Friedrich Christian Delius, FCD

Wie scheintot war die Literatur? Kursbuch 15 und die Folgen

Wie scheintot war die Literatur? Kursbuch 15 und die Folgen

Anläßlich einer Ausstellungseröffnung: Gedanken beim Wiederlesen des legendären „Kursbuch 15“

Von 1968 habe ich, offen gesagt, die Schnauze voll. Nicht von den alten Erfahrungen, die auch meine Studentenjahre gewürzt haben und nun, ein halbes Leben zurückliegen. Was das Thema 68 so degoutant macht, ist seine mediale Zubereitung zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Jahre später. Bei fast allem, was man dazu lesen, sehen, hören kann, stellt sich alsbald ein Gefühl des Widerspruchs ein, das vereinfacht in drei Wörtern ausgedrückt werden könnte: Nicht schon wieder! oder, protest-literarisch gesagt: Alles war anders!
Die Bilder, Berichte und Dokumente aus alten Zeiten lügen nicht, aber sie lügen doch. Sie zeigen die Leute aus den ersten Reihen, die wildesten Gesichter, die nacktesten Kommunarden, die plakativsten Plakate, die unordentlichsten Wohnungen, die rotesten Fahnen, die spektakulärsten Aktionen. Zitiert werden die kämpferischsten Reden, das auffälligste Polit-Kauderwelsch, die euphorischen – und nicht die skeptischen Stimmen.
Zu diesem schlechten, aber mediengerechten Brauch gehört es, daß bei allen entsprechenden Jubiläumsfeierlichkeiten in unziemlich privilegierter Weise meistens solche Veteranen zu Wort kommen, die schon 1968 Wortführer waren. Zeitzeugen, die sich im Kreise drehen und vor unseren Augen fossilieren, selbst wenn sie selbstkritisch Richtiges, Nachdenkenswertes sagen. Seit dreißig Jahren vermitteln sie das gleiche Bild: Wir haben den Durchblick. (Und Sie haben dies zweifelhafte Vergnügen jetzt mit einem Veteranen wie mir – obwohl ich zugeben muß, immer noch keinen Durchblick zu haben.)
Keine politische Bewegung ist so auf ihre eigenen Mythen und Klischees hereingefallen wie die 68er. Die meisten dieser Klischees sind sogar nicht einmal falsch. Trotzdem sage ich: Alles war anders, nämlich viel widersprüchlicher, mehrdeutiger, spielerischer. Schon bei der Definition „68“ oder „68er“ verengt sich alles zur Schablone. Ich sträube mich nach Kräften, als „68er“ beschimpft oder gefeiert zu werden. Wenn einem schon ein Jahrgangsetikett angepappt wird, dann ziehe ich den 66er vor: die Phase des Aufbruchs, des Kulturbruchs, der Horizonterweiterungen. Meine Erzählung Amerikahaus und der Tanz um die Frauen ist u.a. ein Versuch, diese noch nicht von Superlativen, Maximalforderungen, Ideologie und Rhetorik geprägten Jahre 1966 und 1967 zu rehabilitieren.
Selbst eine Ausstellung wie die, die heute eröffnet wird, kann ich nicht ohne das Gefühl von Peinlichkeit betrachten. Jedenfalls ging es mir so auf der Schillerhöhe im schönen Marbach. Manche Exponate sehe ich mir gewissermaßen nur mit spitzen Fingern an. Das liegt an der rüden Sprache des Behauptens, an der selbstgerechten Sprache der Verachtung gegen alles, was nicht dem eingebildeten Avantgardestatus entsprach. Zum näheren Hinschauen verlocken die Briefe, Notizen und Entwürfe.
