Peter Huchel oder Die Kunst
Peter Huchel oder Die Kunst, sich nicht zu uniformieren
Rede zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst am 2. September 2012 (in: Sinn und Form, Heft 6/ 2012)
Vor zwei, drei Jahren ungefähr, beim Schreiben einiger „Biografischen Skizzen“, beim Nachdenken über die Motive, die mich in den sechziger und siebziger Jahren durch die Mauer und in die Wohn- und Arbeitszimmer von Kurt Bartsch, Wolf Biermann, Johannes Bobrowski, Thomas Brasch, Volker Braun, Adolf Endler, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Richard Leising, Karl Mickel, Heiner Müller, Stefan Schütz gelotst haben, sprang mir unverhofft das Wort „huchelgeprägt“ in die Zeile. Neuen Adjektivvarianten begegne ich in der Regel misstrauisch und überlege lange, ob sie wirklich ungestrichen davonkommen dürfen, in diesem Fall zögerte ich keinen Moment: das war ein Wort, das bleiben sollte.
„Was mich in die andere Hälfte der Stadt lockte,“, lautet der entsprechende Passus, „waren die Dichter – aber nur die, die mehr Freiheit suchten, als sie hatten. Vielleicht war ich huchelgeprägt: man wusste, der große Dichter Huchel saß, kaltgestellt von der Partei, zensiert, schikaniert, in den Wäldern bei Potsdam und war für Westler nicht erreichbar. Bei Huchel konnte einer wie ich nichts tun, aber …“ Was ein westberliner Jungdichter und Lektor von den Begegnungen und Arbeitsphasen mit den ostberliner Autoren und Freunden zu erzählen hat, ist in „Als die Bücher noch geholfen haben“ zu lesen. Heute aber soll der Hausherr, Hausgeist, Hausvater des Hubertusweges 43 oder 41 im Mittelpunkt bleiben.
Was hat mich zu diesem Adjektiv angestiftet? Was wäre unter „huchelgeprägt“ zu verstehen? Welche Art Huchelprägung könnte heute von Nutzen sein? Das ungefähr wären die Fragen in den nächsten zwanzig Minuten.
Meine Huchel-Prägung beginnt mit einem seiner düstersten Gedichte, „Schlucht bei Baltschik“: „Am Abend hängt der Mond/ Hoch in die Pappel/ Das silberne Zaumzeug der Zigeuner./ Er gräbt es aus, / Wo unter Steinen/ Pferdeschädel und Trensen schimmern …“, so der Anfang, und die letzten drei Zeilen: „Die Schildkröte trägt/ Mit sichelndem Gang/ Den Tau in den Mais.“
Dieses Gedicht wurde, als Autograph, im Januar 1963 von Wilhelmshorst nach Korbach, Kreis Waldeck, Nordhessen geschickt. Meine Freunde von der Schülerzeitung des Gymnasiums hatten ihrem selbsternannten „Chefredakteur“ zum Abitur ein Buchgeschenk machen wollen, ich hatte ihnen vorgeschlagen: Schickt lieber dreißig Briefe an Lyriker und bittet um ein handgeschriebenes Gedicht und schenkt mir das Bündel, wenn ihr wollt. Die meisten Autoren waren so freundlich, Hans Bender, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Manfred Peter Hein, Walter Höllerer, Marie Luise Kaschnitz, Karl Krolow, Christoph Meckel, Ernst Meister, Nelly Sachs, Peter Rühmkorf und einige andere, aus der DDR waren nur zwei eingeladen, die beide antworteten, Johannes Bobrowski und Peter Huchel. Ich kannte nur wenig von Huchel aus Anthologien, dank der Lektüre der „Zeit“ wusste man jedoch von seinen Konflikten mit dem Staat, von den Schikanen gegen ihn. Davon fand ich in diesem Text nicht den Hauch einer Andeutung, und ich muss zugeben, die „Schlucht bei Baltschik“ hat den Zwanzigjährigen ein wenig enttäuscht. Den Ort vermutete ich zu Recht im ferneren Osten, die Szene im zweiten Weltkrieg, und ich habe mich gefragt: Warum schickt dieser Huchel einem Abiturienten aus dem Westen, einem jungen Mann, der offenbar literarische Interessen hat, einem, der aufbricht, der das Leben, wie man so töricht sagt, vor sich hat, ein Gedicht, das mit Tod, Mord, Pferdeschädeln, Zigeunern, Greisinnen, Feuer und Schildkröten zu tun hat? Was hat er sich dabei gedacht? Hätte er nicht ein verständlicheres, helleres, leichteres Gedicht mit seiner schönen blauen Tinte abschreiben und schicken können?
Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass Huchel wahrscheinlich mehr an die Briefzensoren als an den Primaner im Westen denken musste. Sogenannte verständlichere, hellere Gedichte, etwa „Traum im Tellereisen“, wären auf dem Postweg wohl nicht bis in die hessische Provinz gelangt. Aber der Hauptgrund für diese Wahl dürfte, wie ich nach und nach lernte, dieser gewesen sein: Huchel, der sich der Partei nicht anpasste, passte sich auch der Erwartung seiner Leser nicht an, erst recht nicht der Erwartung irgendwelcher jugendlicher Enthusiasten, ob aus Hessen oder aus Sachsen. Mit Erwartungen an die sogenannte Verständlichkeit, mit der Lieferung irgendwelcher lyrischer Gefälligkeiten, war man, das musste jedem seiner Leser klar sein, bei ihm an der falschen Stelle. Trotzdem, seien wir ehrlich, auch als gut trainierter Lyrikleser wünscht man sich auch bei Peter Huchel ja zuweilen – selten, aber doch zuweilen ein Gran mehr an Deutlichkeit, Kontext oder Bildhintergrund oder wenigstens eine Anmerkung. Manchmal meint man, es sei vielleicht doch zu hart gestrichen worden, hier eine Zeile, da ein Wort mehr hätte der Dichte des Textes nicht geschadet – aber der Dichter tut uns den Gefallen nicht, er tut uns überhaupt keinen Gefallen, er ist nicht dazu da, uns einen Gefallen zu tun, er schreibt nicht, um anderleuts Deutlichkeitsbedürfnisse zu befriedigen, und nicht, um unsern Beifall abzuholen, er allein setzt die Maßstäbe, er bestimmt, bis an welche Kante die Metapher tanzen darf, wo ein Bild durch falsche Deutlichkeit verliert, wie weit ein Rätsel gehen darf, er ist der Souverän.
Die Souveränität, nein zu sagen, auch gegenüber den Erwartungen der Leser, dies Nein als Stärke begriffen zu haben, das meine ich mit huchelgeprägt.
Im Herbst 1963 erschien der Band „Chausseen Chauseen“ im S. Fischer Verlag, und ich hatte das Privileg, in den Wochen vor dem Erscheinen als eine Art Volontär bei Huchels Lektor, der bald auch mein Lektor wurde, zu arbeiten, bei Klaus Wagenbach – im S. Fischer Verlag. Vor allem habe ich unverlangte Manuskripte zurückgeschickt, manchmal hat Wagenbach mir, mehr zur Übung, Fahnen zur Lektüre gegeben. Es könnte sogar sein, dass ich im Fischer-Hochhaus an der Konstabler Wache mit Weitblick auf die in Richtung Landebahn Rhein-Main segelnden Flugzeuge die Zeilen von brandenburgischen Chausseen und Wäldern Buchstabe für Buchstabe gelesen habe, vor fast fünfzig Jahren, als Brandenburg weiter weg war von Frankfurt am Main als die Kontinente, aus denen die Flugzeuge kamen. Erinnerungen können lügen wie gedruckt oder besser als gedruckt, gut möglich, dass ich mir das Fahnenenlesen einbilde, aber ich bilde es mir deshalb ein, weil mir auch heute die Gedichte des Bandes noch überraschend vertraut sind, viele Zeilen und Strophen im Gedächtnis gespeichert, ich muss diesen Band jedenfalls gründlich studiert und immer wieder aufgeschlagen haben.
