Friedrich Christian Delius, FCD

Peter Huchel

Die zweite Ernte

Über Peter Huchels „Caputher Heuweg“

Als Peter Huchel „Chausseen Chausseen“ 1963 erschienen, habe ich „Caputher Heuweg“ zum ersten Mal gelesen. Zugegeben, den zwanzigjährigen Berliner Studenten hat dieser Blick auf die Kindheit, auf eine fremde und doch nur wenige Kilometer entfernte Landschaft nicht sehr gefesselt. Aufregender war, daß die Gedichte des zuvor bei „Sinn und Form“ entlassenen und schikanierten Huchel überhaupt herauskamen – im Westen. Noch entscheidender war für mich die Entdeckung eines neuen Tons.

Während die westdeutschen Lyriker damals sich eher spielerisch-rhetorisch an der Gesellschaft rieben, hatte Huchel den Widerstand, der noch in seinen schönsten Gedichten lag, selbst auszuhalten. Gefangen bist du, Traum./ Dein Knöchel brennt,/ zerschlagen im Tellereisen. Da bettelte keine Zeile um Mitleid, da gab es keinen Funken Koketterie. Aus der Synthese von „Natur-“ und „politischem“ Gedicht, aus der Absage an jede Hoffnung auf das DDR-System wuchs Huchel eine Souveränität zu, die ihn überlegen, beinah unnahbar machte. Damit verbot er auch, wofür ich ihm unbewußt dankbar war, jede epigonale Annäherung. Seine großen politischen Gedichte beschäftigten mich seinerzeit mehr als etwa „Caputher Heuweg“: auf den ersten Blick fast konventionell, viel Natur, Rückschau auf die Kindheit, ein beinah archaischer Ton. Die Irritationen, die das Gedicht auszulösen vermag, sind mir damals entgangen.

Wo bin ich? Die Eingangsfrage, fast frech in ihrer Banalität, oder wie nach dem Aufwachen gestellt, wird das Gedicht nicht beantworten, obwohl der Ort benannt ist. Caputh liegt südlich von Potsdam, neben Wilhelmshorst, wo Huchel lebte, und nahe Langerwisch, wo er die Kindheit verbrachte. Man muß das nicht wissen, denn auch das Gedicht teilt mit, daß der Autor genau weiß, wo er ist. Er ist sich sogar seiner Erinnerung gewiß: die Stute auf der Wiese, die Mäher, ein Mann, Holz hackend. Ein einziges Bild, Stille, die nur von dem unruhigen Pferd, der Elster und den Axtschlägen unterbrochen ist, ein Moment am Mittag im späteren Sommer genügt, um die einfache Frage zu evozieren: Wo? und Wann?

Das Bild hat nichts Idyllische, Trostreiches. Es ist von der Arbeit des ländlichen Lebens markiert (verstärkt durch die Betonung der landwirtschaftlichen „Fremdwörter“ wie Kummet, Grummet, Stubben, Kien). Es wirkt durch seine raffinierte Reimführung. Zu wissen, wo man ist, und doch über den Abgrund der Jahre hinweg die Frage zuzulassen: Wo bin ich?, damit wird die räumliche Dimension zur zeitlichen.

Wann war dieser Sommer? Ich weiß es nicht mehr. Die Erinnerung, ausgelöst durch die Ernte des zweiten Heus (Grummet) viele Jahre später, findet zu dem Erinnernden zurück: das Kind am Weg im hohen Gras, in Erwartung des Unbekannten, der Gefahr, des Abenteuers: Das Schicksal … Den alten Zigeuner. Daß der Krieg Schicksal spielte, muß nicht gesagt werden. Der Erwachsene hat überlebt und darf zurückdenken. In dieser atemberaubenden, einfachen, unausgesprochenen Entdeckung, am Leben zu sein, liegt der Höhepunkt des Gedichts, unterstrichen von den beiden überraschenden Paarreimen (mehr/her, saß/Gras).

Die Fragen müssen also nicht beantwortet werden. Das Wo ist eine Frage der Zeit, das Wann eine des Raums. Ich bin gegangen, ich bin wieder da, die Suche nach einem festen Ort, nach einem Koordinatensystem wird nie aufhören. Was Heimat genannt wird, ist der Ort größter Beunruhigung. Auch hier ist nichts gewiß. Heute, nach dem Verschwinden der Mauer, erhalten Gedichte wie „Caputher Heuweg“ eine neue Lesart: Sie sind trigonometrische Punkte in einer Landschaft, die sicher wieder verändert, stärker denn je.

(Aus: Frankfurter Anthologie 17: Hg. Marcel Reich-Ranicki. Insel Verlag, Frankfurt 1994)

Impressum