Die Plakate aber, die Resolutionen, die Flugblätter, etliche Bücher, das meiste wirkt, wenn nicht schrecklich einfältig, dann doch schrecklich eindeutig. Daran möchte man, selbst wenn man damals schon einige Distanz im Blick hatte, nicht gern erinnert werden. Überdies, die Exponate, auch wenn sie angestoßen sind, Anstreichungen oder Fettflecken aufweisen, kommen einem, so ausgestellt und von ihrem Apfelsinenkistenmilieu isoliert, wie gereinigt vor, reiner als sie einem vor dreißig Jahren begegnet sind. Was damals relativ war, erscheint heute absolut. Was damals mitten in einem Wust von Texten und Papierstapel lag und bald vergilbte, erscheint heute, durch die Historie und die Literaturhistoriker geadelt, als zeittypisches Spitzenprodukt. Das ist nicht zu vermeiden. Es sollte nicht nur vergessen werden, daß junge, schreibende, studierende Menschen damals- und ich behaupte: sogar die Mehrheit der politisch und literarisch aufgeweckten Studenten – sich nur mit wenigen dieser Texte wirklich „identifizierten“ und sie zu ihrer Bibel machten. Die Vorbehalte gegen einen großen Teil dieser „Protest!Literatur“ waren schon damals beachtlich.
Hans Christoph Buch und ich haben zum Beispiel den Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden mit den SDS-Studenten, die ein Papier zum Thema „Kultur und Revolution“ erarbeiteten, nach zwei Sitzungen aufgegeben. Deren Manifest ist dann sogar in der Zeit erschienen. Meine Reserven zum Beispiel richteten sich ebenso gegen die SDS-Vorschriften wie gegen die hochnarzißtische Arroganz Rolf Dieter Brinkmanns oder etwas später gegen die Bertelsmann-DKP-Connection in der AutorenEdition. Sich abgrenzen und dennoch hellwach sich von allem anregen zu lassen, das gehörte auch damals zu den Kunststücken der künstlerisch tätigen Leute.
Es war ja alles in Bewegung, und es passierte dauernd etwas Neues, Gewaltiges, anno 68. Der Krieg in Vietnam und die Proteste dagegen auf neuen Höhepunkten, die Schüsse auf Rudi Dutschke, der Kampf gegen Springer, die anarchistisch-terroristischen Anfänge, gesponsert vom Berliner Verfassungsschutz (was wir damals noch nicht wußten). Der Mai-Aufstand der Pariser Studenten. Dann der Tiefschlag vom August, der Warschauer Pakt unterdrückt mit Panzern den Prager Frühling, eine Enttäuschung und Desillusionierung, die immer noch unterschätzt wird. Schließlich der von den USA geförderte Militärputsch in Griechenland. Dies nur die Schlagzeilen – und nur Plattköpfe können behaupten, das alles auf die Reihe, in eine Formel zu kriegen.
Falls also zu 68 noch irgend etwas Erhellendes zu sagen ist, dann wäre es vielleicht dies: von der Suche zu sprechen, der Suche auch nach der eigenen Nützlichkeit und dem Gebrauchswert eigenen Tuns, von der Ambivalenz und der Mehrschichtigkeit, die das hektische Leben wie das übereifrige Lernen bestimmten. Was heute uniform erscheint, war einmal Pluralität. Die 68er Bewegungen, ich bestehe auf dem Plural, sind, auch das belegt die Ausstellung, in sich sehr widersprüchlich gewesen, viel widersprüchlicher, als es selbst die besten Fotos von Michael Ruetz zeigen. Zu jeder These gab es eine Gegenthese. Synthesen waren verpönt, sie hätten schließlich die Ernsthaftigkeit unterminiert und wären versöhnlerisch gewesen. Jeder Ideologisierung folgte ein Gegenprogramm, das sich bald wieder ideologisch verengte und dann von einer neuen Gegenidee angegriffen wurde, die ihrerseits erstarrte, usw. Der Wettlauf auf den getippten, hektographierten oder gedruckten Papieren um das möglichst revolutionäre, möglichst allgemeingültige Ideengut mußte so ganz logisch entweder implodieren oder zum Stillstand kommen. Das sollten heutige Forscher, Betrachter, 68er-Hasser und Nostalgiker beachten: Wer immer sich Details, Bilder, Sätze, Thesen aus den Strömungen dieser großen Zirkulation herausfischt und die Gegenbilder, -sätze, -thesen wegläßt, wandelt auf dem bequemen Pfad der Legendenbildung.