Das erstaunt mich heute besonders, weil der schreibende Student vor dem Huchelschen poetischen Kosmos keinerlei Nachahmungslust spürte oder ein Vorbild suchte. Ich war damals mit Pointen-Lyrik und sprach- und spruchkritischer Bildlichkeit etwa nach Art eines Eich oder Krolow, Enzensberger oder, sehr hoch gegriffen, des Buckower Brecht beschäftigt, strebte also einem völlig anderen Sprachgestus, anderen Motivkreisen und simplerer Metapherntechnik nach, in allem eher das Gegenteil der Huchelschen Lyrik, die man hilfsweise und ungenau Naturlyrik nannte. Naturlyrik war sowieso das Letzte – gerade der Pubertät mit pubertären Naturgedichten entwachsen, galt mir dies Genre als pubertär und reaktionär. Hesses Naturgedichte hielt ich schon als Schüler für Kitsch, Wilhelm Lehmanns für öde, viel mehr kannte ich nicht. Trotzdem soff ich mich an Huchel fest, ungeachtet irgendwelcher Vorurteile oder Schubladen. Ein Grund für diese Faszination könnte gewesen sein: Auch die südliche Welt, die in der ersten Abteilung des Bandes aufscheint, auch die helleren Landschaften setzte dieser Dichter seiner „Unheilsfühligkeit“ (Grünbein) aus, poetische Orte, die ich romantischer aufgeladen hätte und aufgeladen hatte in frühen Gedichten. Auch da machte er keine Kompromisse, stellte Härte gegen Schwärmerei, das imponierte mir. Ein anderer Grund für die Attraktion der „Chausseen Chauseen“ mag in einer spezifiischen Perspektive zu finden sein, die meiner poetischen Vernunft fremd, aber dem poetischen Sentiment recht nah war. Viele Gedichte des Bandes halten Momente des Abends fest, die Wortfelder Abend, Nacht, Tod dominieren, Landschaften, die „oft das Bedrohliche eines Tatorts“ (Grünbein) haben Auch das hat den jungen Leser nicht abgeschreckt, der keineswegs in der Phase des Resümierens, der abendlichen Ruhe oder leicht irritatierten Meditation verharren mochte, sondern, noch ganz erfahrungslos, durch eine Lebensphase des Morgens, des Aufbruchs, der großstädtischen, der studentischen Unruhe eilte. Ich lernte hier aber zu ahnen, dass Natur und Geschichte nicht zu trennen sind, dass sie eins werden im gelungenen Gedicht, das den „Abend“, die Erfahrung, den Rückblick braucht, um im weitesten Sinne ein beunruhigendes, also politisches zu werden. So also konnte auch jemand, der mit einer ganz anderen Poetik seinen Weg suchte, von diesen Gedichten angezogen werden.
Huchelgeprägt zum Zweiten: Du bist nicht auf der Welt, um nur eine poetische Richtung für die alleinseligmachende zu halten. Respekt für die Kunst der anderen.
