Herta Müller
Jeden Monat einen neuen Besen
Über Herta Müller: „Niederungen“
Man stelle sich vor: Die Deutschen sind geschrumpft auf rund 300 000 Menschen, sie sind Bauern, Handwerker, Kleinhändler, sie leben nicht im Wohlstand, aber sie kommen leidlich durch den Winter, sie haben keine expansiven Absichten, sie sind eine Minderheit unter dem Protektorat eines repressiven Staates, der ihnen beschränkte Freiheitsräume läßt (Sprache, Presse, Theater), aber sie möglichst isoliert.
Diese Vorstellung ist keineswegs absurd. Solche Experimente laufen, zum Teil seit langem unter wechselnden politischen Vorzeichen, in verschiedenen Winkeln der Welt. Die Deutschen als Minderheit, sie gab es als Wolgadeutsche, sie gibt es als Südamerikadeutsche (über die seit kurzem ein informatives Sachbuch vorliegt, „Krauts‘ erobern die Welt“ von Gaby Weber), und es gibt, unseren Grenzen näher, Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben im heutigen Rumänien.
Wir haben uns daran gewöhnt, diese Minderheiten auf dem Balkan den Funktionären der Heimatvertriebenen und der rechten Presse zu überlassen. Wer denkt sich schon etwas dabei, wenn rumänische und bundesdeutsche Politiker über Ausreisekontingente feilschen wie um Importquoten für Salami und Rohmöbel? Wie diese Auslandsdeutschen leben und weshalb etliche in unser enges Land drängen, ist nicht leicht herauszufinden. Armut und Unterdrückung dort, Wohlstand und Freiheit hier, ganz so simpel wie die Propaganda können die Motive nicht sein.
Auch der Reisende erfährt wenig, der, eingeladen vom Goethe-Institut, durch Siebenbürgen und das Banat fährt. In den Städten darf gelesen und diskutiert werden. Die Straßendörfer aber liegen stumm in weitläufigen, dünn besiedelten Landschaften und wecken, da die Fernsehantennen leicht wegzudenken sind und die Autos üblicherweise in der Schlange vor der Tankstelle des nächsten Marktfleckens parken, Erinnerungen an die Vergangenheit, vor den großen Kriegen und vor der Grundstücksspekulation. Das versunken Deutsche rührt an, und der Reisende überlegt, was in den Häusern, in den Köpfen der Bewohner dieser zeitlosen Dörfer vorgehen mag.
Man muß sich, wie immer, wenn die Wahrheit gefragt ist, an die Schriftsteller halten. Die bekannteren rumäniendeutschen Autoren der mittleren Generation jedoch leben seit etlichen Jahren im Westen. Oskar Pastior aus Hermannstadt oder Sibiu hat sich zum Paganini der deutschen Sprache erst in Berlin entwickelt. Paul Schusters großer Roman „5 Liter Zuika“ ist bei uns ebenso unverdient unbeachtet geblieben wie Dieter Schlesak mit seinen Gedichten und Essays.
Und den in Rumänien lebenden, jüngeren Autoren wie Richard Wagner, Johann Lippet, Rolf Bossert, Franz Hodjak, Horst Samson ergeht es noch übler. Sie werden von unseren Verlagen bislang völlig ignoriert.
Nun aber betritt eine deutschsprachige Autorin, 1953 in Nitzkydorf bei Temeswar geboren, die Szene. Diese Autorin wird, trotz ihres unauffälligen Namens, trotz ihres bescheidenen Buchtitels, trotz ihrer unmodischen Schreibweise nicht übersehen werden können: Herta Müller.
Ihr vor zwei Jahren bei Kriterion in Bukarest erschienener Prosaband „Niederungen“, der nun, verbessert und erweitert von Rotbuch vorgelegt wird, ist eine doppelte Entdeckung. Ein mitreißendes literarisches Meisterstück, das zugleich einen weißgrauen Fleck auf der Landkarte erschließt. Herta Müller zieht den Schleier von einer deutschen Enklave, und sie braucht dabei weder auf die Geschichte (von Karl VI. und Maria Theresia bis zur Waffen-SS und den Deportationen) einzugehen noch auf die gegenwärtige Politik Ceauºescus, unter der auch sie schikaniert wird. Mit ihrer Beobachtungsfähigkeit und ihrer Sprache setzt sie eigene Maßstäbe.