Zu den vielen Legenden, die sich gehalten haben, gehört die vom „Tod der Literatur“. In jenem berüchtigten Kursbuch 15 vom November 1968 sei, so liest und hört man immer wieder, der „Tod der Literatur“ ausgerufen worden, vornehmlich von Hans Magnus Enzensberger, Walter Boehlich und Karl Markus Michel. Das ist Unsinn. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum im Horrorfilm 68 einige Autoren dieses Heftes zu Meuchelmördern an Kunst, Literatur und Liberalität stilisiert wurden. Ich gebe zu, ich bin ein wenig Partei, vielleicht sogar ein Mittäter oder Komplize, da auch vier Gedichte von mir in jenem Kursbuch zu finden sind – soweit ich sachdienliche Hinweise geben kann, komme ich später darauf zurück.
Exakt nach 30 Jahren habe ich nun das Heft mit seinen rund 200 Seiten noch einmal gelesen, von vorn bis hinten. Es ist viel amüsanter als vermutet. Erstaunlich zunächst der weite Blick auf die Weltliteratur, für den der Herausgeber Enzensberger schon damals berühmt war. Er beginnt mit einem Vorabdruck aus dem Cimarrón, dem von Miguel Barnet eingerichteten Lebensbericht eines ehemaligen Sklaven aus Kuba, ein klassisch-simpler dokumentarischer Text. Dann schreiben Lu Hsün und andere Chinesen über Literatur und Revolution (dagegen jedoch sperrten sich, ähnlich wie vor 30 Jahren, mein Sinn, Verstand und Sprachgefühl), ehe Samuel Beckett mit dem Anfang seines bis dato noch nicht ins Deutsche übersetzten Romans Watt mit Spott und Humor wieder für Ausgleich sorgt. Es folgen einige der damals völlig unbekannten Prosastücke von Daniil Charms, in der Sowjetunion immer noch verboten, zum ersten Mal auf deutsch, entdeckt von Peter Urban. Ingeborg Bachmanns vier späte Gedichte Keine Delikatessen, Enigma, Prag Jänner 64 und Böhmen liegt am Meer sind für mich der Höhepunkt des Heftes. Ich will nicht das ganze Inhaltsverzeichnis aufzählen, es soll nur gesagt sein, daß neben dem Kubaner und den Chinesen, vertreten auch durch ein nicht ganz schlüsselfertiges Gedicht von Mao Tse-Tung, neben dem verfolgten Russen, Beckett und Bachmann der junge US-Amerikaner Donald Barthelme, der chilenische Lyriker Nicanor Parra, der Schwede Lars Gustafsson mit dem Essay Über das Phantastische in der Literatur vertreten sind. Gustafsson, nebenbei, preist die phantastische als den Gegenpol zur ideologisch geprägten Kunst und argumentiert fröhlich antimarxistisch. Schließlich ist Julio Cortazar vertreten, der noch als in Paris lebender Übersetzer (!) vorgestellt wird, mit Auszügen aus Reise um den Tag in 80 Welten. Bemerkenswert ist nicht, daß hier so viele Autoren auftauchen, die erst später berühmt wurden. Das gehört zur Aufgabe einer anständigen Zeitschrift. Überraschend ist vielmehr die große Pluralität an literarischen Formen und nationalen Färbungen in einem einzigen Heft. Lebendiger hätte man die Weltliteratur des Jahres 1968 kaum vorstellen können. Und das soll der „Tod der Literatur“ gewesen sein? Nein, hier wurde Literatur in ihren verschiedensten Facetten und Möglichkeiten gewürdigt und gefeiert und keineswegs begraben. Und auch in den deutschen Beiträgen, überwiegend Gedichte und Essays, mehr oder minder gelungen, werden alle möglichen Litaneien und Töne angestimmt, nur keine Abgesänge auf die Literatur, wenn man von Ingeborg Bachmanns Keine Delikatessen absieht.

