Der Westen wird wilder
Der Westen wird wilder
Bestandsaufnahme 1990, drei Monate nach dem Mauerfall
Die Intellektuellen und die deutsche Frage: Die Claims werden abgesteckt
„Der Mensch wird dumm und häßlich, wenn er keine Utopien hat.“ (György Konrad, 1985)
Vielleicht wird diese Phase der deutschen Geschichte einmal erklärt werden können mit dem Wechsel vom bestimmten Artikel zum Zahlwort. Seit der Satz „Wir sind das Volk“ umkippte in „Wir sind ein Volk“, scheint der Weg in die Zukunft klar. Der Abschied vom bestimmten Artikel, auch von der Verzweiflung vieler DDR-Bewohner diktiert, ist eine Sache. Eine andere ist, im Rausch der neuen Interessen, der Sprachgebrauch hierzulande.
Nichts gegen Öffnungen, Verträge, Kooperationen, Erleichterungen. Aber kaum hat sich die Bundesrepublik verliebt, blüht „im Glanze dieses Glückes“ schon die neue Arroganz der Macht. Je größer das „einig Vaterland“ in der Phantasie, desto tiefer werden die inneren Spaltungen, heute in der DDR, morgen bei uns.
Schon muß daran erinnert werden, daß es außer der nationalen Begeisterung noch eine andere gab und gibt: die über das plötzliche Wahrwerden eines Traumes von Freiheit. Wenn „das Staatseigentum am lebendigen Menschen abgeschafft ist“ (Uwe Kolbe), wenn Zwangs- und Einsperrungssysteme zusammenbrechen, wenn Moral, vorübergehend, unbeholfen und clownesk, in die Politik zurückkehrt, wenn Grenzen geschleift werden und Menschen neue Wege finden, dann hat das zunächst mit der Nation, in der das geschieht, nicht viel zu tun. Die Begeisterung darüber hat eine andere Qualität als die national-usurpatorische; eine der Empathie, die den anderen in seiner neuen Freiheit und Würde respektiert.
Bei einer so kolossalen Niederlage (fast) eines ganzen Systems tauchen viele Sieger auf. Die Triumphgefühle derer, die schon immer im schieren Antikommunismus ihr Heil gefunden haben, sind verständlich. Nur die Linken (ich meine die große Mehrheit der unabhängigen Linken und muß, der Kürze wegen, trotz aller Irrtümer, beim Kürzel bleiben) zögern noch, ihre Gefühle zu zeigen, gar mit ihnen hausieren zu gehen. Noch ist es kaum begriffen: Die Krise, die der längst fälligen Kapitulation folgte, besteht nicht darin, daß der Feudalsozialismus in Trümmern liegt. Sondern darin, daß jetzt alles neu durchdacht werden muß. Die Hypothek liegt auf der Vergangenheit – und ebenso auf der Zukunft. Das ist anstrengend.
Dies nutzen Meinungsmakler und Strategen der anderen Fraktion. Im Wirbel der Ereignisse gilt es, flink neue Positionen zu besetzen. Der Westen wird wilder. So schnell kommt die Gelegenheit zum innenpolitischen Aufräumen nicht wieder. Im Zuge der allgemeinen Landnahme werden die Claims neu abgesteckt.
Auf einem der Nebenschauplätze ist nun eine Debatte über die Schürfrechte der Intellektuellen ausgebrochen. Eine Zunft, von der es sonst hieß, es gebe sie nicht mehr, wird plötzlich wiederentdeckt. Die Entdecker sind Intellektuelle, die anderen Intellektuellen vorwerfen, versagt zu haben. Auf den ersten Blick die Variante des alten „Indianerspiels“.
Die Debatte wird nicht gelassen oder im Geist der Komik geführt, der ihr normalerweise, da es sich um stets überschätzte Meinungen handelt, innewohnt. Überraschend ist ein hoher Grad von Emotion. Wut, Hohn und Drohungen begleiten die Vorwürfe, die vor allem von den Frankfurter Allgemeinen Seiten ins Land gestreut werden. „Die intellektuelle Klasse der Bundesrepublik“, schreibt beispielsweise Joachim Fest, habe auf die revolutionären Vorgänge in den östlichen Nachbarländern mit „Schweigen“ reagiert, habe auch vorher stets geschwiegen und verharmlost.
