Friedrich Christian Delius, FCD

Reinhard Jirgl

Selten waren die Zeiten so günstig

Laudatio auf Reinhard Jirgl und Andreas Neumeister
(Alfred-Döblin-Preis, Mai 1993)

Selten, behaupte ich, waren die Zeiten für Schriftsteller so günstig wie heute: nicht in jedem Jahrhundert war es den aufmerksameren Leuten vergönnt, ein Gesellschaftssystem ohne Krieg zusammensinken zu sehen und seine Vereinigung mit einer stärkeren, anders verfaßten Gesellschaft zu beobachten, also, um von Menschen zu reden, millionenfache Brüche der Lebensläufe und Lebensrhythmen, der Gewohnheiten und Orientierungen wahrzunehmen und des näheren zu beschreiben.
Selten war die Intelligenz so gefordert wie in dieser immer weniger friedlich sich verändernden Gesellschaft, bislang ungewohnte Kontraste zwischen Befreiung und Verelendung zu erfassen. Wieviel Komik liegt in der Hilflosigkeit, entstanden, weil keine politische Kraft sich mehr auf die jeweils gegenteilige herausreden kann! Oder liefert die Ironie der Geschichte, das allmähliche Versagen westlicher Ordnungsmechanismen, die der neuen Lage nicht angepaßt wurden, eher viele kleine Tragödien zwischen politischem Betrug und Selbstbetrug der Individuen? Überall sind Nuancen zwischen eingebildeter und wirklicher Aussichtslosigkeit zu erspüren, überall, ich spreche von der Literatur, wäre neues, unerhörtes Material, das buchstäblich auf der Straße liegt, zu sehen, aufzuheben und zu bearbeiten.
Kurz, so viel Spannung war nie, und die Schriftsteller sind gut dran, die ihre eigenen Spannungen auf die allgemeinen Zerreißproben zu projizieren verstehen. Leider gibt es noch nicht sehr viele Autorinnen und Autoren, die sich diesen Reibungen, den seit drei, vier Jahren veränderten Wirklichkeiten stellen ohne sie zu bejammern, ohne sie zu beschönigen.
Deshalb war die Jury des Alfred-Döblin-Preises glücklich, gleich zwei von ihnen zu entdecken, Reinhard Jirgl und Andreas Neumeister. Der Preis, um dies Mißverständnis gleich beiseite zu räumen, wird natürlich nicht für gelungene Hausaufgaben über ein gerade aktuelles Thema verliehen, diesmal der deutschen Vereinigung und der europäischen Öffnungen, sondern, wie es sich gehört, für gewagte literarische Unternehmungen, für einen eigenwilligen Sprachblick, für ein neues Spiel mit diesen oder jenen Wirklichkeiten. Hier haben der Preisträger und der Förderpreisträger Überraschendes, Überzeugendes vorgelegt. Beide zeigen, daß das Jahr 1989 auch ästhetisch Folgen hat, haben muß. Und doch haben ihre Texte nichts zu tun mit einer eher betulichen Vereinigungsprosa, die, wie ich nach Kenntnis der etwa 180 eingesandten Manuskripte vorhersagen darf, in den nächsten zwei, drei Jahren Konjunktur haben wird. Jirgl und Neumeister setzen Maßstäbe, jeder auf seine Weise. Das läßt sich jetzt schon sagen, obwohl beide Manuskripte noch in Arbeit sind – auch daran muß erinnert werden: dieser Preis wird nicht für abgeschlossene Manuskripte, schon gar nicht für fertige Bücher vergeben. Es ist die Absicht des Stifters, Günter Grass, die Geduld beim Schreiben zu belohnen und die letzten, erschöpfenden Etappen eines langes Arbeitsprozesses überbrücken zu helfen. Was also haben wir in absehbarer Zeit zu erwarten?
