Nora Bossong
Laudatio auf Nora Bossong
Kunstpreis Literatur 2011 Akademie der Künste Berlin
Mit ihren Versuchsanordnungen, Rätsel- und Vexierspielen fällt Nora Bossong als eine der eigenwilligsten Autorinnen ihrer Generation auf. In dem Roman „Gegend“ entwirft sie eine abgründige, fast archaisch komplexe Familiengeschichte, verlagert in eine mediterrane Wüstenei, in dem Roman „Webers Protokoll“ die hohe und hohle Welt der Diplomaten. Welche Spannungen entstehen, welche Entladungen sind zu spüren, wenn zwei Halbschwestern, beobachtet von ihrem Vater, zum ersten Mal aufeinandertreffen? Nora Bossong löst solche Fragen mit den Mitteln der Poesie, in suggestiven Bildern – und, als gelernte Lyrikerin, mit der Kunst des Weglassens, bekanntlich eine der schwierigsten Künste. Oder, im zweiten Roman, welche Spannungen, welche Entladungen, wenn ein mittelmäßiger Diplomat teils ein tüchtiger Opportunist, teils, fast gegen seinen Willen, ein kleiner Widerständler wird, wie kommt der durch die Nazizeit im Konsulat in Mailand, wie fädelt er sich nach dem Krieg wieder ein in den diplomatischen Dienst, noch dazu in der Botschaft beim Heiligen Stuhl? Der Autorin gelingt auch die Versuchsanordnung mit einem scheinbar spröden Stoff, weil sie auf jede moralische Bewertung verzichtet und weil sie den Ängsten, Phantasien und dem Zittern ihres Helden bis zu seinen Schweißtropfen nachforscht. Ganz nebenbei: Die Literatur ist, wenn sie denn diesen Namen verdient, der Wirklichkeit immer etwas voraus. Die Leser von „Webers Protokoll“ werden über das, was die Historiker im Auftrag des Auswärtigen Amts aufgedeckt und vor einigen Monaten unter dem Titel „Das Amt“ publiziert haben, nicht so überrascht gewesen sein wie der Teil der Öffentlichkeit, der das Pech hat, diesen Roman noch nicht zu kennen. Aber nicht solches Vorahnen, nicht der Hinweis auf Akten und Tatsachen sind preiswürdig, sondern die Kunst, mit solchem Stoff umzuspringen, ihn mit poetischer Intelligenz zu vermessen und mit den inneren Spannungen der Figuren zu konstrastieren. Nora Bossong tut das mit einem erstaunlich entwickelten historischen Bewusstsein, mit harten Schnitten, mit stilistischer Strenge, mit schöner Lakonik und einer wohltuenden Leichtigkeit des Erzähltons, kurz: mit vielversprechender Souveränität.
Friedrich Christian Delius, Durs Grünbein, Ina Hartwig