Als hätte es die jahrzehntelange Kritik an dem, was als real existierend festgeschrieben werden sollte, nicht gegeben, hört man die gleichen Klagen plötzlich als allen Ecken und Gazetten. Von den Tränen der Krokodile mal abgesehen, solche Vorwürfe sind nie ganz falsch. Auch in dem bunten Haufen der als links sortierten Leute wird viel Dummes geschrieben und geredet. Nicht alle haben zu allem alles gesagt und nicht immer laut. Auch die Linke hat eine Geschichte der Irrtümer und Peinlichkeiten – aber sie ist sich dessen bewußt. Ohne die Komponenten Streit, Zweifel, Widerspruch ist „links“ nicht zu definieren. Nachhilfestunden will ich nicht geben, nur ein paar Stichworte für Erinnerungen.
Die „Entzauberung des Sozialismus“ ist in der Bundesrepublik, zumindest seit der Niederwalzung des Prager Frühlings 1968 (und für die Jüngeren seit Solschenizyn, Biermann-Ausbürgerung, Kriegsrecht in Polen), nicht als Spektakel von Gegenzauberern wie Glucksmann, sondern in einem sehr breiten Prozeß vorangeschritten. Dieser Sozialismus war längst keine Utopie mehr. Er verhalf vielmehr zur Neuentdeckung der demokratischen Grundrechte. Mehr als zwanzig Jahre lang gingen die Diskussionen der immer undogmatischen Linken um diese Fragen, sie sind nachlesbar, siehe Kursbuch, Freibeuter, taz, andere Zeitschriften, Bücher nicht zu zählen.
Was die Schriftsteller der Bundesrepublik anlangt, neige ich nicht zu Idealisierungen. Aber es muß gesagt sein, sie haben ihr größtes Opfer der Solidarność-Bewegung gebracht: ihren Verband, den damaligen, starken VS. Der Streit über das Kriegsrecht in Polen, über die Auflösung des polnischen Schriftstellerverbandes wurde 1983/84 zur zentralen moralischen Frage, bei der die einen für Anpassung, die anderen für Offenheit plädierten. Daß diese Debatten den Verband gesprengt haben, mag ein deutsches Problem sein mit der üblichen Pointe: Die Polen haben von dem Streit nichts gehabt.
Wichtiger ist, daß Dissidenten und Oppositionelle aus den osteuropäischen Ländern oft in linken Verlagen ein Forum gefunden haben. Nicht ohne Grund hat die DDR-Opposition vorwiegend die taz als Sprachrohr benutzt. Die vielfältigen (intellektuellen) Kommentare der letzten Zeit, die seit Jahren laufenden tausendfachen Kontakte und Gespräche über die Grenzen hinweg, um das alles als Schweigen zu deuten, muß man schon schwerhörig sein – oder bestimmte Absichten hegen.
Die leuchten auf, wenn die Revolution in Osteuropa und der DDR als eine „ohne Vordenker, überhaupt ohne intellektuelle Beteiligung“ interpretiert wird – Trotzkij, Semprún, Bahro, Sacharow und so weiter soll es nie gegeben haben und in der DDR keine Künstler, die jahrelang mit Büchern und Reden, mit oppositionellen Vorstößen mehr oder minder mutig der Abschaffung der Angst vorarbeiteten. Die Absicht ist, das historische Bewußtsein von einer langen, heftigen, opferreichen Kritik am Stalinismus zu zerstören. Der Anteil der Linken, der Intellektuellen an der Entwicklung in Osteuropa mag gering gewesen sein (sofern neben dem Druck der Menschen überhaupt Ideen im Spiel waren); ihn zu leugnen entspricht auffällig der stalinistischen Tradition.
„Das Spiel ist neu gemischt“, lautet Fests Folgerung, und „die Linken“, „die Intellektuellen“, haben die „alten Karten“, also kein Recht mehr auf Gehör, aufs Mitspielen, aufs Mitreden.
Spannend daran ist der strategische Vorstoß, eine Art Fortsetzung des Historikerstreits mit anderen Mitteln. Auch das war eine Debatte, bei der die Karten neu gemischt werden sollten. Die mit Fests Beteiligung versuchte Neudefinition der deutschen Vergangenheit galt der Herstellung des guten Gewissens. Nun, da jene Säuberung Früchte trägt, soll offenbar der zweite Streich folgen: die linken Intellektuellen ihrer Geschichte zu berauben und sie aus dem Diskurs über Menschenwürde auszusperren.
