Friedrich Christian Delius, FCD

Abbas Khider

Die deutsche Verlogenheit

Am Donnerstag  9. März 2017 wurde zum letzten Mal der Adelbert-von-Chamisso-Preis verliehen. Die Laudatio auf den Preisträger Abbas Khider hielt der Schriftsteller und Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius.

Vor 51 Jahren führte ein unbekannter italienischer Autor namens Pasolini in der Berliner Kongresshalle einen seiner Filme vor und sprach von der „dritten Welt in Deutschland“. Er meinte die sizilianischen und kalabresischen Bauern, die in Deutschland Arbeiter wurden. 1973 stellte ein unbekannter türkischer Autor namens Aras Ören in einem groß angelegten Poem die Frage „Was will Niyazi in der Naunynstraße?“, wofür er 1985 den ersten Adelbert-von-Chamisso-Preis bekam. 2008 beschrieb ein unbekannter irakischer Autor namens Abbas Khider in seinem Roman „Der falsche Inder“ die vielen Wunder, die nötig waren, von Bagdad nach Deutschland zu gelangen und dort, vorerst, bleiben zu dürfen – und nun erhält er für dies und drei weitere Bücher den 33. und leider (!) letzten „Chamisso-Preis“.

Fünfzig Jahre Immigration, man möchte meinen, die Deutschen hätten allmählich gelernt, damit halbwegs entspannt umzugehen. Pasolini hat man damals nicht verstanden (ich weiß es, ich war dabei), Aras Ören schon ein wenig besser (ich weiß es, ich habe ihn lektoriert und verlegt). Aber verstehen wir Abbas Khider? (Das weiß ich nicht.)

Er bringt uns zum Lächeln, lässt uns staunen über die Wunder im Elend

Gewiss, die Deutschen haben viel gelernt und viel getan, aber immer noch nicht genug – und niemand zeigt das so deutlich wie Khider mit seinem Roman „Ohrfeige“. Eine Frau Schulz, die für uns alle steht, Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde, wird in ihrem Büro vom Erzähler gefesselt, mit einem Klebeband zum Schweigen gebracht und zum Zuhören gezwungen, weil dieser sich „einfach mal von Mensch zu Mensch in Ruhe unterhalten“ will. Schon die Frechheit dieses Einfalls zeigt, dass hier keine der üblichen nützlichen Reportagen über Asylsuchende und Flüchtlinge vorliegt, sondern dass hier ein Dichter am Werk ist. Ein formbewusster Autor, der dank dieses Einfalls die uralte europäische Form des Schelmenromans wiederbelebt.

Karim Memsy, einem jungen Mann aus Bagdad, sind Brüste gewachsen, er schämt sich dieser Missbildung, begeht deswegen Fahnenflucht, und so beginnt seine Odyssee, die Scham wird politisch, in Bagdad ebenso wie in Bayreuth, macht die fürchterliche Flucht noch grotesker, die Realitäten absurder. Karim erzählt seine Geschichte, eine von Hunderttausenden Geschichten, mit ihren Hochs und Tiefs, Beschimpfungen, Beleidigungen, Tröstungen, Verzweiflungen, mit allem Witz und aller Wut über Saddam, Bush, Islamisten und deutsche Bürokraten. „Drei Jahre und vier Monate habe ich hier gelebt. In Dachau, in Zirndorf, in Bayreuth, in Niedernhofen und in München. Es geschah viel in dieser Zeit, aber nichts, worauf ich stolz bin.“

Ob Frau Schulz wirklich eine Ohrfeige bekommt, bleibt offen. Sicher ist nur, dieser Roman ist nicht für feige deutsche Ohren geschrieben. Er verrät, dass es ohne Lügen und Betrügen, ohne das riesige Netzwerk versteckter Helfer kein Durchkommen, kein Überleben, kein Bleiben gibt. Zu den Risiken und Nebenwirkungen der Literatur gehört das Aufdecken von Verlogenheiten. Abbas Khider deckt hier, mit rücksichtslosem Witz, die große Verlogenheit auf, dass die Bundesrepubik seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland ist, aber kein Einwanderungsland sein will. Seit Helmut Kohl verfügt hat, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, obwohl sie längst eines war, seit die CSU Frau Merkel gezwungen hat, das von ihr zuerst begrüßte, allgemein als vernünftig erachtete Einwanderungsgesetz von 2002 im Bundesrat ablehnen zu lassen, ist diese Verlogenheit gigantisch gewachsen.

