Friedrich Christian Delius, FCD

Libuse Moníková

Rede auf die Fürstin Libuse Moníková

Die Nachrufe sind geschrieben und fast wieder verwelkt, die ersten Stiefmütterchen und Rosen wachsen auf dem Grab, und Libuse Moníková liegt auf dem Alten Sankt Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg, wenige Schritte neben den Brüdern Grimm und wenige Schritte von der Frauenrechtlerin Minna Cauer entfernt.
Uns, die wir sie lasen und kannten und schätzen und lesen, ist der Schock noch nicht gewichen, den ihr Tod hinterlassen hat. Ein vielfacher Schock. Sie hatte doch gerade erst die vermeintliche Mitte des Lebens hinter sich, ihr waren nur sechzehn Jahre Präsenz im literarischen und öffentlichen Leben vergönnt, und was für eine außerordentliche Präsenz! – und wir hatten noch so viel von ihr in den nächsten Jahren, Jahrzehnten erwartet.
Ein viel zu früher und sehr grausamer Tod, der Verlust einer großen Autorin und der Verlust einer eigensinnigen Freundin – es ist in einer Rede nicht zu fassen, wen und was wir verloren haben.
Unverwechselbar, unersetzlich, diese Worte passen ausnahmsweise – und auf die deutsche Literatur unserer, der sogenannten mittleren Generation bezogen, passen sie zum ersten Mal wieder seit 1979, seit dem Tod von Nicolas Born, der eine ähnlich tiefe Lücke gerissen hat.
Bis zuletzt, mit allen ihren letzten Kräften hat Libuse an dem Manuskript Jakub Brandl gearbeitet, das als Roman unter dem Titel Der Taumel im Herbst 2000 erschienen ist. Im Dezember-Heft 1997 der Zeitschrift Akzente ist ein Auszug daraus erschienen, ich zitiere nur drei Sätze:
Taumel, Schwindelgefühl, die seit kurzem vertraute Taubheit in der Hand und das Ticken im Kopf. Wir alle tragen unseren Tod mit uns, unbewußt, im allgemeinen Tumult und Rumor unbemerkt, bis uns unsere Verschütteten einholen. Das Jahrhundert der Verschütteten.
Welche Verschütteten, welchen Tod trug sie mit sich, vom ersten Schreiben an?
Schwerer als Libuse dürften es hierzulande in den siebziger, achtziger Jahren nur wenige Autorinnen oder Autoren gehabt haben. Geschlagen vom Überfall des August 1968, in Prag ohne Zukunft und, wie sie erst später begreift, ‘wegen der allumfassenden Diskriminierung von Frauen’ 1971 ins Exil getrieben in die Bundesrepublik, wo sie der üblichen Mischung aus Verständnislosigkeit und oberflächlichem Mitleid ausgesetzt ist.‘
In den ersten Jahren in Deutschland’, schreibt sie 1991, ‘war ich nicht fröhlich. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich lachte. Es war Arno Schmidts Caliban über Setebos; bis dahin legte ich alles von ihm beiseite – nicht schon wieder einen Joyce! Seit dem ersten Mal habe ich nicht aufgehört bei ihm zu lachen. In gewisser Hinsicht war er für mich ein Grund zu bleiben – ich war neugierig, was ihm noch einfällt’.
Mit all diesen Hypotheken und Anregungen beginnt die Emigrantin, neben ihrer Tätigkeit an der Uni, einen Roman zu schreiben. Die Geschichte einer Vergewaltigung, auch eine große Parabel der Vergewaltigung der Tschechoslowakei durch die Sowjetunion. Sie merkt bald, sie kann das nicht in ihrer Sprache schreiben, sie muß ins Deutsche wechseln. Und als Eine Schädigung – unter welchen Mühen, das vermag ich nicht zu ermessen, fertig ist, hören die Demütigungen, die Schädigungen nicht auf.‘
Bei meinem ersten Buch’, schreibt sie später, ‘das von einer Vergewaltigung handelt und das ohnehin sperrig ist, machte mir ein Verlag den Vorschlag, ein deutsches Pseudonym anzunehmen, sie würden mein Manuskript herausbringen. Ich habe abgelehnt und wartete dann auf die Drucklegung fünf Jahre’.