Erstaunlicherweise ziehen einige Schriftsteller die größte Wut auf sich. Ausdauernde Kritiker des Stalinismus werden zu seinen offenen oder stillen Sympathisanten erklärt. Wer dem historisch vergleichsweise jungen Sozialismus noch einige nichtkriminelle Energien zugesteht, gilt als potentieller Krimineller. Wer die nationale Frage unterscheidet von ihrer Instrumentalisierung durch die Rechte, wird Ideologe genannt. Wer dagegen für rasche Einheit ist, nicht.
So ist unter der Hand ein neues Kriterium für intellektuelle Glaubwürdigkeit aufgetaucht: das Bekenntnis zur deutschen Einheit. Joachim Fest, als ideologischer Begleiter der Unternehmer, benutzt es noch verdeckt, kurz darauf bei Karl Heinz Bohrer wird es bereits in aller Intelligenz entfaltet. Während Fest nur mit demagogischen Volten ans Ziel kommt, trifft Bohrer, wie vor ihm Dieter Wellershoff im Merkur, mit seiner Kritik an den Intellektuellen, die mit sozialistischen Neigungen für Zweistaatlichkeit plädieren, einen richtigen Punkt.
Er vermutet bei ihnen „unbewußt die Absicht, die DDR als eine Art antikapitalistische Utopie zu erhalten, die Zeit stillstehen zu lassen und die Gifte der postmodern beschleunigten Moderne nicht einzuatmen beziehungsweise – aus westdeutscher Perspektive – die DDR als eine Art Naturschutzpark eines sozial und ökonomisch verträumten Gestern zu bewahren, an der die Bundesrepublik ihr notwendig schlechtes Gewissen täglich erneuern kann“. Das ist gut getroffen, aber eben doch nur einer von mehreren psychologischen Aspekten.
Diese könnten ergänzt werden. Nehmen wir nur die These: Die Vereinigung wäre ein nationales Unglück. Warum? Weil sie Aggressionen, Narzissmus und Überlegenheitsgefühle in einem Maß fördern würde, das unsere autoritär geprägten Landsleute nicht verkraften, und so fort. Oder: Es müßte zu denken geben, daß nationale Fragen fast nur von Männern diskutiert werden, und so fort.
Wie auch immer wir spekulieren, eine Art Vereinigung wird kommen. Aber soll deshalb die Parole „Keine Experimente“ neben der Wirklichkeit auch noch das Denken bestimmen? Jeder soll von seinem Versagen, seinen Illusionen sprechen, aber gibt es nicht längst einen allgemeinen Opportunismus der „Ende-des-Sozialismus“-Rufe? Gibt es nicht doch ein paar Unterschiede zwischen dem Arbeiter aus Leipzig, dem das Treppenhaus zusammenkracht, der keine Vormundschaft will und deshalb nach Einheit ruft, und seinem ideologischen Mitläufer am westlichen Edelschreibtisch, der die DDR jahrelang als Müllkippe betrachtet und mehr an Sanssouci als an die Lebensbedingungen der Arbeiter dort, hier, anderswo gedacht hat?
Psychogramme erklären nicht alles. Das Peinliche für alle Intellektuellen ist, daß nicht die Ideen, sondern die Ökonomie die Zukunft, auch die deutsche, diktiert. Das hat Marx zwar schon gesagt, aber damit wollen sich die Kopfarbeiter Ostwestrechtslinks nicht abfinden. Das ist begreiflich, niemand möchte gern zum Affen des Kapitals und der Politik werden. Also gibt es, vereinfacht, zwei natürliche Reaktionen: die einen, die mit ihren Gedanken dem Kapital mitlaufend vorauseilen – und die anderen, die zwar nicht bremsen könnten, aber den Widerstand suchen, in Kunst, Meinung oder Praxis.
Die letzteren (Zweifler, Träumer, Weit-, Quer- und Solidardenker) müssen deshalb keine Idylliker sein – jedenfalls nicht mehr als die anderen, die es sich nun im Einheitsgedenken gemütlich machen. Eine Überlegung ist zu Beispiel: „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ brauchen sich gegenseitig als Korrektiv. Wenn diese aber ersatzlos zerfallen, wo bleibt dann das Korrektiv? Oder sollen wir uns ganz auf die „Selbstheilungskräfte“ der Marktwirtschaft verlassen? Und die konstruktive Seite der kapitalistischen Wirtschaftsform loben, die destruktive aber als Propaganda abtun?