Doch die Prägung des jungen Lesers, der ich war, ging gewiss am stärksten von einer Handvoll Gedichte am Schluss des Bandes aus, mit den Titeln: „An taube Ohren der Geschlechter“, „Winterpsalm“, „Der Garten des Theophrast“ und „Traum im Tellereisen“. Vielleicht, denke ich heute, waren es sogar nur drei Zeilen, die ersten drei des letztgenannen Gedichts: „Gefangen bist du, Traum./ Dein Knöchel brennt,/ Zerschlagen im Tellereisen.“
Das Unerhörte daran ist, dass der Traum wie ein Partner, wie ein Mensch angesprochen wird, das noch Unerhörtere liegt für mich in der Zeile „Dein Knöchel brennt“. Mit dieser lakonischen Behauptung wird der Schmerz direkt übertragen, der Schmerz zur Empfindung des Lesers gemacht: ich jedenfalls fühle jedesmal wieder meinen Knöchel brennen, wenn mir dies Gedicht unter die Augen kommt. Man spürt es: Irgendwann war sie fällig, diese Zeile des Schmerzes und der Empörung, die uns verriet, wie sehr der Knöchel brennt im Ulbrichtschen Tellereisen, in der Kurella-Zwinge, unter dem Hager-Hammer. In diesen Zeilen, in diesen zehn Wörtern schien alles über die DDR gesagt, was man, nicht nur aus Huchelscher Perspektive, im Jahr 1963 über die DDR sagen konnte. Diese vier Gedichte und das Verhalten der Staatsgewalt gegen den Dichter und zwei Jahre später Biermanns „Drahtharfen“-Lieder und das Verhalten der Staatsgewalt gegen den jüngeren Dichter, viel mehr brauchte man nicht, um sich auch im Westen Illusionen über den sozialistisch genannten Nachbarstaat zu ersparen.
Die Souveränität, nein zu sagen, erst recht gegenüber den Erwartungen des Staates – das als Stärke begriffen zu haben, und dafür Empathie zu entwickeln, das meine ich mit huchelgeprägt, zum Dritten.
Der vierte Punkt ist, dass Huchels Souveränität als Dichter nicht zu trennen ist von seiner Souveränität als Chefredakteur und Bürger, von seiner Unbestechlichkeit und der Verweigerung jeglicher Unterwerfung. Das scheint uns nachgeborenen Besserwissern selbstverständlich, damals war es das nicht. Wer im Leben faule Kompromisse der Anpassung macht, wird sie auch beim Schreiben machen. Und dies früh kapiert zu haben, verdanke ich Huchel und spreche deshalb von huchelgeprägt, zum Vierten: Kein Aufgeben des Anspruchs an sich selber, sei es in persönlicher, politischer und poetischer Hinsicht.
So geprägt, ohne diese vier Elemente schon als Prägung begriffen zu haben, ging ich also mit dem Reisepass der Bundesrepublik Deutschland zum Bahnhof Friedrichstraße und dann in die Wohnungen, zuerst zu Günter Kunert, dann zu Wolf Biermann. Man wird es nicht Zufall nennen, dass beide, zu denen sich ein Ansatz von Freundschaft entwickelte, auch mit Huchel befreundet waren. Sogar mein sonst nicht sehr mutiger Freund Karl Mickel war zumindest einmal nach Wilhelmshorst gekommen, um Huchel zur Veröffentlichung von Gedichten in einer Anthologie zu überreden. Da wir einmal bei Prägungen sind, soll auch die fünfte nicht vergessen werden, aber da sind wir bereits im Jahr 1968. Der Dichter aus der Chausseestraße schreibt für den Chausseen-Dichter vom Hubertusweg ein berühmtes Ermutigungslied. Dies wurde verbreitet von einem westberliner Verlag aus der Jenaer Straße in einem Band mit dem Titel „Mit Marx- und Engelszungen“, an dem ein huchelgeprägter junger Mann ein wenig mitlektorierte. Aus dieser „Ermutigung“ ist eine Art Hymne sowohl für die Oppositionellen der DDR wie für die westlichen Achtundsechziger geworden, jedenfalls für die große Fraktion der Nachdenkichen, die ihren Verstand nicht bei Mao oder Meinhof oder in Moskau abgaben. Wir fühlten uns jedenfalls mit angesprochen, wenn Biermann sich selbst und den isolierten Huchel zu ermutigen hoffte: „Du, laß dich nicht verhärten/ in dieser harten Zeit./ Die allzu hart sind, brechen /die allzu spitz sind, stechen/ und brechen ab sogleich.