Aus einem herzhaften Gerechtigkeitssinn und aus einem feinen Stolz heraus hat Libuse Moníková immer wieder darauf bestanden, daß wir Deutschen doch bitteschön wenigstens die tschechischen Namen und Orte einigermaßen richtig aussprechen sollten. Das war für sie eine Frage des Respekts, der Gleichberechtigung.
Ihren eigenen Namen nun sogar als Stigma, als einziges Hindernis für die heißerwünschte Publikation disqualifiziert zu sehen, also einer Art kulturellem Münchner Abkommen unterworfen zu werden, muß für sie die größte Kränkung gewesen sein – und sie hat sie tapfer fünf Jahre lang ausgehalten.
Gabriele Dietze und dem Rotbuch Verlag kommt das Verdienst zu, die Drucklegung 1981 ermöglicht und ihr auch bei dem zweiten Buch beigestanden zu haben, Pavane für eine verstorbene Infantin (1983). Diese Erzählung ist, neben Verklärte Nacht von 1996, das persönlichste Buch. Warum Libuse in den siebziger Jahren in Deutschland nicht fröhlich und nicht heimisch wurde, erfahren wir hier, in einem Werk von tiefer Komik.
Im skeptisch-analysierenden Blick einer Frau, die sich als Dozentin vor strickenden Müttern mit einem zur Ideologie verhärteten Feminismus ebenso herumschlägt wie mit der beleidigenden Borniertheit gutwilliger Linker. In der Beschreibung eines Versuchs, als gesunde Frau das Leben einer Rollstuhlfahrerin zu führen und die Reaktionen der Mitwelt zu registrieren, schließlich in dem Unterfangen, die Geschichte der Barnabas-Familie aus Kafkas Schloß in Kafkas Auftrag in Kafkas Stil weiterzuschreiben. Dazu Filme, Janáceks Musik, Arno Schmidt als Motivationshilfen. Dies Buch, vielleicht ein sogenanntes Schlüsselwerk, läßt sich als Versuchsreihe lesen, untergründige, verborgene Zusammenhänge zu entdecken.
Der entscheidende Versuch wird dann in den drei Romanen Die Fassade, Treibeis und Verklärte Nacht durchgespielt: der Welt zu beweisen, daß Shakespeare im Wintermärchen und Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht – 1968 im berühmten Kursbuch 15 veröffentlicht – recht hatten: Böhmen liegt am Meer. Das ist ein Leitmotiv für Libuses ganzes Werk geworden, einschließlich der vielen wunderbar anregenden, aufregend nüchternen Essays und Reden: Böhmen liegt am Meer.
In allen Büchern wird die Tschechoslowakei gewissermaßen europäisiert – und den Europäern ihre tschechische Seite gezeigt. Jedes Buch liefert Belege, daß die Tschechoslowakei, Böhmen, Prag nicht am ‘Rand der Steppe’ liegen, sondern in Mitteleuropa. ‘Alle Romane spielen, egal wo sie spielen, in der Tschechoslowakei’ (Iris Radisch). Alle Hauptfiguren sind mit hemmungsloser Neugier auf die Welt gesegnet und sprengen, weil die politischen Verhältnisse so sind wie sie sind, die Grenzen, springen über Grenzen, sind Emigranten, Vaganten, Nomaden. Die Figuren tragen ihr Böhmen in die Welt, nach Deutschland, Österreich, nach Japan, Sibirien, Grönland, an die Meere. Meines Wissens hat kein Autor in den letzten Jahrzehnten uns Prag so nahegerückt, vergrößert und entschlüsselt wie Moníková.‘
Seit ich schreibe und mich aufgrund dieser Tätigkeit öffentlich äußere, versuche ich, Kenntnisse über das Land, aus dem ich komme, zu verbreiten und es möglichst würdig zu vertreten’, schrieb Libuse 1990. Sie hat sich damit selbst als Botschafterin definiert – und es muß ihr die größte Genugtuung gewesen sein, noch wenige Wochen vor ihrem Tod, am 28. Oktober 1997, dem Tag der Republikgründung, von Václav Havel mit der Masaryk-Verdienstmedaille belohnt worden zu sein.