„Gemonien / Abschied von den Feinden“, so lautet inzwischen das Projekt von Reinhard Jirgl, solch ein Titel muß erklärt werden. „Gemoniae“, lateinisch, bedeutet „Seufzerstufen“. So wurden im antiken Rom die Treppenstufen vom Kapitol zum Forum bezeichnet, wo die Leichen der Hingerichteten, nachdem sie mit Haken durch die Gassen geschleift worden waren, zur Schau gestellt wurden, um dann in den Tiber geworfen zu werden. Seither gilt „Gemoniae“ als Synonym für „verrufene Gegend“.
Die verrufene Gegend ist Deutschland, ist Berlin und eine Kleinstadt im Norden Mecklenburgs. Die verrufene Gegend ist freilich nicht nur geographisch zu verstehen. „Die deutsche Teilung durch eine bewaffnete Grenze“, sagt der Autor in einem Expose, „sowie deren Verschwinden infolge einer Implosion von petrifizierter Macht bildet eines vielen Bestandteile dieser „Stufen‘, auf denen der Text aus dem Dunkel aller seiner Möglichkeiten zum Sprechen heraufsteigt…“
Das Buch beginnt folgerichtig mit einem Sturz: an der Steilküste, wir dürfen an die Ostsee denken, tritt einer, Absperrungen ignorierend, aus Neugier, Wagemut oder im Suff, bis an den Rand und rutscht, weil ihn Gedanken an den möglichen Absturz ablenken, mit der regenweichen, überhängenden Erdscholle in die Tiefe, begleitet von Assoziationen wie: „Wieviel Komik hat ein Tod?“, und liegt da, schwer verletzt.
Er ist einer von zwei ungleichen Brüdern, die sich um eine Frau bemüht haben, die beide seit der Kindheit kennen. Die Frau wurde im Sommer 1989 unter ungeklärten Umständen getötet. Der eine Bruder, aus der DDR in den Westen gegangen, besucht nach der Wende sein verhaßtes Heimatländchen, um etwas über den Tod dieser Frau zu erfahren. Der andere, in der DDR geblieben, stellt ebenfalls Nachforschungen an und verfolgt dabei die Wege und Gedanken des Bruders, der das gleiche mit dem andern versucht.
Also eine Parabel auf die beiden, uneins einig werdenden Deutschländer? Nein, keineswegs, falls ich hier richtig deute. Ebenso wenig ist das Buch ein Krimi – wer der Täter ist, interessiert nicht, sondern: „Wer weiß wieviel von diesem Geschehen? Wie ist wessen Wissen beschaffen, damit es vom Tod erzählen kann?“ (Jirgl)
Damit sind wir schon bei der Erzählmethode: Beide Figuren tun etwas ähnliches unabhängig voneinander, mitunter auch gegeneinander. Jeder spricht mit seiner Sprache und seinen Bildern (also mit seinem Wissen) über den jeweils anderen, um von sich selber sprechen zu können. „Das Auge wird zu den Stätten seiner Betrügereien zurückkehren.“, diesen Satz von Beckett hat Jirgl als Motto gewählt. Einer gegen den andern, jeder macht sein Spiel mit dem andern. Wahrheit, falls sie denn interessiert, gibt es nur als Streit um Wahrheit. Jirgl erzählt nicht gradlinig, linear, sondern zeitversetzt, achronisch – „eine Literatur der überrealen, albtraumhaften, quälenden Bilder“ (Erk Grimm).
Beide Brüder schleppen ihre Albträume mit sich herum: die Mutter, verlassene Frau eines SS-Mannes, vor den Augen der Kinder verhaftet und in die Psychiatrie eingewiesen, danach der Albtraum Kinderheim und die Adoption durch Flüchtlinge, sudentendeutsch, katholisch, in der Kleinstadt. Die Brüder haben einen ähnlichen Haß auf das DDR-System entwickelt, mit unterschiedlichen Konsequenzen. Beide haben in ihrer Jugend ein Buch über die spanischen Conquistadoren gelesen, eine Lektüre, die bis in die Gegenwart nachwirkt und den Konflikt zwischen den Brüdern ebenso verschärft wie den Blick auf den Fremden, den Andern (Ossi/Wessi, Deutsche/Ausländer).