Herta Müller beschreibt – in der 80seitigen Titelerzählung und in den meisten der 15 Kurztexte – vordergründig nicht mehr als ein Dorf. Ein Dorf, das für alle „schwäbischen“ Dörfer im Banat steht, und das vermutlich auch den „sächsischen“ Dörfern in Siebenbürgen ähnlich ist. Das Dorf wird aus dem Blickwinkel eines Kindes gesehen. Ohne erklärte Absicht der Aufarbeitung und ohne die uns vertraute Betroffenheits-Weinerlichkeit steigt Herta Müller in die kindliche Wahrnehmung zurück.
Sie fängt die Blicke auf, die Gesten, die Bewegungen, die Ängste und Phantasien der Kinder und konfrontiert sie mit dem Verhalten der Erwachsenen. Herta Müller schreibt, als erwache sie – in einem Reich der Grausamkeit. Denn das deutsche Dorf, es ist, mit einem Wort, die Hölle auf Erden.
Die Höllenbewohner sind in Haß aufeinander eingeschworen, und auch die Eltern machen da keine Ausnahme. Gegen Anfang der „Niederungen“ überläßt die Autorin der Mutter ein paar Sätze über den Tag ihrer Hochzeit:
„Dein Vater hat mich auch beim Kirschenpflücken im großen menschenleeren Weingarten nicht angerührt. Er stand wie ein Pfahl neben mir und spuckte ununterbrochen nasse glitschige Kirschkerne aus, und ich wußte damals, daß er mich im Leben oft verprügeln wird. Als wir zu Hause ankamen, hatten die Frauen im Dorf schon ganze Körbe voll Kuchen gebacken, Männer hatten schon ein junges schönes Rind geschlachtet. Die Klauen lagen auf dem Mist. Ich sah sie, als ich durchs Tor und in den Hof trat… Ich wollte damals sagen, ich will nicht heiraten, aber ich sah das geschlachtete Rind, und Großvater hätte mich umgebracht.“
Die Mutter kann aus dieser Geschichte nicht lernen, sie gibt die Prügel einfach an das Kind weiter und quält es mit ihren eigenen Schreckbildern. Der rohe Vater, häufig betrunken, singt vor dem bildlos flimmernden Fernsehschirm Landserlieder, bis alle spüren, „wir ertragen die anderen und uns selber nicht, und die anderen neben uns ertragen uns auch nicht“.
Zum Kreis der Hölle gehören die allgegenwärtigen Großeltern, gefangen in Aberglauben und den Geschichten, die mit „Früher“ beginnen. Die schrullig herrschsüchtige Großmutter treibt ihre Enkelin mit Ohrfeigen in den Mittagsschlaf. Der Großvater, die Taschen voller Nägel, hat noch am ehesten freundliche Züge. Die Nachbarn sind ebenso ruinierte Leute wie die anderen Dorfbewohner, die alten Männer und noch mehr die alten Frauen – „An den Winternachmittagen sitzen sie am Fenster und stricken sich selber mit hinein in ihre Strümpfe aus kratziger Wolle, die immer länger werden und so lang sind wie der Winter selbst, die Fersen haben und Zehen und behaart sind, als könnten sie von alleine gehen.“
Nicht weniger kratzig in dieser Gespensterwelt sind die Dorfhonoratioren, der Pfarrer, der auf naive Fragen die Hände der Kinder mit dem Lineal rot schlägt, oder der Zahnarzt, der zur Demütigung seiner Patienten ihr Gebiß aus dem Fenster wirft. Ganz am Rand treten wie von fern die Vertreter der Staates auf, ein Tierarzt zum Beispiel, der gegenüber den harten Deutschen fast etwas Freundliches hat – weil er sich leicht betrügen und bestechen läßt.
Solche Dorfgeschichten erzählt Herta Müller nicht anekdotisch und niemals auf Pointe hin, sondern alltägliche, immer wiederkehrende und bedrückende Ereignisse, die jedoch niemanden wundern und niemanden empören. Nur das Kind ist empört, aber es wird nicht gehört, und so bleibt ihm nur die Flucht in die Wiesen, an den Fluß, an den Bahndamm, in die Träume. Prügel sind in dieser archaischen Gesellschaft so selbstverständlich wie Brot. Erziehung ist Züchtigung, Zuneigung unüblich. Kinder haben beim Essen zu schweigen. Selbst Mädchen dürfen nicht weinen.