Wenden wir uns trotzdem den Texten der drei mutmaßlichen Meuchelmörder zu. In den redaktionellen Anmerkungen heißt es: „Die Aufsätze von Walter Boehlich, Karl Markus Michel und Hans Magnus Enzensberger sind unabhängig voneinander entstanden.“ Das befreit sie natürlich nicht vom Anfangsverdacht, denn sie kommen alle aus dem gleichen Milieu. Walter Boehlich, ehemals Suhrkamp-Lektor und einer der gebildetsten Köpfe der Nation. Ähnliches gilt für Karl Markus Michel, damals Suhrkamp-Sachbuch-Lektor und Kursbuch-Redakteur. Hans Magnus Enzensberger, ehemaliger Suhrkamp-Lektor und wichtiger Suhrkamp-Berater, unermüdlich produktiv auf vielen literarischen Feldern. Was haben die drei angerichtet, daß man sie für den „Tod der Literatur“ verantwortlich macht?
Den schwierigsten Part übernimmt Karl Markus Michel. Unter dem provozierend doppeldeutigen Titel „Ein Kranz für die Literatur“ beleuchtet er zuerst die Graffiti und andere verbalen Angriffe der französischen Studenten im Mai ’68 auf literarische Leitfiguren bis hin zu Sartre. In Paris war man auch an diesem Punkt viel radikaler als in Berlin. Michel macht sich über die Rhetorik vom „Tod der Literatur“ auf diskrete Art lustig und weist daraufhin, daß die Kunst in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche immer wieder unter Rechtfertigungsdruck steht. Die Kunst brauche sogar diesen Druck, sie sei stets den nie eindeutig zu beantwortenden Fragen ausgesetzt: Wie weit ist sie Widerstand? Ist sie affirmativ oder integrativ? Wie weit Religion? Michels Kritik ist klar: „Die neue Linke, so scheint es, verschmäht diese Tröstungen. Was immer ihre Theorie sein mag: Ihre Praxis zeigt, daß sie den Kampf, der – streng marxistisch – der Basis gelten sollte, in erster Linie gegen den Überbau führt… In den schönen Garten Literatur, der seine Gärtner ernährte, ist ein Barbar eingebrochen, und nicht, daß er einiges kaputtmacht, ist das schlimmste, sondern daß er nicht unterscheiden mag zwischen Unkraut und Kraut. Ihm ist alles ‚Ware‘, ‚Alibi‘, ‚Manipulation‘, und was er gelten läßt, ist nur er selbst.“
Kann man, so frage ich, den Garten Literatur leidenschaftlicher verteidigen?
Walter Boehlich dagegen macht sich alles sehr einfach. In seinem „Autodafé“, wie eine Zugabe als Plakatbogen dem Kursbuch beigelegt und dadurch besonders herausgehoben, behauptet er: „Die Kritik ist tot. Welche? Die bürgerliche, die herrschende. Sie ist gestorben an sich selbst, gestorben mit der bürgerlichen Welt, zu der sie gehört, gestorben mit der bürgerlichen Literatur, die sie schulterklopfend begleitet hat, gestorben mit der bürgerlichen Ästhetik, auf die sie ihre Regeln gegründet hat, gestorben mit dem bürgerlichen Gott, der ihr seinen Segen gegeben hat…“ Es ist dann weiter vom toten Gott, von toter Ästhetik, von toter Literatur, von toter Welt und toter Kritik die Rede, immer rhetorischer, theologischer, abstrakt und verstiegen-hilflos. Was Boehlich will, sagt er nur an einer Stelle: „Eine Kritik, … die endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als das Entscheidende versteht und damit die künstlerische Funktion als eine beiläufige erkennt.“
Gesellschaftliche Funktion, das war die zentrale Frage von ’68, die in allen Aspekten gründlich diskutiert werden mußte und viele Autoren mit Recht beschäftigt hat – aber in der Weise, wie Boehlich sie verabsolutiert, ist sie bei aller Hochrhetorik doch nur banausenhaft. Im Grunde eine der elendsten Anbiederungen an jene Barbaren, von denen Michel gesprochen hat. Darum war dieser Kursbogen auch etliche Jahr lang an den Wänden hyperkritischer studentischer Geister zu sehen. Schriftsteller haben ihn, soviel ich weiß, nicht bejubelt. In meinem Exemplar hat der Autor, der ich war, im ersten Satz „Die Kritik ist tot“ „Die Kritik“ durchgestrichen und „Boehlich“ darübergeschrieben. Nicht gerade feinfühlig, aber mit dem Holzhammer eines roten Kugelschreibers zurückgeschlagen. Wir dürfen uns freuen, daß Boehlich die 30 Jahre gut überlebt und den Garten Literatur mit vielen ausgesuchten Pflanzen und radikaler, also an die Wurzeln gehender bürgerlicher Kritik bereichert hat.