All das rumort im Gedankenstrom der Figuren – darum ist jede Szene, jede Seite von Jirgls Text voll exzessiver Spannung. Treffsicher im Beschreiben, glücklich beim Finden neuer Bilder, präzis provokant in den Reflexionen der Figuren, all diese Eigenschaften hochentwickelter Prosa finden sich hier. Aber Jirgls besondere Qualität scheint mir in der Schichtung, der Mehrbelichtung, der „Wortdichte“ seiner Bilder und Szenen zu liegen. Beinah mit jeder Silbe versucht der Autor die Grenze des Inhaltlichen zu erreichen, ja mit starken Eingriffen in die Typographie und Orthographie, mit der physischen, erotischen Komponente der Schrift vor flüchtigem Lesen, vor Passivität im Bilderrausch zu bewahren. „Ich suchte nicht mehr die glatte, die geschlossene Decke einer Rede; ich suchte das Stottern, das Stocken in der Rede, den 1zelnen Laut, die 1zelheit aus Bildern“, heißt ein Satz einer Figur, den man ausnahmsweise dem Autor zuschreiben darf. Auch wenn die Sprache vielleicht manchmal etwas überinstrumentiert erscheint – für Leser, die nicht auf Fastfood geeicht sind, ist sie von hohem Genuß. Da wird nichts geglättet, sondern das Rohe mit einer versessenen Genauigkeit, mit sezierender Kälte präpariert.
In der Kürze der Lobrede läßt sich leider nicht vorführen, wie Jirgl das macht, in einer schlichten Szene beispielsweise, in der einer durch Berliner Straßen geht, nach der Wende, und in den Erdgeschoß-Wohnungen die Leute mustert, hinter ihnen die Fernsehbilder ohne Ton, davor „die Fassaden okkupiert von Ranken & Fähnchen & den Schriftzügen einer frisch aufgerissenen Grellheit“, „als hätten diese Händler all die Jahre = Jahrzehnte auf diesen 1 Tag, auf diese 1 Stunde gewartet, an deren Kommen sie oder ihre Kinder und Kindeskinder mit absoluter & unerschütterlicher Überzeugung geglaubt hatten wie Religiöse an die Wiederkunft ihres Messias.“
Jirgl interessieren Zerstörungen, Angst, Haß, Grauen, aggressive Lust, Gewaltphantasien, Tötungen, „das Leben in der Tiefe, das von der Mehrheit gelebt wird, von den gebornen oder selbsternannten Eliten verdrängt.“ (Heiner Müller) – und demonstriert dabei, warum gerade der sogenannte Sozialismus so viel Brutalität produziert hat, warum er so viele Menschen, vor allem das Proletariat, um mit Ilya Kabakov zu sprechen, „auf ein sehr niedriges psychisches Niveau, in einen nahezu tierischen Zustand“ gebracht hat oder in „Verdummung und Verlumpung“, um Joseph Brodsky zu zitieren. In Jirgls vorigem Buch findet sich dazu der Satz eines Hausmeisters: „Was willstuh“ Hier ist Ost-Zone: lanksame Verwandlung von Menschen in Arschlöcher.“
Als könnte, wer auf literarische Ahnenforschung aus ist, Jirgl als einen Enkel Döblins ansehen, mit einigem Recht (man vergleiche die Sujets Stadt, Milieu, Kriminalität – oder die Realitätsbesessenheit, den Genauigkeitsfanatismus, die Suche nach der „größtmöglichen Nähe zwischen dem Ich des Textes und seiner Zeit, in der es sich präsentiert“. Sie dürfen raten, meine Damen und Herren, Döblin oder Jirgl?). Bei den Unterschieden scheint mir der wichtigste zu sein: Jirgl verzichtet auf moralische Kommentare zur Gewalt. Dazu der Literaturwissenschaftler Erk Grimm: „In Reinhard Jirgls Texten entdeckt das erzählende Ich in sich selbst die ständigen Umpolungen der Täter/Opfer Relation in quälend lustvoller Länge. Der Text funktioniert nicht nach dem Prinzip der Ausgewogenheit einer „Anstalt des öffentlichen Rechts“, das Medium Schrift verlangsamt stattdessen die brutalen, hetzenden Bildreize der in video-clips zerfallenden Metropole.“

