Stefan Schütz
Laudatio auf Stefan Schütz‘ „Medusa“
gehalten am 30. April 1985
zur Verleihung des Alfred-Döblin-Preises
Lieber Stefan Schütz, meine Damen und Herren!
Im Oktober 1980 kommt ein 36jähriger Autor mit seiner Familie aus der DDR und erhält für ein paar Tage Asyl unter dem Dach dieser Akademie der Künste. Statt die üblichen Eintrittskarten in Form von Interviews oder Presseerklärungen vorzuzeigen, setzt er sich noch in der ersten Nacht an einen Küchentisch und arbeitet an den ersten Sätzen eines Romans. Er schreibt, bald in Wuppertal, drei Jahre lang weiter, wendet, nun in Hannover, ein weiteres Jahr für Überarbeitungen auf – schickt seine 763 Seiten für den Alfred-Döblin-Preis nach Berlin. Sie kennen, meine Damen und Herren, das Ergebnis: der Autor, Stefan Schütz, sitzt heute wieder in der Akademie, wenn auch nicht am Küchentisch, denn sein Roman Medusa hat den einstimmigen Zuschlag der Jury bekommen. Der Autor mag mit dem Preis auch diese räumliche Anekdote feiern – wir aber haben zu begründen, warum gerade Stefan Schütz heute in der ersten Reihe sitzt.
Der Döblin-Preis, das muß immer wieder gesagt werden, wird nicht für fertige Manuskripte, schon gar nicht für fertige Bücher vergeben. Es ist die Absicht des Stifters, die Geduld beim Schreiben zu belohnen und die letzten erschöpfenden Etappen eines Arbeitsprozesses überbrücken zu helfen. Nicht-Fertiges also stand zur Wahl, doch Nicht-Fertiges ist schwer vergleichbar – deshalb kann das Votum für Schütz kein Votum gegen die anderen Autorinnen und Autoren sein, zumindest nicht gegen die, die zu den Lesungen morgen und übermorgen eingeladen wurden. Es ist dennoch ein Votum gegen die aktuellen literarischen Trends, gegen die Betroffenheits- und Nabelschauliteratur, gegen die zunehmende Einfallsarmut hinsichtlich Figuren, Schauplätzen, Konflikten, Sprache. Es ist ein Votum für einen kühnen, fast einmaligen Entwurf: die unendliche Traumwanderung einer Frau durch die Schluchten einer sozialistisch genannten Gesellschaft; die Beschreibung der Kämpfe der Männer gegen Frauen aus der Perspektive einer Frau; die Abrechnung mit einer Vergangenheit, die nicht vorbei ist.
Was soll uns das? höre ich manche literarischen Betriebswirte fragen, schon wieder so eine Sozialismus-Vergangenheitsbewältigungslektüre? Haben nicht Solschenizyn und Kopelew, Kazimiers Brandys und Milan Kundera, Uwe Johnson, Helga Novak und hundert andere nicht längst alles gesagt?
Nein, bei allem Respekt vor den Werken dieser Autoren, kaum einer hat versucht, die Grenzen eines – wie auch immer nuancierten – Realismus zu überschreiten. Schütz dagegen, das muß zunächst ohne literarische Wertung gesagt werden, probiert einen anderen Weg: er versetzt seine Erfahrungen in eine andere, eher surrealistische Sprachebene und verfremdet sie damit doppelt. Er nimmt also keine sogenannten glaubhaften Romanfiguren mit festem Wohnsitz, überschaubaren Handlungsnetzen und säuberlich abgesteckten Gedankenfeldern. Er schildert nicht ab, sondern benutzt die Realität der Konflikte zwischen Anpassung und Opposition, Einsicht und Ekel, zwischen Parteireden und Bierreden lediglich als Material, als Tagesreste für einen langen Traum in der langen Nacht der Marie Flaam. Schütz übersetzt die Erfahrungen und Ängste seiner Hauptfigur in die Sprache und Logik des Traums, den er uns bis in die feinsten Verästelungen hinein und wie in Zeitlupe vorführt. Erst mit diesem Kunstgriff einer radikalen Subjektivierung, so scheint mir, wird der staatliche Dschungel überhaupt darstellbar. Erst so kann Schütz die Strukturen eines spätstalinistischen Gesellschaftssystems und die allgegenwärtigen Ängste, Pressionen und Opportunismen erfassen – in Danteschen Bildern, gewaltigen Grotesken, absurden Obszönitäten und Streitgesprächen. Unmöglich, solch ein Opus vorzustellen. Ich kann Ihnen allenfalls ein paar Linien und Motive nennen.