Deutschland braucht Einwanderer, bietet aber nur das Nadelöhr politischen Asyls. Statt eines Einwanderungsgesetzes mit einladenden, begrenzenden und oberbegrenzenden Regeln wird nun jeder Zufluchtsuchende grundsätzlich unter Verdacht gestellt, oft zum Lügen genötigt oder gezwungen, seine Leidensgeschichten so zu erzählen, dass sie zu den Paragrafen passen. Khider erzählt, wie Schlawiner sich das zunutze machen und wie ehrliche Leute daran scheitern. Wie viel Glück oder Pech da mitspielen, meistens Pech. Wie kompliziert es ist, seine jugendliche Energie und Intelligenz produktiv in dieses Land einzubringen. Wie entmutigend, dass bester Wille, Ehrlichkeit, Arbeitslust, Lernlust, ja, auch Deutschlernlust und Hunger auf Demokratie nicht helfen. Wie schmerzhaft es ist, stattdessen ein, zwei oder mehr Jahre in einem Milieu des Verdachts und der Angst zu leben.

Nur Autoren und Leser profitieren davon: je mehr Verlogenheit, desto mehr Stoff für Schelmenromane. So sehr ich solche Bücher liebe, das sollte kein Grund sein, die Einbürgerungsgesetzverweigerungspolitik endlos zu verlängern.

Aber Khider ist nicht nur, weil er uns mit deutscher Verlogenheit konfrontiert, ein preiswürdiger Autor. Jeder seiner poetisch grundierten Romane ist klug geformt. Er bringt uns zum Lächeln, spielt mit Klischees, lässt uns staunen über die Wunder im Elend, etwa in „Der falsche Inder“. In dem raffinierten „Brief in die Auberginenrepublik“ wird ein Liebesbrief auf klandestinen Wegen von Bengasi nach Bagdad spediert, und die Briefträger erzählen mit. „Die Orangen des Präsidenten“ über die Saddam-Kerker wiederum gehören, so schlimm das ist, neben die klassischen Leidensberichte aus dem Gulag und den Nazi-Zuchthäusern. Khiders Helden sehen unser Land, das viel für Flüchtlinge tut, oft als ein „unter Paragrafen und Ängsten begrabenes Deutschland“, als ein schwer erträgliches Warteland. Solche Vorwürfe kommen lakonisch, oft heiter daher, ohne Selbstmitleid, mit Empathie nach Empathie suchend. Karim weiß sehr gut, dass es neben einer Frau Schulz auch noch eine Frau Richter gibt. „Frau Richter hingegen lächelt jeden von uns an, wenn sie mit uns spricht, und sie hat etwas, was Sie und Ihre ganzen männlichen Kollegen nicht haben: Verständnis.“

Wer hinhört, moralisiert weniger, schwafelt weniger von Identität

Literatur lehrt Verständnis, gerade in Zeiten neuer Völkerwanderungen. Wer hinhört, moralisiert weniger, schwafelt weniger von Identität, denkt öfter auch an die deutschen, europäischen Migrationen, nicht nur 1945. Man muss die sogenannten Wurzeln nicht gleich bei den Schimpansen und beim Homo erectus in Kenia festmachen. Aber man sollte schon im Kopf haben, dass die Bayern vermutlich aus dem Osten, vielleicht aus Sibirien, die Franken aus der Türkei gekommen sind. Identität, hat Philip Roth eine seiner Romanfiguren sagen lassen, Identität fängt da an, wo man zu fragen aufhört.

Am Ende von Khiders „Ohrfeige“ sagt Karim, der im Irak nicht bleiben kann, in Deutschland nicht bleiben darf und nun auf Finnland hofft: „Ach, wissen Sie was? Ich will einfach nur nach Hause.“ Ich weiß nicht, ob sich der Autor dieses Satzes inzwischen halbwegs in Deutschland zu Hause fühlt. Ich weiß aber, dass er im grenzlosen Land der Dichter und Denker bereits zu Hause ist.

(Süddeutsche Zeitung, 10.03.2017)

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