Niemand in der Jury, das muß ich zugeben, hat vor der Lektüre dieses Manuskripts etwa von Reinhard Jirgl gekannt. Seine drei Bücher, 1990, 1991 und 1992 erschienen, sind leider nicht nur uns nicht aufgefallen. „Jirgl ist lange genug entmutigt worden, und es hat nichts genützt, außer ihm und seinen Texten, schrieb Heiner Müller im September 89. Der Autor, der mit seinem ersten Romanmanuskript, „Mutter Vater Roman“, seit 1983 vom Aufbau Verlag und von den einschlägig vorstrafenden Ämtern hingehalten wurde, hat Anfang der achtziger Jahre den weisen Entschluß gefaßt, sich nicht abhängig zu machen vom Buckeln und Schaukeln, vom Hoffen und Betrogenwerden im DDR-Literaturbetrieb. Der Elektronik-Ingenieur wurde Beleuchter am Theater, sitzt auch heute Abend für Abend am Lichtstellwerk in der Volksbühne. Seine Gegenwelt hat er weder bei den Heiner-Müller-Adepten noch bei den Prenzlauer Bergbewohnern noch in der Christa-Wolf-Gemeinde gesucht, obwohl er alle diese Gruppen gestreift hat. Erst, als die DDR die Steilküste hinabstürzte, konnte Jirgl als Autor auftauchen. Mit sieben Jahren Verspätung erschien der erste Roman bei Aufbau in der von Gerhard Wolf herausgegebenen Reihe „Ausser der Reihe“. Gegenstand: Menschen in der Rohheit des zweiten Weltkriegs, die Folie der DDR in ihrer mittleren Phase liegt darüber, geschrieben von einem Autor, der dazu sagt: „Ich hätte ebenso über Troja schreiben können.“
Im Herbst 1990 folgte der Kurzroman „Überich. Protokollkomödie in den Tod“ im Roland Jassmann-Verlag, Frankfurt, und 1991 bei Luchterhand der Roman, an dem Jirgl fast zehn Jahre, 1979 bis 1988, gearbeitet hat, „Im offenen Meer“. Eine Verdichtung der Stadt in viele Ichs, vernichtete Menschen in einem ruinierten Stadtraum: „BerlinOst als visionärer Raum, eine Insel, in der das Barbarisch-Kannibalische und das Zivilisierte aufeinandertreffen“ (Grimm).
Spätestens mit „Gemonien / Abschied von den Feinden“ wird man Reinhard Jirgl neben die Autoren stellen, für die bereits das Etikett bereitliegt: Ostmoderne, Wolfgang Hilbig und Gert Neumann. Von diesen und einigen jüngeren Autorinnen und Autoren aus dem Land, das wir heute ehemalig nennen, wird in Zukunft wahrscheinlich mehr zu erwarten sein als von den Namen, an die sich die oberflächlichen Feuilletonleser gewöhnt haben. Ich wage hier die These: nur wer den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDR nicht mit Hoffnung verwischt hat („Hoffnung macht Idioten, verlängert Verbrechen“, Jirgl), sondern kompromißlos weiter aufgerissen hat und an diesen Widersprüchen die Schärfe des Sprachblicks trainiert hat, wird auch der neuen, noch komplizierteren Wirklichkeit der Vereinigungszeit gewachsen sein und die neuen Risse und Annäherungen sprachlich erfassen können.