// Du, laß dich nicht verbittern/ In dieser bittren Zeit./ Die Herrschenden erzittern/ sitzt du erst hinter Gittern/ doch nicht vor deinem Leid.// Du, laß dich nicht erschrecken/ in dieser Schreckenszeit./ Das wolln sie doch bezwecken/ daß wir die Waffen strecken/ schon vor dem großen Streit.// Du, laß dich nicht verbrauchen./ Gebrauche deine Zeit./ Du kannst nicht untertauchen, /du brauchst uns und wir brauchen/ grad deine Heiterkeit.// Wir wolln es nicht verschweigen/ in dieser Schweigezeit./ Das Grün bricht aus den Zweigen/ wir wolln das allen zeigen,/ dann wissen sie Bescheid.“ Diese allerletzte Zeile schien dem Nebenlektor recht hölzern und nicht gelungen, aber uns fiel auch kein besserer Reim ein. „Ein rotes Kirchenlied“, hat Biermann später allzu selbstabfällig gesagt, richtig, aber nie war der Neinsager Huchel so populär, so gesamtdeutsch präsent wie in den zehn, fünfzehn Jahren, als dies Lied.östlich und westlich der Mauer, laut oder leise zu hören war.
Szenenwechsel, Dezember 1971, Rom, Villa Massimo. Ein Stipendiat macht seinen ersten Besuch bei den Huchels, und so viel Humor hat er dann doch nicht zu sagen: „Guten Tag, Herr Huchel, ich bin übrigens huchelgeprägt.“ Mir war diese unauffällige Prägung, wie gesagt, gar nicht bewusst, außerdem war ich furchtbar verlegen. Ein halbes Jahr zuvor hatten Huchels endlich die DDR verlassen und suchten sich im kulturellen Westen einzurichten, während ich diesen kapitalistischen Westen mit einer Satire auf den Siemens-Konzern literarisch zu ergründen, kritisieren, zu attackieren begann. Ich empfand das nicht als Widerspruch, Huchel wohl doch. Er störte sich an Wagenbachs politischer Wendung, ich verteidigte vorsichtig meinen Verleger und Kollegen, obwohl wir intern schon heftig auseinander drifteten. Er lobte meine frühen Gedichte, die mir schon fast peinlich waren. Beide schätzten wir die Lakonie als literarisches Mittel, da hätten wir uns treffen können. Aber ich war damals wenig an Lakonie interessiert, auch nicht so sehr am Dichter als Souverän, dachte eher an Aufklärung und Verbesserung der Welt im undogmatischen linken Sinn. Wir arbeiteten im Verlag als Kollektiv – und ich saß nun vor dem hartnäckigsten Einzelgänger, den es in jenem Jahrzehnt in Deutschland gab. Er hatte in der DDR ein deutliches Beispiel für Widerstand gegeben – und unsereiner war noch tastend und ungeschickt damit beschäftigt, Formen eines glaubwürdigen Dissens im Kapitalismus zu suchen, wo Huchel Zuflucht fand. Er hatte, aus meiner Sicht, vielleicht doch eher naive Vorstellungen von der Bundesrepublik – obschon der Satz von ihm überliefert ist: „Im Westen wäre ich ja auch bei der Außerparlamentarischen Opposition.“ Er hatte die DDR hinter sich und konnte endlich aufatmen, unsereins setzte nach Prag 68 in die DDR sowieso keine Hoffnung und war aus guten Gründen mit der Bundesrepublik nicht zufrieden und wollte daran mithelfen, die Demokratie demokratischer, die Wirtschaft sozialer, die Freiheit freier zu machen und, zum Beispiel, die Frauen beim Weg in die Gleichberechtigung zu unterstützen.