Im ersten Teil, Kathedrale des Ichs, wird die mit dem preußischen Adler verzierte Brücke, die die Friedrichstraße, drei oder vier Kilometer von hier, über die Spree führt, zur Brücke in eine zeitgenössische Unterwelt. Der Blick der Marie Flaam auf die emsig laufenden Passanten auf der Friedrichstraße verdichtet sich zum Bild eines immer größer werdenden, übermenschlichen Hinterns, von dem die Leute angesogen werden und in dem sie scharenweise verschwinden. Das Wort Arschkriechen wird zur Metapher ausgebaut und immer grotesker und beängstigender, je länger Schütz dieses Bild durchhält. Ob Machtverwalter oder Mitläufer, ob Theaterdirektor oder Schauspieler, ob alte Säufer oder junge Jeansträger, Marie Flaam begegnen etliche Nebenfiguren ihres Lebens, die sie zu provozieren oder zu bezirzen und mitzuziehen versuchen. Sie sträubt sich gegen den Sog, verliert ihre Kräfte – doch es bietet sich ihr eine Freundin als Führerin an (die Parallele zu Dante wird nicht verheimlicht), Gorga Sappho, und zusammen treten sie, als bewußte Zuschauerinnen, ein in die Anuspforte, in die vieldimensionalen staatlichen Gedärme. Gemeinsam beobachtend durchlaufen sie das bürokratische Inferno, wo man im Glückseligkeitssaal alle Widersprüche wegbaden darf, wo es Wendeltreppen für Aktivisten und Räume für die ewigen Abwarter gibt, wo in den Kantinen eine Gruppe immerzu ißt, während die anderen immerzu Schlange stehen, wo ein Philosoph einigen Auserwählten das Lachen zu lehren versucht, wo in den Hallen der Wünsche und Hoffnungen Marie Flaam sogar mit einem Orden beleidigt wird.
Im zweiten Teil finden wir das junge Mädchen Marie 1945 mit der Weimarer Bevölkerung auf dem von der US-Armee befohlenen Marsch auf den Ettersberg zum KZ Buchenwald. Sie trifft Naphtan, den alten Juden und jungen Geliebten, sie stehlen sich weg in den Wald, lieben sich, werden verhaftet und in ein Lager der Kinderrepublik gesperrt. Dort sind die Zehnjährigen perfekte Stalinisten und führen an den Gefangenen Gehirnexperimente zwecks Entfernung aller Subjektivitätsreste durch.
Free play of love heißt der dritte Teil, ein Wechselbad von Frauenphantasien und Männerphantasien; beim Frauenarzt, in Läden und Kellerkneipen und vor Maschinen, die die Partner beim Geschlechtsverkehr ersetzen. Dazwischen der Versuch von Maries Freundin, für matriarchalische Utopien zu werben, die jedoch von Männern wie Frauen verlacht werden. Schließlich die Spiegelung dieser Träume in den Träumen Naphtans, des alten und jungen, zwischen Liebe und Haß hin- und hergetriebenen Mannes.