An zweiter Stelle steht heute Andreas Neumeister mit seinem Text „Ausdeutschen“. Wieder so ein Wort im Titel, das erklärt werden will. Der Erzähler schreibt es seinem Großvater zu, „Der immer ausdeutschen sagte, das werde ich euch schon ausdeutschen. Der damit meinte, etwas deutlich und mit Nachdruck sagen. Das werde ich euch schon ausdeutschen, sagte er als Vertreter seiner Generation zu den Vertretern der nächsten.“
Ich will Neumeister nicht zum Vertreter seiner Generation stilisieren, und was er deutlich und mit Nachdruck zu sagen hat, sagt er zunächst einmal sich selber: auch für mich, so deutscht er sich aus, hat sich die Welt im Jahr 1989 radikal verändert, aber was hat sich eigentlich verändert? Er scheut jedenfalls die neue Wirklichkeit nicht, er kann sich als westlicher Beobachter sogar mit großer Lust und einer (gespielten) bayrischen Naivität auf sie einlassen. „Erzählt wird das Jahr Eins nach der Wiedervereinigung aus der Sicht des Fotografen Erich Nachleger, der in Berlin arbeitet, das heißt fotografiert, das heißt nach Motiven sucht, die Auskunft geben über den Zustand der aufgescheuchten Stadt, des aufgescheuchten Deutschland, des aufgescheuchten Europa.“
Nach dem Kosmos Starnberg („Äpfel vom Baum im Kies“, 1988) und dem Kosmos München („Salz im Blut“, 1990) hat Neumeister nun den neuen Kontinent Europa entdeckt. Sein Erzähler muß dieses Europa erst einmal vermessen, auf dem Atlas oder auf Reisen die neuen Verbindungen, die neue Nähe erkunden, wie bei Schulaufgaben Entfernungen schätzen und neugierige oder abschätzige Blicke auf die aufgetauchten Städte, Landschaften, Sehenswürdigkeiten werfen. Er schämt sich seiner Unkenntnis nicht – und ist darum kein Zyniker. „Offen gebe ich zu, Leipzig jahrelang mit b geschrieben zu haben. Leipzig wird schon von Leib kommen, so lag es mir auf den Lippen.“ Er fährt durch die DDR am vorletzten DDR-Tag, von der logistischen Leistung der Mobilklos, Gebrauchtwagen, bayrischen Bierzelten und bis zu den Panzern, die Eisenbahnen fahren, entgeht ihm fast nichts. Er beschreibt den „2. Oktober als letzten Tag von Westberlin“, die Medienselbstgefälligkeit vor den Kulissen, und fügt wie beiläufig Sätze an: „Alles, was heute geschieht, geschieht unter Zeitdruck. Alles, was heute geschieht, erhebt Anspruch auf Bedeutung.“
Neumeisters Trick dagegen ist es, keinen Anspruch auf Bedeutung zu erheben, im Gegenteil, das Bedeutende als Banales vorzuführen, mit Sprüchen, Kalauern, Zitaten, Klischees, Antithesen und gegensätzlichen Beobachtungen zu relativieren – und alles mit allem zu vergleichen. „Ich liebe Vergleiche, darum zieht es mich immer wieder an Stellen, die ich untereinander vergleichen kann. Ich war ein Komparatist, ich bin ein Komparatist und ich werde immer ein Komparatist bleiben. Gries mit Waschpulver vergleichen und schließlich Reis kaufen.“ Wo er beobachtet und vergleicht, beispielsweise die bayrischen Seen mit denen um Potsdam, setzt er gern zu kurzen reflektierenden Volten an: „Ohne den Tag von Potsdam hätte es Potsdam nie gegeben. Ohne München wäre es zu Jalta nie gekommen. Ohne Potsdam wäre es zu Westberlin nie gekommen. Die Geschichte kennt keinen Konjunktiv, mag sein, aber der Konjunktiv kennt viele Geschichten.“
Ich könnte fortfahren: ohne Valentin und Achternbusch wäre es zu Neumeister nie gekommen. Aber ich will es mit Neumeister auf seinem Feld nicht aufnehmen. Seine Methode ist als Spontaneitätsprosa und Minimalismus der Ereignisse beschrieben worden, damit unterschätzt man die Tücke der scheinbaren Oberflächlichkeit. „Handlung gibt es nur im Kino“, sagt Döblin so ähnlich, und Neumeisters Erich, hier ganz auf Döblin-Linie, ergänzt: „Handlung gibt es nur im Kino, draußen gibt es nichts als einzelne Fotos.“ Die besondere Qualität des Textes „Ausdeutschen“ liegt darin, gerade keinen Zusammenhang herzustellen, sondern die einzelnen Fotos sprechen, die Bilder miteinander spielen zu lassen, So wird vorgeführt, wie vertraute Weltbilder ins Wanken geraten – und diesmal die westlichen Weltbilder, der irritierte westliche Konsumentenblick. Neumeisters Erzähler erinnert immer wieder daran, daß unser Blick von Medienbildern vermittelt ist, die den eigenen, selbstgeschaffenen Bildern vorausgehen. Die Opposition liegt im Beruf: der Erzähler ist Fotograf: einer, der versucht, eigene Bilder zu machen.