Es hätte mir gut getan, wenn ich damals schon Huchels Satz von 1949 im Kopf gehabt hätte: „Wir werden uns nicht uniformieren.“ Was zu Beginn der Arbeit an „Sinn und Form“ als Programm ausgegeben war, hätte genau so für die Studentenbewegung gelten können, die ja, was ziemlich vergessen ist, auch als Protest gegen die „formierte Gesellschaft“ Ludwig Erhards begonnen hat – der damalige Bundeskanzler dachte da so wenig verfassungsfreundlich wie die heutige Bundeskanzlerin mit ihrer Forderung einer „marktkonformen Demokratie“, dies nur am Rande. Auch uns im Westen störte die zunehmende Uniformierung, Achtundsechzig war ja auch Schrei nach Vielfalt, nach Widerspruch, nach Diskussion. Die Sache wurde nur dadurch kompliziert, dass die linke Opposition zunehmend selbst zur Uniformierung neigte. Trotzdem, wer damals im Verlag arbeitete, wer damals Gedichte oder Satiren schrieb, hätte kaum einen Satz mit so viel Zustimmung unterschrieben wie diesen Huchel-Satz: „Wir werden uns nicht uniformieren“. Es hätte mir gut getan, wenn wir 1971 und 1972 darüber hätten sprechen können, über die Tendenz zur Uniformierung in Ost und West, Rechts wie Links, Oben und Unten – und über das Nein dagegen. Und wie hätte es mich gefreut, wenn ich damals schon die Sätze aus dem „Sinn und Form“-Heft 3/1962 gekannt hätte, auf die ich jetzt erst durch Fritz Erpels Beitrag in „Text+Kritik“ aufmerksam wurde! Direkt hinter eine unterwürfige politische Erklärung der Akademie, formuliert von Stephan Hermlin, setzte Huchel einen „Gruß an Picasso“ französischer Autoren. Darin die unerhörten Sätze: „Daß der Mensch nein sagt, genügt, und alles ist gerechtfertigt. Die Hoffnung, die wir auf uns selber setzen, fängt an mit dieser Verweigerung. Und ruft er auch in der Wüste, der Neinsager, dann ist es die Wüste, die er verwirft: sein Ruf macht sie fruchtbar und bewohnt.“ Ein solcher Neinsager, wer möchte das als junger Autor nicht sein? Aber man täusche sich nicht, es ist, wenn sie nicht zur Attitüde geraten soll, zum schnittigen Zynismus, zum Feuilleton-Dünkel, die schwerste aller künstlerischen, intellektuellen Disziplinen. Auch darüber hätte ich gerne mit Peter Huchel diskutiert, in Rom oder später bei den zwei Treffen in Staufen, über die Kunst des Neinsagens, 1962, 1971, 2012.
Der alte Lächler aus Langerwisch im römischen Winter: In den Tagen seines Fortgehens, schätze ich, hat Huchel sehr gut gewusst, dass er nicht ankommen wird, weder in Italien, noch in der Bundesrepublik, noch sonstwo. Wahrscheinlich gibt es gar kein Ankommen für den, „der sein eigenes Beobachten beobachten kann“ – so Niklas Luhmanns Definition des Individuums, also, behaupte ich, des Dichters. Es gibt Bewegungen in mehr oder weniger krummen Kreisen, Spiralen, Kurven, Steigungen und Talfahrten. Es gibt kein Ankommen in Rom, es gibt kein Ankommen in Staufen, außer auf dem Friedhof. Einmal fortgegangen, gezwungen oder nicht, wird dem, der zu beobachten weiß und sein eigenes Beobachten beobachtet, alles fremd, auch die sogenannte Heimat, es sei denn, man will da nicht mehr genau beobachten, aufhören zu denken, also zu dichten, „verurteilt,/ den alten Jammer/ bis zur Vernichtung der Sinne zu sehen.“ (Ketzer von Padua)