1987 erhielt sie für ihr Manuskript der damals noch nicht fertigen Fassade in selten schneller Einmütigkeit den von Günter Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preis. Dieser Roman brachte den sogenannten Durchbruch – und ist selbst ein Beispiel für die Sprengkraft von Fiktion. Die Fassade, habe ich damals gesagt, mit ihren vielen Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen, ist einer der wenigen europäischen Romane, die gegen Mauern und Grenzen rebellieren. Mitten in aller Komik immer wieder Wut und Trauer über Grenzen, Einengungen, Unterdrückungen, über den ‘zerschlagenen Elan von 68, die schon vergessene Lust, sich mit dem Staat einzulassen, ihn von Grund auf zu verändern’. Die Fassade, ein durch und durch rebellisches Buch. Unnötig zu sagen, daß dieser Roman noch lange bleiben wird, egal, ob er als Künstlerroman oder als Heimatroman, als historischer oder politischer, als Reise- oder als Gelehrtenroman gelesen wird. Er ist zum Glück inzwischen so bekannt, daß man hier nicht mehr für ihn werben muß.
Alle Figuren der Moníková, sagte ich, sind ständig in Bewegung. Auch im Roman Treibeis gibt es keinen Stillstand, weder räumlich, noch intellektuell, noch in der Liebe. Nach einem der komischsten Zusammentreffen eines Paares, das ich aus der Literatur kenne – nebenbei: wie schön, diskret und souverän Libuse Umarmungen und Sexualität beschreiben konnte, müßte einmal extra gewürdigt werden – purzeln Jan Prantl, der Prager Lehrer aus Grönland, und Karla, das Prager Stuntgirl aus Österreich, in eine Liebesgeschichte, deren Intensität und Sehnsucht beschleunigt wird von einer Unruhe, die auch durch ständiges Reisen und Erzählen nicht zu beschwichtigen ist. Es ist die Unruhe der Exilanten. Das bewegliche Gedächtnis der beiden Protagonisten, die, zwei verschiedenen Generationen von Emigranten angehörend, die Geschichte ihres Landes mit sich herumtragen, kommt erst durch die Reibungen der Liebe zur Sprache, neben- und gegeneinander. Verwicklungen und Widersprüche bleiben bestehen. ‘Sie gelangen an einen Punkt, wo jeder ein anderes Land vor sich hat, das sie Tschechoslowakei nennen, mit schiefem Mund auch “Heimat”’. In der Figur Karla könnte man etliche Striche für ein Selbstporträt der Autorin finden, die Jugend in Prag, die Familie, die Kinoerlebnisse, der frühe falsche Glaube an die kommunistischen Erlösungsversprechen, der Schlag von 1968, aber es ist bezeichnend, daß Libuse Moníková diese (möglichen) Übereinstimmungen nicht ausspielt, sondern, wie Roland Wiegenstein schrieb, ‘ihre traurigen Helden mit zärtlicher Diskretion bedenkt’.In der Verklärten Nacht, 1996, der Versuch, sich in das neue Prag wieder einzuleben, es neu zu benennen, es sich anzueignen. ‘Die Geschichte der Stadt ist eine Geschichte der gegenseitigen Antworten zwischen Tschechen und Deutschen, ohne daß eine Seite jemals gefragt hätte’, heißt es da. Bei der zweiten Lektüre habe ich mir den unscheinbaren Satz angestrichen: ‘Libuse prophezeit von ihrem Sockel den Ruhm der Stadt’ – die Rede ist von der Fürstin Libuse, zu der es im Werk der Autorin Libuse immer wieder Anspielungen gibt. Auf die Fürstin komme ich zurück. Libuse hat uns vorgeführt, daß die Literatur – neben vielem andern – die höchste Form von Heimatkunde ist, und darin ist die Moníková weniger den alpenländischen Autoren als vielmehr Uwe Johnson verwandt. Die späte, heftige Freundschaft zwischen beiden ist dafür nur ein Indiz: eine der letzten Postkarten, die Johnson schrieb, ging nach Bremen an Frau Moníková. Johnson mußte seine Landschaft, sein Land ebenfalls aus politischen Gründen verlassen, deshalb machte ihn die liebevoll exakte (Weit-)Sicht auf sein Mecklenburg zum politischen Chronisten zweier Epochen. Beharrlichkeit als Stilprinzip bei Johnson und Moníková. In gewisser Hinsicht ist sie moderner, weil sie sich mit großer Selbstverständlichkeit und Spielfreude der Mittel der Montage, des Comics, der Kolportage und der essayistischen und filmischen Techniken sowie der musikalischen Antriebskräfte bedient. Auch das verdiente einen Essay für sich: Moníková und die Musik.