„Was er auf einem eigenen Foto fixiert hat, sagt sich Erich, das kann er sich besser als alles andere merken, das kann ihm niemand mehr nehmen, das kann er anordnen, wie es seinen Vorstellungen entspricht. Erst wenn alle Wände seines Zimmers mit eigenen Fotos vollgehängt sind, will er Berlin wieder verlassen. Ein Jahr ist für diese Arbeit veranschlagt, 15 Monate wird Erich brauchen.“
Obwohl Neumeister nicht mehr unbekannt ist und am dritten Buch arbeitet, hat die Jury ihm den Förderpreis zugesprochen – jedoch nicht allein für die anregende, frische Prosa und den in deutschen Landen seltenen leichten Ton. Neumeister hat verstanden, wie ich anfangs sagte, daß das Jahr 1989 auch die Ästhetik verändern mußte, und er hat eine überzeugende Probe für diese Veränderung geliefert. Auch das, so dachten wir, sollte mit dem Preis unterstrichen werden.

Selten, habe ich anfangs behauptet und die Behauptung mit der Materiallage begründet, waren für Schriftsteller die Zeiten so günstig. Ich kenne natürlich alle Einwände, die bekannten Stichworte: Kommerzialisierung, Kulturabbau, Vertreibung der Produzenten als Folge allesfressender Personaletats, und so weiter.
Doch ich meine, die kleinen Schritte des Abbaus von Kultur, die Verdrängung des differenzierenden Worts und die multimediale Wirkungslosigkeit des Arguments, auch des ästhetischen Arguments, schützen vor Euphorie. Die Fixierung auf den Erfolg der Saison, die sich mehr und mehr auf etwa zwei Monate verkürzt, belohnt letztlich doch die mit einigem Beharrungsvermögen ausgestatteten Autorinnen und Autoren. Es lohnt nicht, um schnellen Erfolg zu wetteifern: wer in einer Saison oben ist, kriegt in der nächsten eins auf den Deckel. Die allgemeine Sucht, oben zu schwimmen, die Anbetung der Oberfläche vergrößert den Raum der Literatur, „die Chance für den kalten, klaren Blick, der den allgemeinen Zerreißprozeß konstatieren kann“, wie Jirgl schreibt. Auch die „Bigotterie“ (G. Heidenreich) der führenden Feuilletonisten, die heute jeden politischen Gedanken in Werk und Tat verdammen, morgen mit der gleichen Empörung eine zur tagesaktuellen Lage paßgenaue Erklärung einklagen und, wenn ihnen das Futter ausgeht, den Schreibenden Schweigen vorwerfen, diese Bigotterie könnten Autorinnen und Autoren als Einladung betrachten, eigensinnig weiter an ihren Gedanken und Fiktionen zu arbeiten, die bei den nachdenklichen Menschen die Gedanken und Fiktionen von morgen sein werden. Mißverstanden wird man sowieso, meistens sogar mit Absicht.
All das meine ich, wenn ich sage: die Zeiten sind besser als wir denken. Der Etat der Illusionen schrumpft. Beide Preisträger arbeiten auf sehr unterschiedliche Weise daran mit. Ich danke ihnen. Ich danke Ihnen.

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