Friedrich Christian Delius, FCD

Die Wahl des Harlekins

Die Wahl des Harlekins

Europas falsche Liebe zu Italien übersieht Berlusconis brutalen Kampf um die Macht

Erinnert sich noch jemand an Rocco Buttiglione? An den italienischen Kandidaten für die EU-Kommission, der seine abfällige Meinung über Homosexuelle ein wenig zu eifrig zum Besten gab? Damals hat Europa, es war noch vor den Verfassungs-Ablehnungen, gut funktioniert: Der vielstimmige Protest gegen diesen Mann aus der Mitte-rechts-Regierung zwang Silvio Berlusconi, seinen Kandidaten zurückzuziehen. Das Manöver garnierte der Regierungschef mit lautstarken Klagen über antiitalienische Ressentiments – die es freilich nicht gibt.

Um Berlusconi zu verstehen, genügt ein ziemlich einfacher Decoder: Fast immer ist genau das Gegenteil von dem, was er behauptet, richtig. So auch in diesem Fall. Das Problem zwischen Europa und Italien besteht nämlich darin, dass die Europäer blind vor Liebe zu Italien sind. Kein zweites europäisches Land hat ein so gutes Image wie Italien, und das zu Recht. Der Tourist erwartet Sonne, Meer, gutes Essen, viel Kunst, prächtige Landschaften, landesübliche Freundlichkeiten und ein wenig Dolce Vita. Aber bitte keine Politik. Deshalb gehört es zum guten Ton, die italienische Politik überhaupt nicht oder als Teil der Folklore zu betrachten. Schon vor Jahren hat Umberto Eco gestöhnt: „Welche Schande, wir haben keine Feinde!“ In Wirklichkeit ist es schlimmer: Alle lieben Bella Italia. Anders ist nicht zu erklären, warum Italien zuletzt mit dem Skandälchen um Buttiglione in Europas Schlagzeilen kam. Während Berlusconi noch auf die Italienfeinde schimpfte, präsentierte er einen neuen Kandidaten, seinen Außenminister, Franco Frattini. Er wurde Vizepräsident der Kommission und erhielt das Ressort Justiz, Freiheit und Sicherheit.

Italien und Justiz? War da was? Gab es da nicht einige dunkle Geschichten zwischen der Justiz und Frattinis Chef? Das Parlament ging zur Tagesordnung über. Europäer lieben Italien. Niemand wollte sich noch einmal Ressentiments andichten lassen. Niemand hielt es für nötig, in die Archive zu schauen: Frattini gilt als Urheber des „Lex Berlusconi“, das den Premier von allen Interessenkonflikten freispricht, und der größten politischen Säuberungswelle unter der Beamtenschaft, die es seit dem Faschismus gegeben hat. Weder in Brüssel noch in der internationalen Presse wurden Bedenken laut.

Anderthalb Jahre ist das her, und von diesem geschmeidigen Herrn hat man seitdem nicht viel gehört. Auf seiner Web-Seite erfahren wir, welche Reden er in aller Welt gehalten hat, meist zum Thema Terrorismus. Dabei hätte er seit seinem Amtsantritt, bei dem er sich zur Überparteilichkeit verpflichtet hat, einiges mehr zu tun. Es gibt nämlich ein Land, das einen Kommissar für Justiz und Freiheit rund um die Uhr beschäftigen müsste. Ein Land, das fleißig einen demokratischen Grundsatz nach dem andern dekonstruiert: Italien. So schamlos offen, dass selbst konservative Leute wie Galli della Loggia verzweifeln, ihr Land „gehöre offensichtlich nicht mehr zum Westen“.

Zugegeben, Italien hat es nicht leicht, aus vielen historischen Gründen konnte hier nur eine „schwache Demokratie“ (Alexander Stille) entstehen. Der Faschismus gilt nicht als Verbrechen, bestenfalls als Unfall. Familiäre, klerikale und mafiose Strukturen sind stärker verwurzelt als demokratische. Der Kalte Krieg prägte in Deutschland die Köpfe, Italien aber war eins seiner Schlachtfelder. Kein anderes Land Europas ist von so vielen Korruptions- und Betrugsskandalen, Revolten, Mafia- und Geheimdienstverbrechen erschüttert worden.

