Wolfgang Koeppen
Ein kurzer Satz für Koeppen
Ruft da zum Beispiel ein Redakteur an mit der Bitte um einen Satz über Wolfgang Koeppen, den heute, drei Monate vor seinem 90. Geburtstag gestorbenen Romanautor Koeppen, aber bitte nur ein, zwei Seiten, wir haben höchstens vier Minuten, wir haben schon einen anderen Beitrag rauswerfen müssen, dann sehe ich den lieben Alten verschmitzt lächeln, er kennt die Bräuche der Eile und der Verwertung, er hat sie beschrieben, er hat sie durchschaut, er hat sich entzogen, nun stülpt man auch über ihn wieder, wie schon zu seinen runden Geburtstagen, die so glatten wie falschen dpa-Formeln aus dem Speicher für Nachrufe, da möchte ich, wenn schon befragt, ihn doch lieber schlicht den größten deutschen Autor der fünfziger bis siebziger Jahre nennen, weil er wie kaum ein zweiter die Gesellschaft, in der er lebte, bis auf den Grund der Verzweiflung durchschaute und dies in wunderbar leichten, dichten, schmiegsamen“ (Enzensberger), elliptischen Sätzen zu beschreiben wußte, was man schon früh als „magischen Realismus“ bezeichnete, angefangen bei den „Tauben im Gras“ dem Roman der allerersten Nachkriegsjahre, noch stärker als im „Treibhaus“ (1953), wo Koeppen, als unsere Republik erst vier Jahre alt war, die Stadt Bonn und die politische Struktur Bonns, die zynischen ebenso wie die gutwilligen Demokraten in ihrer geballten Hilflosigkeit beschrieb, all diese geschäftigen Menschen, die sich für Persönlichkeiten der Geschichte halten, „für öffentliche Größen, nur weil sie ein Amt hatten, weil ihre Gesichter durch die Presse liefen“, und für seine Weitsicht seinerzeit nicht weniger beschimpft wurde als für den „Tod in Rom“ (1954), weil er es wagte, alte und halbgewendete Nazis und ihren Einfluß in der Gesellschaft darzustellen und mit der Verzweiflung der jungen, in Kunst und Homosexualität flüchtenden Nazikinder zu verbinden, dieser Koeppen, der für die fünfziger Jahre zu viel sah, zu viel wußte und zu gut schrieb und deshalb in die Reiseliteratur abgedrängt wurde, auch diese zu gut für die Zeit und deshalb überdauernd, dieser Koeppen verschwand in den sechziger Jahren beinah aus der literarischen Öffentlichkeit, obwohl ein Text von drei Seiten über die Geschichte Berlins und das „Romanische Café“ 1965 eigentlich einen Aufschrei der Begeisterung hätte auslösen müssen, zumindest in Berlin, das der Döblin-Schüler Koeppen fast so liebte wie Venedig, und blieb bis Mitte der siebziger Jahre relativ unbekannt, man gab ihm Preise und schmähte ihn mit Phrasen und Schweigen und hielt ihm sein Schweigen vor, weil er nicht im Takt des Literaturbetriebs publizieren wollte und konnte, bis er mit dem autobiographisch grundierten Text „Jugend“ wieder präsent war, und auch ich muß gestehen, daß ich erst nach intensiver Lektüre der Lateinamerikaner in den siebziger Jahren beim Lesen von „Jugend“ und beim Schreiben eines ersten Romans wieder neu entdeckt habe, was die deutsche Literatur an Koeppen hat, und nach und nach, spätestens beim Rotwein mit ihm in München und New York, begriffen habe, warum dieser höfliche, schüchterne Herr und nicht berühmte Autor, nicht einmal berühmt wegen eines Skandals oder Mißverständnisses, zwar einige tausend Leser, aber keine Fans hat, keine Gemeinde unter den eher konservativen Lesern und Denkern, denen er zu radikal, keine Gemeinde unter den Linken, denen er zu preußisch oder zu dunkel ist, keine Gemeinde der „Mitte“, die er am meisten verachtete, kein Dechiffriersyndikat, weil er zu klar schreibt, keine Kongreßritter-Interpreten, weil seine Wahrheit von seiner Kunst nicht zu trennen ist, warum in den kümmerlichen Debatten um Ästhetik und Realismus sein Name beharrlich ignoriert wird und selbst nach der Wende der Greifswalder Koeppen nicht als ein kritisch nationaler Dichter des sterbenden Preußentums entdeckt wird („Die Mauer schwankt“ und in vielen kleinen Prosastücken), und deshalb oder vielleicht aus Trotz oder um den Alten zu ehren habe ich, wenn man mich in Schulklassen oder im Ausland nach meinem Vorbild oder nach dem „wichtigsten“ deutschsprachigen Autor der Gegenwart fragte, den da wie dort unbekannten Namen Wolfgang Koeppen an erster Stelle genannt, was ich mit der Dankbarkeit eines immer noch lernenden Schülers in diesem den Umständen entsprechend leider allzu kurzgefaßten Satz wiederhole.
(Der Tagesspiegel, 16.03.1996)