Die Schreie derer, die das anders sehen, sind zu hören. Nicht nur aus Lateinamerika und Afrika dringen sie, über die mörderischen Schluchten der terms of trade oder des Cash-flow hinweg, bis vor unsere deutschdeutschen Tische. Das Flüstern über das wachsende menschliche Elend und die Verrohung in den Nischen unseres tollen Wachstums ist nah. Immer lauter stellt, außerhalb der DMark-Wagenburg, das ausgepowerte Osteuropa die Fragen an die westliche Bigotterie.
Das sind keine Argumente gegen DDR-Bewohner, die aus Not nach Vereinigung rufen. Aber muß man deshalb die Horizonte des Denkens national verengen statt erweitern? In das Hohelied der herrschenden Wirtschaftsordnung einstimmen? Die Chance vertun, die außereuropäischen Erfahrungen und Fragen wenigstens zur Kenntnis zu nehmen?
Wenn Vorteile weniger zum Nachteil vieler ausschlagen, stellen sich da und dort „sozialistische Ideen“ ein. Und die sollen, ginge es nach dem neuen Trend, ab sofort nicht mehr toleriert werden. Den Denkverboten folgen, wie üblich, philiströse Gebote.
Bohrer fürchtet das bundesrepublikanische „Vakuum, … dem jeder psychische und geistige Kern fehlt“, und sucht „Kategorien für eine wieder politisch artikulierte Nation“. Da kann man, angesichts der gerade auf Entkernung zielenden Industrien, Bürokratien, Maschinen, nur viel Glück wünschen.
Intellektuelle, deren Latein heute auf Martin Walsers Gefühle und Bohrers Kategorien beschränkt ist, werden, ob von den Prozessen der Vereinigung überholt oder nicht, bald vielleicht im Glanz, aber doch recht häßlich dastehen – im Sinn des Mottos von Konrad. Dagegen wäre zu empfehlen, weiter an Alternativen zu arbeiten, neue Korrektive zu benennen, „Konflikte wachzuhalten“ (Nossack) und die Utopie des Endsiegs des westlichen Lebensmodells mit Hinweisen auf Rückseiten und Kosten des Modells zu stören. Zu erinnern, daß die Revolution in der DDR eine bürgerliche war, doch mit Regeln und Zielen der Grünen beziehungsweise des Protestantismus, also mit Folgen. (Sarah Kirsch im November: „Es muß die Revolution eine Grüne ja sein, weil sonst alles Denken und Handeln umsonst ist.“)
Ja, muß. Ja, wenn. Wären nur einige der eben in der DDR erworbenen Tugenden und Praktiken hierzulande üblich, fiele vielleicht auf, wer hier etwas zu verschweigen hat. Der moralische Rigorismus wäre, westwärts expandierend, nicht gerade systemerhaltend. Also wurde er national eingedickt.
Die Befreiung der Menschen in Osteuropa und der DDR bedeuten auch für die Linken hierzulande eine Befreiung. Vom Druck der Tatsachen eines betrügerischen Sozialismus entlastet, können sie aufatmen. Das Ende der Bevormundungen, der falschen Autoritäten und Fronten, die Entmystifizierung der Begriffe, was für eine Chance!
Die Befreiung unserer Nachbarländer hat das eher pessimistisch grundierte Menschenbild aufgehellt (auch wenn zu fürchten ist, daß es sich durch Nationalismus, Kirche, bleibende Armut bald wieder eindunkelt). Dies ist erst noch zu erfassen, durch Offenheit, Respekt, Hinhören. Diese Offenheit darf nicht mit neuen Denkmustern zugeschüttet werden, weder von rechts noch von links. Aber sie wird zugeschüttet, derzeit fleißig von rechts. Der Linken mag es vorerst genügen, wenn ein starkes historisches, ethisches, ökologisches Bewußtsein wirksam bleibt, das über die deutschen und europäischen Kirch- und Bankentürme hinausreicht. Nur eins scheint sicher: Je mehr die Dissidenten des Ostens Erfolg haben, desto wichtiger werden die Dissidenten des Westens.
(Die Zeit, 02.02.1990)