Nun, meine Damen und Herren, ich will mich nicht weiter blamieren und aus 750 Seiten einen Waschzettel machen. Solche dürren Resümees sagen nichts über die Sprengkraft der einzelnen Bilder und erst recht nichts über die Methode und Dynamik des Textes. Da zitiere ich lieber den Autor, aus dem Vorwort:
„Der Traum jener Person Marie Flaam… und die ihm innewohnende Bewegung, resultierend aus der energetischen Kraft bestimmter Ereignisse, Begegnungen und Speicherungen des Gedächtnisses, haben sich zu einer fortlaufenden, mehr an Geschwindigkeit orientierten Geschichte zusammengefügt, die die Kraft ihrer Utopie vor allem aus der Möglichkeit schöpft, daß der Leser sich dem energetischen Prinzip nicht ohne Ingangsetzen von eigener Bewegung entziehen kann. – Mich hat die Bewegung interessiert, die Strahlungen, die von der Materie eines Hirns ausgehen und empfangen werden. Energien, die sich treffen, spalten, wandeln, eine Welt voll eiliger Elementarteilchen, die uns Richtungen geben, Abweichungen aufzwingen und Gedanken produzieren.“
Es ist bekanntlich ein Merkmal für die Qualität von Literatur, daß sie sich verschieden lesen läßt. Der Medusa-Roman wird das bestätigen, er will eine Fülle von Assoziationen, Vorstellungen und Interpretationen wecken. Ich will mich jetzt nicht auf die politischen Deutungen einlassen – denn die sind abhängig von sogenannten Standpunkten. Es sei hier nur soviel gesagt: Der Versuch, einen Sozialismus, der auch zu Krieg und Völkermord fähig ist, als besondere Ausprägung von Männerherrschaft zu beschreiben, wird sowohl von Parteimenschen als auch von kalten Kriegern einträchtig als Blasphemie verstanden werden.
Heute abend ist es wichtiger, noch ein wenig über die literarischen Felder und Nachbarschaften zu sagen. Manche Kenner der Literaturgeschichte werden sich an die Gesänge von Dante, andere an die Gesänge des Maldoror von Lautréamont erinnern. Nicht wenige Leser aber werden Stefan Schütz mit dem Namensgeber dieses Preises in Verbindung bringen, mit Alfred Döblin. Da ist nicht nur der unablässige Kampf um Wahrheit, der Vergleiche provoziert: „Was wahr und falsch ist, werd ich jetzt besser wissen. Ich bin schon einmal auf ein Wort reingefallen, ich habe es bitter bezahlen müssen, nochmal passiert das dem Biberkopf nicht.“ Und Marie Flaam: „Ich habe zwei Wahrheiten hinter mir, die eine erfuhr ich mit meinem Eintritt in die Partei, die andere begriff ich, als ich entfernt wurde.“
Da sind die vergleichbaren literarischen Techniken – auch Döblin erzählte Abläufe und keine Geschichten, auch Döblin baut das Geschehen nicht kausal, sondern choreographisch, auch Döblin kommt es auf die Genauigkeit der Bewegungen beim Beschreiben der immer neuen Kämpfe an.
Und da ist nicht überall, aber häufig, die gehobene Sprache bei Schütz, die man gewiß leichter akzeptieren wird, wenn man sich Döblins Drei Sprünge des Wang-Lun, den Amazonas-Roman oder gar das Versepos Manas ansieht.
Nun, ich will es mit Ähnlichkeiten nicht übertreiben. Natürlich ist Schütz, in mehrfacher Hinsicht, kein zweiter Döblin – aber eine Erbschaft muß noch angesprochen werden. Ich meine den Expressionismus. Erst in dieser künstlerischen Befreiungsbewegung hat der junge Döblin – allerdings auch schon weit älter als 30 – seine strengen literarischen Ansprüche und seine sprachlichen Rhythmen finden können. „Ein Stück, nur aus einem Schrei gebaut, das wäre ehrlich“, hat Schütz einmal geschrieben. (Ehrlichkeit, wir wissen es, gilt nicht als literarische Kategorie, doch ist ehrlich wiederum „ein Leitmotiv der stilistischen Wertmaßstäbe Döblins“, W. Grothe.) Hier haben wir einen Roman, aus einem Schrei gebaut.
Bei Schütz ist mehr zu hören als ein schwaches Echo des Schreis der expressionistischen Revolte. Anläßlich des Stücks Die Seidels hat schon Hans Mayer darauf hingewiesen, daß der expressionistische Kern von Stefan Schütz keineswegs historisierend oder nostalgisch ist. „Ein Stück der Wut und Verzweiflung von heute“, schreibt Mayer, „eher geschärft durch die Erkenntnis, daß die Wahnsinnstaten und Blödheiten von damals gleichsam singulär und harmlos wirken, vergleicht man sie mit den Greuelnachrichten einer jeden Zeitungsausgabe aus dem Jahr 1984.“
Ob Medusa wirklich ein neu-expressionistisches Werk ist, ob Medusa als bitterböser Gegenentwurf zur Ästhetik des Widerstandes von Peter Weiss verstanden werden kann, und wie die ausschweifenden Lästerungen dieser Prosa schließlich literarisch zu bewerten sind – über all diese Fragen mögen, wenn das Buch einmal fertig ist, kompetentere Leute debattieren. Denn so viel ist gewiß: man wird nicht achselzuckend oder nickend über dies Werk hinweggehen. Man wird heftig darüber streiten.