Nachdem ich Jahre später das Gedicht „Der Ketzer von Padua“ gelesen hatte, dachte ich: Schade, dass keiner von uns in diesem Winter 1971/72 auf die Idee gekommen ist, zusammen im 62er Bus ins Zentrum zu fahren und am Campo di Fiori unsere Aufwartung bei Giordano Bruno zu machen. Es gibt nicht viele Denkmäler für die Männer und Frauen, die mit dem höchsten Ehrentitel der katholischen Kirche ausgezeichnet wurden, Ketzer. Giordano Bruno hat sein Denkmal nur dem Glück zu verdanken, dass die Italiener Rom erobert und das Papsttum teilweise entmachtet haben im Jahr 1870. Und dem Glück, dass Mussolini dem Druck des Papstes nicht nachgegeben hat, dies Denkmal bitte zu schleifen, obwohl die Kirche ihn als „Mann der Vorsehung“ umschmeichelte. Aus Wut darüber, dass dies Denkmal immer noch steht, hat man 1930 Brunos Mörder- Inquisitor zum Heiligen befördert. Dabei hat Bruno nicht einmal die Rolle des Papstes in Frage gestellt und der Kirche nicht die Gewalt über Laien in weltlichen Dingen entziehen wollen wie der Ketzer von Padua, sondern die Erkenntnis von der Ausdehnung der Materie vertreten, was heute jeder Physikschüler lernt.
Bruno also, darauf wollte ich hinaus, hätte ich zu Huchel gesagt (wenn ich das damals schon gewusst hätte), hat sich, bevor sie ihn auf diesem Platz bei lebendigem Leib verbrannten, von den Herren der Inquisition mit folgendem Satz verabschiedet: „Vielleicht habt ihr, die ihr mein Urteil sprecht, mehr Angst als ich, der es empfängt“. Das ist ein Satz, der auf die Kirche passt wie auf das Politbüro, den hätten Sie auch formulieren können, lieber Peter Huchel, vor den Tagen Ihres Fortgehens. Das hätten in den siebziger Jahren auch Solschenizyn und Mandela und hunderttausend andere sagen können und heute die Ketzer in den russischen und iranischen, chinesischen und türkischen Kerkern. Wo immer Meinungsfreiheit bestraft wird, könnten die Betraften, bis hin zu Liu Xiaobo oder Pussy Riot, Giordano Bruno zitieren: Ihr, die ihr das Urteil sprecht, habt mehr Angst als wir.
An Brunos Denkmal hätten wir uns treffen können, als Sympathisanten der Ketzer aller Zeiten und Gesellschaften, im Orden der Neinsager, in der Huchel ein guter Abt geworden wäre und ich gern ein Novize, doch einem Orden wäre natürlich kein ordentlicher Neinsager und Ketzer beigetreten. Peter Huchel war jedes Dissidenten-Pathos fern, umso radikaler, weil bescheidener, wirkt sein Satz von 1949: „Wir werden uns nicht uniformieren“, ein ästhetischer und ein politischer Vorsatz. Eine Leitidee auch für heute, in besser verfassten, demokratischen, aber ebenfalls von Servilismus, Uniformismus, Top-Flop-Denken bedrohten Gesellschaften. Huchel erinnert uns: Literatur ohne ketzerische Potenz ist keine. Wer nicht lernen will, sich Anbiederung und serviler Anpassung, sei es an den Staat, sei es an den Markt, sei es an die Medien, sei es an die Leser, zu verweigern, wird auch als Dichter nicht weit kommen. Wichtiger als Preise und Ruhm ist allemal die Unabhängigkeit, eine durch Kritik, Humor und Beharrlichkeit induzierte, vom gezielten Neinsagen inspirierte Souveränität. Übrigens, der Satz von 1949 heißt nicht „Wir lassen uns nicht uniformieren“, ist also nicht trotzig defensiv, sondern: „Wir werden uns nicht uniformieren“ – die schöne, selbstbewusste, fast heitere Form des Futur.