Nie hat sich Libuse geduckt, nie angepaßt. (Selbst in Japan, wo sich jeder vor jedem verbeugt, bewahrte sie ihre gerade Haltung und wurde sogar so kühn, den Japanern die Ethik der Samurai anzupreisen, was aber nur vornehmes Kopfschütteln auslöste). Sie ist vom ersten Buch, vom ersten Interview an mit einem trotzigen Selbstbewußtsein aufgetreten: als Autorin, als Pragerin, als Tschechin, als Frau und kompetente Fachfrau – und da, wo sie nicht kompetent war, als unersättliches Frage- und Neugierwesen.
Aufrichtig, ohne das Pathos der Selbstgefälligkeit, und mit traumwandlerischer Eigensinnigkeit ist sie ihren Weg gegangen. Ihr Ernst hatte einen federnden, doppelten Boden, ihr Witz war von höchster Vernunft grundiert. Sie kokettierte mit nichts und mit niemandem. Eine diskrete Freundin, oft streng, aber mit einer Strenge, wie sie nur großen Humoristen zu eigen ist.
Sie wird, da bin ich sicher, noch lange gelesen werden, weil sie der Sorte Schriftsteller zuzurechnen ist, die nicht das schnelle Einverständnis suchten, sondern die Intelligenz ihrer Leserinnen und Leser auf immer wieder überraschende Weise herausfordern und damit ein besonderes intellektuelles Vergnügen stiften.
Politisch hellwach, literarisch unbestechlich, auf mutige, undogmatische Weise feministisch, enzyklopädisch denkend und auf vernünftige Weise komisch, mit ihren berühmten weiten Pullovern bürgerliche Etikette lässig unterlaufend, lieber Nomadin als Besitzerin, unerschrocken und mit Zivilcourage, nicht nur im Einsatz für die sterbenden böhmischen Wälder – es sei mir erlaubt, alle diese Eigenschaften und Verdienste hier nur summarisch zu streifen.‘
Ich bin dennoch nicht gänzlich pessimistisch’, schrieb sie in ihrem Essay Der Dichter als Brauch.
Da die Inhalte aufgehört haben, subversiv zu sein, wird es die Form leisten müssen, wie seit je in freieren Zeiten.
Und die Themen? Das heilige Triumvirat, von Arno Schmidt aufgestellt, behält seine Gültigkeit: Landschaft, Intellekt, Eros.
Wie es um die beiden letzteren beschaffen ist, bleibt jedem einzelnen überlassen.
Wie es um die Landschaft steht, geht alle an.
In der Laudatio zur Roswitha von Gandersheim-Medaille im Frankfurter Römer im Herbst 1995 habe ich ihr ein langes Leben, noch einige überraschende Bücher und eine spätere Ehrung als eine Fürstin Libuse der europäischen Literatur gewünscht. Heute muß ich sagen: Der Reichtum ihres Werkes reicht wahrlich aus, um sie zur Fürstin Libuse der europäischen Literatur zu erklären. Ich wünsche Leserinnen und Leser in allen europäischen Sprachen, die diesen Rang der Libuse Moníková erkennen und ihr gönnen.
Ich danke Libuse für ihre so zurückhaltende wie zuverlässige Freundschaft.
Ich danke allen, die ihr Werk gefördert und publiziert und rezensiert haben.
Ich danke Michael Herzog und Wolfgang Coy dafür, wie sie Libuse begleitet, angeregt und gestützt haben.
Ich danke Libuse für jeden Satz, den sie uns geschenkt hat.
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1998, Göttingen 1999
Brigid Haines, Lyn Marven (Hrsg.), Libuse Moníková: In Memoriam. Amsterdam: Radopi, 2005

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