„In unseren Breiten zu schreiben“ – und Sie, meine Damen und Herren, dürfen jetzt raten, ob ich Döblin oder Schütz zitiere – „In unseren Breiten zu schreiben, ergibt nur dann einen Sinn, wenn man aus seinem eigenen Kopf die Gewohnheit herausreißt, den Konformismus, wenn man Leib und Hirn der Gesellschaftsordnung entgegenwirft, um die Wenigen, die noch ein Ohr für Wörter haben, und auch die Vielen, die schon taub gezüchtet sind, an das Fragen zu erinnern… Bis zum Äußersten, denn nur dann besteht ein Funken Interesse beim Publikum, und auch in seiner Ablehnung muß man bereit sein, die eignen Ketten zu zerbrechen.“
Den jungen Döblin, der diese Sätze nicht geschrieben hat, kann ich mir gut als Leser von Medusa vorstellen, egal, ob er in der DDR oder diesseits der Mauer aufgewachsen wäre. Wir heutigen Leser, die wir keine Expressionisten sind und uns die größte Mühe geben, keine zu werden, tun uns mit diesem Buch schwerer. Da wir unserer Phantasie immer seltener eine langandauernde Anstrengung gönnen und da wir an eine Gegenwartsliteratur gewöhnt sind, die formal eher am schwiemeligen Hesse als am sperrigen Döblin orientiert ist, kommt uns das Medusa-Opus wie eine Zumutung vor. Es ist in der Tat eine Zumutung, ja, eine Unverschämtheit – im besten Sinne. Auch die Jury, das darf ich verraten, hat zuweilen gestöhnt. Nicht nur, weil das vorliegende Manuskript eine Rohfassung ist und eines meisterhaften Lektorats bedarf. Nein, vor allem deshalb, weil Schütz mit seiner Bilder- und Gedankenfülle den Leserinnen und Lesern eine Konzentration fast bis zur Schmerzgrenze abverlangt. Das „vom bürgerlichen Standpunkt aus Unangemessene“ (Heiner Müller) dieses Autors, dieses Buchs wird sogar etliche Leute zur Verzweiflung bringen, zuerst Lektoren, Verlagsleiter, Hersteller. Auch Berufskritiker werden fluchen, schon weil Medusa mindestens eine Lektürewoche kostet, in der sie sonst vier bis fünf Romane vertilgt und abgehakt hätten. Und wahrscheinlich werden manche zunächst mutige Leser enttäuscht sein, zumindest die, die überschaubare Konflikte, gefällige Charaktere oder die wärmende Bestätigung eigner Empfindungen suchen. Frauen allerdings, da bin ich mir sicher, werden mit Marie Flaam mehr Geduld haben als Männer.
Nach Günther Rühle brauchen Schützens Stücke „kräftige energetische Schauspieler“. Ich möchte ergänzen: sein Roman braucht ebensolche Leserinnen und Leser.
Stefan Schütz, der sich als DDR-Schriftsteller in der Bundesrepublik bezeichnet, hat einmal einen kurzen Beitrag über seinen Weg von Deutschland nach Deutschland verfaßt, der in einer Broschüre der Bundesanstalt für politische Bildung erscheinen sollte, aber aus politischen Gründen abgelehnt wurde. Darin steht: „Ich hoffe, (hier) bleiben zu können, bis man mich zu verstehen beginnt, und ich werde gehen müssen, wenn ich in Mode komme.“
Nein, Schütz wird nicht gehen müssen. Er wird nicht so schnell in Mode kommen – jedenfalls nicht mit diesem sperrigen, unverdaulichen und nicht-konsumierbaren Roman. Wir werden uns also weiterhin mit diesem Autor herumzuschlagen haben. Doch, wer sich auf diese Auseinandersetzung einläßt, dem kann ich schon jetzt die produktivsten Turbulenzen versprechen.
(aus: Stefan Schütz, Medusa. Prosa. Taschenbuchausgabe rororo 12699, Reinbek 1990)