Deshalb hat man sich angewöhnt, den Italienern in Sachen Demokratie großzügig Kredit einzuräumen. Man freut sich, völlig zu Recht, am Charme beim lockeren Umgang mit Regeln – und setzt den Touristenblick auf, mit übertriebener Nachsicht und subtiler Arroganz. Zwar wird es auch außerhalb Italiens als bizarr empfunden, wenn der reichste Mann des Landes (11 Milliarden Dollar laut Forbes) gleichzeitig Regierungschef ist und die privaten wie die öffentlich-rechtlichen Medien zu 90 Prozent kontrolliert und in 14 Prozesse verwickelt ist oder war und das Parlament dazu nutzt, allein auf ihn zugeschnittene Gesetze durchzubringen.

Doch ein bisschen Ganoventum, keine Italienliebe ohne Klischee, gesteht der Europäer dem Italiener gerne zu – und merkt nicht, wie er damit die Mehrheit dieses Volkes beleidigt. Angefangen beim konservativen Staatspräsidenten Ciampi, der einen tapferen und letztlich hilflosen Kampf gegen die Dekonstruktion der Demokratie führt, über die große Mehrheit der Richter und Staatsanwälte, der Intellektuellen, über den Unternehmerverband bis hin zu den schwer arbeitenden kleinen Leuten, die sich betrogen sehen wie nie. Ironischerweise kommt die schärfste Kritik am „Cavaliere“ nicht von der Linken, sondern von den großen alten Herren des liberal-konservativen Bürgertums.

Statt Ciampi zu stützen und die Hilferufe ernst zu nehmen, hat auch Brüssel Berlusconi fünf Jahre lang als Folklore hingenommen. Man hat sich angewöhnt, in ihm einen Harlekin aus der Commedia dell’Arte zu sehen. Ein Kasper, sagt sogar Roberto Benigni. Nein, er ist ein Boss, ein Puppenspieler, der als Kasper auftritt. Ein Kasper würde es so leicht nicht schaffen, dass eine Regierung, angeführt von einem Fernsehmagnaten, ein Mediengesetz zu dessen Vorteil durchsetzt, das allein einem seiner Sender den Zugriff auf das terrestrische Digital-TV ermöglicht, gegen den Einspruch der Kartellbehörden. Ein Kasper wäre überfordert, die gleiche Regierung auch noch zu zwingen, aus der Staatskasse 130 Millionen Euro bereitzustellen für die Subventionierung der notwendigen Decoder, die wiederum von einer Firma des Bruders des Premiers geliefert werden. 130 Millionen, ungefähr ein Viertel des minimalen staatlichen Kulturetats, die aus diesem Etat gestrichen werden. Ein Kasper wäre überdies nicht mächtig genug, den Bock, der auch dieses Gesetz konzipiert hat, nämlich Frattini, als Gärtner nach Brüssel zu schicken. Dieser „Kasper“, der Europa eine Nase dreht, agiert nicht nur auf der Vorderbühne. Er verkörpert ein Zukunftsmodell: Politik, Medien, Wirtschaft, Justiz, alles in einer Hand, aber demokratisch gewählt.

Im Augenblick gibt es nur drei Schwachstellen: die Wirtschaft, die Justiz, die Wähler. Ausgerechnet die Wirtschaft ist die Achillesferse des regierenden Unternehmers. Er hat während der Legislaturperiode die Gewinne seiner Firmen verdreifacht, doch das Land liegt am Boden. Italien ist Jahr um Jahr abgerutscht und hat nun die schlechtesten Daten Europas, Wachstum 0,0 Prozent.

Zum Zweiten die Justiz, das Ressort von Frattini. Fünf Jahre lang sah sich die dritte Gewalt schärfsten Angriffen und durchsichtigsten „Reformen“ ausgesetzt. Inzwischen kann der Justizminister, derzeit ein Straßenbau-Ingenieur der Lega Nord, Richtern „grobe Fehlurteile“ vorwerfen und sie dafür disziplinarisch bestrafen. Er hat die Macht, Prozesse an Gerichte zu verlegen, wo ihm die Richter gefälliger scheinen. Die internationale Rechtshilfe ist entscheidend eingeschränkt, um die Beweisführung gegen Berlusconi-Firmen zu erschweren. Staatsanwälten, die gegen die Mafia ermitteln, werden Leibwächter entzogen, aus Spargründen, versteht sich. Und der Premier selbst darf Woche um Woche gegen Richter und Staatsanwälte hetzen. Doch das alles ist nur die Begleitmusik zu der so genannten Justizreform von 2005, die auf einen „Sieg der Ganoven“ (Süddeutsche Zeitung) hinauslief – unter schweigender Duldung Frattinis und der europäischen Gremien.