Nun zum dritten, Hans Magnus Enzensberger. In den „Gemeinplätzen, die Neueste Literatur betreffend“, mokierte er sich, im gewohnten, ironisch abgefederten Ton lässiger Übertreibung, über diejenigen Literaten, die das Ende der Literatur feiern. Er diagnostiziert „Unbehagen, Ungeduld, Unlust“ bei den Schreibern und Lesern und führt das auf das Erschrecken vor dem Markt zurück – nicht etwa auf die Pariser Parolen. Der Literatur seien im Nachkriegsdeutschland „Entlastungs- und Ersatzfunktion aufgeladen (worden), denen sie natürlich nicht gewachsen war“, ihr Aufstieg sei mit „theorieblindem Optimismus“ erkauft worden. Die surrealistische Literatur sei ebenso an ihre Grenze gekommen wie die ideologisch-agitatorische, und wie die Verhältnisse so seien, habe nur die bürgerliche Literatur noch Entwicklungschancen. Der Imperialismus habe effektivere Instrumente zur Manipulation des Bewußtseins, auf die Literatur sei er nicht mehr angewiesen. Die „politische Harmlosigkeit aller literarischen, ja aller künstlerischen Erzeugnisse“ liege offen zutage.
Enzensberger warnt aber vor dem „revolutionären Gefuchtel, das in der Liquidierung der Literatur Erleichterung für die eigenen Ohnmacht sucht“. Den Studenten empfiehlt er, nicht gegen die Verfasser von Romanen und Gedichtbändchen vorzugehen, sondern gegen die mächtigen kulturellen Apparate.
Dann folgt der berühmte Ratschlag, den ich ausführlich zitiere: „Für Schriftsteller, die sich mit ihrer Harmlosigkeit nicht abfinden können, und wie viele werden das sein? habe ich nur bescheidene, ja geradezu dürftige Vorschläge zu machen. Vor allem schlüge uns vermutlich zum Vorteil aus, was offenbar am schwersten fällt: eine angemessene Einschätzung unserer eigenen Bedeutung. Es ist nichts damit gewonnen, wenn wir, vom Selbstzweifel angenagt und durch Sprechchöre verschüchtert, die herkömmliche Imponier- mit einer neu eingeübten Demutsgeste vertauschen. So schwer sollte es in einer Gesellschaft, in der das politische Analphabetentum Triumphe feiert, doch nicht sein, für Leute, die lesen und schreiben können, begrenzte, aber nutzbringende Beschäftigungen zu finden.“
Zur „politischen Alphabetisierung Deutschlands“ empfiehlt er, Reportagen, Kolumnen, Berichte zu schreiben, und relativiert auch diesen Vorschlag. Mit keiner Silbe aber redet er dem Tod oder der Abwertung der Literatur das Wort, im Gegenteil. Er verteidigt Poesie und Prosa und offeriert den Ratlosen und Radikalen eine produktive Antwort, fast salomonisch: „Schriftsteller, die sich mit ihrer Harmlosigkeit nicht abfinden können.“ Der ironische Unterton ist nicht zu überhören, aber anders waren Enzensbergers intelligente Vorschläge nie zu haben. Er jedenfalls kann weiter Gedichte schreiben und sich mit dokumentarischen Texten an der Alphabetisierung beteiligen.
Das ganze „Kursbuch 15“ ist also ein Manifest gegen das Gerede vom Tod der Literatur, das eben nicht von Autoren und nur selten von Essayisten wie Boehlich angestimmt wurde. Eine Ausnahme ist Peter Schneider im folgenden „Kursbuch 16“ (beim „Kursbuch 15“ hat er, wie so häufig, seinen Abgabetermin nicht eingehalten), vor allem mit seiner „Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller“. Schneider, das darf man nicht vergessen, war damals jedoch noch kein Buch-Autor, sondern Agitator und Aktivist in Trento. Der Schlachtruf vom „Tod der Literatur“ kam von Studenten, vornehmlich von Literaturstudenten. Welche vatermörderischen oder muttermörderischen Gründe diese Studenten zu solchen Attacken hatten und warum sie das „Kursbuch 15“ so gründlich mißverstehen wollten, kann man sich im 68er Klima leicht vorstellen: Alles in Frage stellen, radikalisieren und mit neuen Parolen neue Gewißheiten setzen, oberflächlich, auf Reizworte hin lesen – und zuerst einmal abräumen, wovon man am meisten profitiert hat, z.B. von der Literatur.

