als Steuerberater für die Gegenseite, die Steuerschieber. Alle zufrieden? Alle zufrieden, dass Hessen so hübsch italienisch wird?
Ziehen Sie Ihre Schlüsse daraus, meine Damen und Herren, so wie ich die meinen aus der Schlacht bei Bergen ziehe.
Ist diese Schlacht wirklich schon vorbei? Ich sehe hier auf dem Marktplatz, in diesem Zelt und rund um dieses Zelt immer noch tausende Männer stürmen, stehen, schießen, liegen, brüllen, kommandieren. 35000 Mann bei der französisch-österreichischen Koalition, 27000 bei der britisch-preußischen. Stellen Sie sich vor, 62 Zelte groß wie dieses, nebeneinander, voll mit Männern, die statt Gläsern mit Bier und Äppelwoi Gewehre heben und dann Tisch für Tisch aufeinander losgehen, keine sehr appetitliche Veranstaltung. Am Ende soll es neunhundert tote Pferde, tausend Tote und gut viertausend Verwundete gegeben haben, aber die Zahlen sind Propagandazahlen, denn die wahren Zahlen waren natürlich keine Werbung für die beiden Armeen, die dauernd neue, junge Soldaten anwerben mussten.
Und die Leute von Bergen, wo blieben sie? Am Tag der Schlacht verzogen sie sich in die Gewölbekeller unter den Häusern. Kein Bürger kam um. Die Not begann danach.
„In der Nacht nach der Schlacht“, ich zitiere Gerhard Clauß, „regnete es weiter. Nun war auch die Stunde der Plünderer gekommen. Sie wussten, dass ein Soldat seine Barschaft und wertvolle Beutestücke ins Gefecht mitnahm. Nun holten sie sich, was vorher anderen abgenommen worden war. Aber auch Kleidung, Stiefel und andere Ausrüstung wurde mitgenommen. Zwölf Stunden nach der Schlacht lagen immer noch wimmernde Sterbende im Feld. … Viel wird über die Ausgelassenheit der Sieger berichtet, die nicht nur in Bergen, sondern auch in Frankfurt die Anwohner drangsalierten. Die Berger hatten zwar in ihren Kellern überlebt, wurden jetzt jedoch im Siegesrausch ‚bis aufs Hemd‘ ausgeplündert.“
Bis aufs Hemd ausgeplündert, nein, ich werde keine weiteren Anspielungen auf die heutigen Zeiten machen und auch nicht auf die künftigen Schuldenzeiten. Ich wollte Ihnen nur berichten, was einem Stadtschreiber so durch den Kopf gehen kann, wenn er in aller Unschuld, wie man so schön unschuldig sagt, ein Heimatmuseum besucht.
In den zwei Minuten, die ich noch im Amt bin als Stadtschreiber, werde ich es wohl nicht erleben, dass der hessische Finanzminister mit dem edlen Namen Weimar seinen Hut nimmt und mit dem Hut wenigstens ein paar der verschenkten Millionen zurückbettelt. Aber ich wünsche Ulrich Peltzer, dass er das in seinem Jahr erlebt. Ich wünsche dem neuen Stadtschreiber ein Jahr mit guten Fern- und Feinblicken auf die Bankentürme, die Streuobstwiesen und die Marktstraße. A propos Marktstraße, mehrere Bürger haben mich gebeten, einmal öffentlich zu fragen, warum rasende Autos, keiner hält sich ja an die 30, die schönste Straße Bergens immer noch so unwirtlich machen dürfen, als lebten wir immer noch in den sechziger, siebziger Jahren, als die Fußgänger und Einkäufer von Lärm, Gestank und Gefahr in die Flucht geschlagen wurden. Warum nicht 15 Kilometer pro Stunde und Einbahnstraße, außer für die Busse? Ich gebe die Frage an Sie weiter, lieber, geschätzter, umsichtiger Herr Ortsvorsteher.
Zum Schluss möchte ich mich ganz herzlich bei Monika Steinkopf, der deutschen Meisterin im Buchhandelswesen, und bei Adrienne Schneider bedanken, bei Frau Grebe und Frau Fink. Ich danke ebenso herzlich Herrn Netz, Herrn Reisen, Herrn Uhlshöfer und, noch einmal, den anderen Jury-Mitgliedern. Und ich bedanke mich bei Ihnen allen, fürs Zuhören, heute und an anderen Tagen. Und hören Sie bitte mit ebensoviel, nein mit noch mehr Aufgeschlossenheit und Neugier Ulrich Peltzer zu, es lohnt sich. Denn, Sie erinnern sich an meinen Spruch von Goethe: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“