Die italienische Rechtsfindung krankt daran, dass sich alle Prozesse endlos hinziehen und die meisten gar nicht abgeschlossen werden. Deshalb liegt Italien, was die Effizienz der Justiz betrifft, nach einem Weltbank-Bericht von 2004 auf dem 135. Platz aller Staaten, dem zweitletzten, vor Guatemala. Der Hauptgrund: Die Verjährungsfrist von Straftaten läuft weiter, auch wenn ein Prozess bereits eröffnet oder das Urteil gefällt ist, bis zum letzten Prozesstag der letzten Instanz. Folglich schleppen Anwälte die juristischen Prozeduren so lange wie möglich hin – allein 2004 verjährten 210000 Verfahren. Beste Voraussetzungen für die Wohlhabenden unter den Beklagten, ohne Strafe davonzukommen. Auch Berlusconi hat davon schon mehrfach profitiert.

Ein Rechtsstaat könnte also daran interessiert sein, diese Regelung zu ändern, beispielsweise wie üblich mit einer Aussetzung der Verjährung bei Prozessbeginn. Tatsächlich hat sich die Regierungsmehrheit zu einer Änderung aufgerafft – jedoch auf unerwartet kreative Weise: Die Verjährungsfristen sind nun erheblich verkürzt, von fünfzehn auf siebeneinhalb Jahre, speziell für Wirtschafts- und Korruptionsdelikte. Bei den oberen Zehntausend der Kriminellen, Mafiosi, korrupten Politikern, wird es nicht mehr zu Urteilen kommen.

Die Opposition opponiert, machtlos. Staatspräsident Ciampi kann ein Gesetz nur einmal zurückweisen, dann muss er unterschreiben. Das Fernsehen hakt solche Reformen bestenfalls als „Streit“ ab. Eine Zensur findet statt. Zeitungen, die überparteilich kritisch sind, kann man an einer Hand abzählen. In Sachen Pressefreiheit rangiert Italien laut der US-Organisation Freedom House an 77. Stelle neben Bolivien und der Mongolei, nicht sehr ehrenvoll für ein Kernland der EU, nur „teilweise frei“. Dafür pflegt man die Bräuche des Stalinismus: Wenn Berlusconi zum Beispiel das Pech hat, bei den UN vor leeren Reihen zu sprechen, schneidet die staatliche Rai Bilder von begeistert klatschenden UN-Delegierten hinzu.

Großzügig oder italienliebesblind wird nicht realisiert, dass jener „Kasper“ in den meisten europäischen Ländern längst hinter Gittern säße. In den USA wäre er geächtet, schon weil er die Strafen für Bilanzfälschung abschaffte. Wenn man an deutsche Kriterien denkt, wo Politiker zurückgetreten sind, weil sie ein paar dienstlich gesammelte Lufthansa-Meilen privat nutzten, hätte ein deutscher Berlusconi allein zwischen 2001 und heute mindestens ein Dutzend Mal zurücktreten müssen. Die meisten seiner Minister auch. Die Zeitschrift micromega stellte kürzlich eine Hitliste der 25 „am wenigsten präsentablen“ Abgeordneten aus beiden Häusern auf, die bereits wegen Korruption, teils auch wegen Mafiakontakten verurteilt sind: 21 gehören zur Regierungskoalition, vier zur Opposition. Wenn man weiß, wie selten es zu Urteilen kommt…

Und die Wähler? „Alle sind wir müde“, schreibt Alberto Scarponi, vor allem politikmüde. Da Berlusconi Woche um Woche das produziert, was nördlich der Alpen als Skandal gelten würde, um Schlagzeilen und Bildschirme zu besetzen und Thema Nummer eins zu sein, ist das Reservoir für Aufregungen ziemlich erschöpft. Der Trick, jeden Tag mit einer neuen Frechheit zu glänzen, zermürbt die Gegner. Der zweite Trick, alle seine Kritiker als „kommunistisch“ oder „italienfeindlich“ zu denunzieren, bringt diese nie aus der Defensive. Es wird sich am 9./10. April zeigen, ob diese Tricks (noch) wirken.