Vielleicht aber – und nun muß ich, zum Schluß, wie ein echter Veteran doch etwas aus der Memoirenkiste zaubern – vielleicht, dachte ich beim Wiederlesen, habe ja auch ich einiges zu diesem Mißverständnis beigetragen? Acht Epigramme von Arnfried Astel, ein Theater-Essay von Michael Buselmeier und einer von Karsunke, dazwischen vier Gedichte von Delius, mit vollem Vornamen, und das erste geht gleich zur Sache:

Armes Schwein

Um zwei Uhr nachts stürmten wir das Haus
des namhaften Kritikers. Der saß noch bei der Arbeit,
sprang sofort erleichtert auf und
nahm die Arme hoch. Sah zu, zufrieden
spielte er Entrüstung, als wir seine Bücher
in die Wäschekörbe packten, faßte aber nicht
mit an. Wir dachten an seinen bekannten
Enthusiasmus für „La Chinoise“, ließen ihm also
Majakowskij und Brecht. Schon holte er Wein
aus dem Keller. Als wir die Schallplatten
wegnahmen, sagte er bloß, er wolle von Beethoven
sowieso nichts mehr wissen, bestand aber plötzlich
auf Albert Ayler. Wir stimmten ab, ja der
sollte ihm bleiben. Wir tanzten mit seiner Frau.
Sie lud uns in die Küche, manierlich aßen wir
die Delikatessen auf. Er wollte uns dann
mit Whisky halten. Es wurde hell, wir schleppten
das Zeug endlich raus, da bot er uns das Du an.
Das, fanden wir, ging zu weit.
Da haben wir also doch wieder einen Fehler gemacht.

Das Gedicht ist von vorn bis hinten Fiktion, solche Aktionen hat es nie gegeben, und wenn, wäre sein Autor der letzte gewesen, der sich daran beteiligt hätte, a) aus Angst, b) aus Prinzip. (Der Anlaß übrigens war eine Party bei einem Literaturkritiker, der sich in der Tat mit dem Satz gebrüstet hatte, er wolle von Beethoven sowieso nichts mehr wissen.) Der Witz des Gedichts liegt, eindeutiger geht es nicht, in der Anbiederung, in der Unterwerfung, in der Zustimmung des Kritikers mit denen, die ihm Bücher und Platten wegnehmen. Natürlich kokettiert das Gedicht, bzw. sein Autor, mit dem Vergnügen an der Gewalt eines solchen Überfalls, und deshalb ist mir heute, wenn ich es lese, ein wenig unbehaglich. Aufgespießt wird der Opportunismus des Kritikers, eine damals offenbar verbreitete Haltung, wie die Texte von Michel, Boehling und Enzensberger belegen.
Diesen Witz, diese Volte hat zum Beispiel Alfred Andersch nicht verstanden, der sich nur an SA-Überfälle erinnert fühlte – man bedenke: 1968 liegt heute 30, 31 Jahre zurück, aber 1968 lag 1945 erst 23 Jahre zurück. Andersch reagierte in der „Süddeutschen Zeitung“ empört und ging zu Enzensberger auf Distanz. Sie könenn das in der Ausstellung nachlesen. (Ein paar Jahre später immerhin haben wir, als ich im Rotbuch Verlag arbeitete, zwei, drei freundliche Briefe gewechselt.)
Solch rüde Ironie galt nicht allein dem Kritiker. In einem anderen Gedicht karikiert oder rechtfertigt der Autor seine Rolle als „Mitläufer“ der Studentenbewegung, das beginnt mit dem Schlüsselsatz: „Er ist gesehen worden, wie er zusah.“ Der Autor definiert sich als teilnehmender Zuschauer, mitlaufender Beschreiber, als sich beobachtender Beobachter. Also wieder einmal: Nichts da vom Tod der Literatur, sondern Literatur als Ziel und vielleicht als Mittel.

„Es gibt auf der Welt allerhand Dinge, die ich mir nicht erklären kann.“ Das ist kein Satz von heute, nein, das ist der erste Satz im „Kursbuch 15“, aus dem Cimarrón. Kann man sich einen stärkeren Anti-68er-Satz vorstellen? Gegen das Gewißheitsdenken, das Alles-erklären-Wollen, die revolutionäre Heilsbotschaft. Und der letzte Satz lautet, von Enzensberger zitiert: „Kalenderspruch. In Türangeln gibt es keine Holzwürmer.“
Bitte, meine Herren, öffnen Sie die Türen zur Ausstellung. Bitte, meine Damen und Herren, gedenken Sie der Holzwürmer mit Nachsicht.

Diese Rede wurde zur Eröffnung der Marbacher Ausstellung „Protest!Literatur um 1968“ im Literaturhaus Berlin gehalten. (Frankfurter Rundschau, 06.02.1999)

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