Freilich bewundern ihn, den Schlausten der Schlauen, immer noch viele für die List, in die Politik gegangen zu sein und mit seinen Angestellten, Anwälten und Geschäftsfreunden eine eigene Partei erfunden zu haben, um der Strafverfolgung zu entkommen. Eine Partei des Personenkults, ohne Abstimmungen, ohne Statut, „die letzte stalinistische Partei der Welt“, wie ein Staatssekretär und ehemaliges Forza-Italia-Mitglied meinte. Aber die Mehrheit glaubt dem „Kavalier“ nicht mehr, weil es zu offensichtlich ist, wie er nach seinen Interessen wirtschaftet, statt den allgemeinen Lebensstandard zu bessern.

Doch er kann sich auf seine Mitspieler verlassen. Die rassistische Lega Nord, die Europa als „neuen Faschismus“ bekämpft, hält in Treue fest – an ihrem Geldgeber, wie zu lesen ist. Die Postfaschisten der Nationalen Allianz geben sich staatsmännisch, Berlusconi hat sie salonfähig gemacht. Die Christdemokraten der UDC, stets um den Schein der Mitte bemüht, knicken bei jedem Berlusconi-Gesetz, dem sie vielleicht eine Spitze nehmen, wieder ein. Nun ist auch Alessandra Mussolini mit ihrer Partei im Boot, die jüngst ihren Großvater damit verteidigte, der Faschismus habe Demokratie exportiert. Und im Hintergrund, nicht zu vergessen, die Kirche, die auf die übliche unverhohlen-verstohlene Weise ihre Sympathien für die Regierung verdeutlicht, was natürlich nichts damit zu tun hat, dass diese der Kirche gerade erst die Grundsteuern auf ihre zahlreichen Liegenschaften erlassen hat.

Dem Land geht es wirtschaftlich miserabel. Die an der Spitze der Regierung vorgelebte Raffgier erschwert jeden Aufschwung. Die Inflationsrate ist hoch. Die Korruption nimmt in allen Regionen, besonders im Süden, sprunghaft zu. Immer weniger Mittel fließen in Schulen, Universitäten, Forschung, in den Erhalt der Kulturschätze, immer weniger in das Gesundheitssystem. Die Wähler hätten Gründe genug, die Regierung abzuwählen.

Das Problem ist nur: Wer kommt danach? Der biedere, zögerliche Prodi, der noch seine besten Argumente nuschelnd vom Blatt abliest. Die Parteifürsten des Ölbaum-Bündnisses, die bei aller Einigkeit nach außen ihre Rivalitäten nicht verbergen können. Reformierte Kommunisten, Grüne, Christdemokraten, Sozialisten und einige mehr, vereint im schlappen Wahlkampf, ohne pointiertes Programm.

Selbst wenn diese bunte Mischung bis zum 10. April einig bleibt, die alte Regierung hat schon für Uneinigkeit gesorgt und das Wahlrecht geändert – ein halbes Jahr vor der Wahl, mit einfacher Mehrheit. Wo sonst ist das möglich? Erst in den neunziger Jahren hatte man ein partielles Mehrheitswahlrecht eingeführt, um stabile Koalitionen zu ermöglichen. Nur dieser Neuerung hatte Berlusconi seine satte Mehrheit zu verdanken, obwohl beide Bündnisse auch 2001 fast auf die gleiche Stimmenzahl kamen. Erst als die Rechtskoalition fürchten musste, keine stabile Mehrheit einzufahren, hat sie das Wahlrecht geändert – um eine solche bei der Linken zu verhindern. Die Folge wird sein, dass sich die unzähligen Parteien des rechten wie vor allem des linken Spektrums noch mehr voneinander abgrenzen, aneinander reiben, koalitionsunfähig werden – und das Land noch instabiler machen, als es schon ist. Man sollte nicht so naiv sein, zu meinen, es gäbe keine politischen Zyniker, die genau darauf warten.

Angenommen, das fragile Prodi-Bündnis hielte eine Weile und könnte die versäumten wirtschaftlichen Reformen durchsetzen und einen Teil der demokratischen Grundrechte wiederherstellen – um Italien wieder auf das Niveau von 2001 zu bringen, reichen fünf Jahre nicht.

Selbst wenn Berlusconi also am 10. April verliert, wird er nicht verlieren. Solange er weiter von der falschen Italienliebe Europas profitieren darf. Oder muss es erst um die Rechte der Homosexuellen gehen, bis man in Brüssel und Straßburg wieder aufwacht wie bei Buttiglione?

in: DIE ZEIT, Nr. 14, 30.03.2006
auf Englisch in: signandsight.com

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