„Ich ging fertig gekämmt und angezogen in den Hinterhof und sperrte mich ins Klo ein, und zog die Hosen runter, setzte mich auf das stinkige Gehäuse und weinte laut vor mich hin. Ich weinte da, um nicht ertappt zu werden, und wenn ich draußen Schritte hörte, wurde ich plötzlich still und raschelte mit dem Klopapier, denn ich wußte, daß man in diesem Haus nicht ohne Grund weinen durfte. Mutter prügelte mich manchmal, wenn ich weinte, und sagte dabei, na, jetzt hast du auch mal endlich einen Grund.“
Wenn unter diesen verzweiflungsvollen Umständen einmal so etwas wie Zärtlichkeit aufkommt, wenn die Tochter dem ausnahmsweise gutaufgelegten Vater die Haare kämmen und den Kopf schmücken darf, dann genügt ein winziger Fehlgriff, um alles zu zerstören.
„Nur ins Gesicht greifen durfte ich Vater nicht. Wenn ich es dennoch tat, wenn es aus Versehen geschehen war, riß sich Vater die Maschen und Spangen, die Tücher und Halsketten herunter und stieß mich mit dem Ellbogen weg und schrie: Jetzt weg von da. Jedesmal fiel ich hin und begann zu weinen, und zerbiß den Kamm in meiner Verletztheit, und wußte in diesem Augenblick, daß ich keine Eltern hatte, daß diese beiden niemand für mich waren, und fragte mich, weshalb ich da in diesem Haus, in dieser Küche mit ihnen saß, ihre Töpfe, ihre Gewohnheiten kannte, weshalb ich nicht endlich von hier weglief, in ein anderes Dorf, zu Fremden und in jedem Haus nur ein einzigen Augenblick blieb, und dann weiterzog, noch bevor die Leute schlecht wurden.“
Fast noch unerträglicher als die Vernichtung jeden Gefühls von Gemeinschaft, Freundlichkeit und Nähe sind die Tage, an denen die Erwachsenen zu Metzgern werden. Wenn eine Ente, ein Schwein, ein Kalb geschlachtet wird und die harten Hände nicht weniger entschlossen zupacken als bei der Züchtigung der eignen Brut, dann empfindet das Kind mehr als Mitleid. Es fühlt sich selbst bedroht, das Opfer auf der Schlachtbank. Denn hier zeigen die Erwachsenen, mit Lust und Fertigkeit, ihre wahre Macht: Sie gebieten über Leben und Tod der Schwächeren.
Doch der Kind-Eltern-Kampf ist längst nicht alles, was man bei Herta Müller miterleben kann. Sie führt den Alltag in dieser versunkenen Dorfwelt vor, die Bräuche, den Hexenglauben, das Geschwätz, die Verrichtung im Haus, den Sauberkeitswahn, der jeden Monat einen neuen Besen verlangt. Sie gibt Einblick in die Rituale der Begräbnisse, der Kirche und der steifen Feste – und in die dazu passende Prüderie: „Und wenn sie (die Frauen) an die Schränke gehen, schauen sie hinauf zur Zimmerdecke, um sich nicht nackt zu sehen, denn in jedem Zimmer des Hauses kann irgend etwas geschehen, was man Schande oder unkeusch nennt.“
Was unterscheidet „Niederungen“ von vergleichbaren Büchern vornehmlich schweizerischer und österreichischer Autoren, die ähnlich düstere Lebensformen in entlegenen Gegenden schildern? Herta Müller beschreibt Leute aus einem Land, das sich Sozialistische Republik nennt. Der Staat, die Politik kommen bei ihr explizit nicht vor, höchstens in einem mild satirischen Text, „Dorfchronik“, in dem die wechselnden und widersprüchlichen Erklärungen für die Mißerfolge der Staatsfarm und der LPG notiert sind. Die Autorin vergißt nicht, daß die relative Armut und die ewige Schufterei ein Grund für die extreme Rückständigkeit der Dorfbewohner sind.
Dennoch attackiert sie, indem sie beharrlich Bild auf Bild, Geschichte an Geschichte setzt, ein Deutschtum, das allein auf den Sekundärtugenden Gehorsam, Ordnung, Sauberkeit, Fleiß, Frömmigkeit und der „Tracht im Gehirn“ aufgebaut ist, auf Deutschendünkel, deutscher Inzucht, deutschen Fröschen („Jeder hat bei der Einwanderung einen Frosch mitgebracht. Seitdem es sie gibt, loben sie sich, daß sie Deutsche sind, und reden über ihre Frösche nie, und glauben, daß es das, wovon sie reden man sicht weigert, auch nicht gibt“).
Herta Müller zieht keine Schlüsse, schreibt keine „Kritik“, zeigt keine Dissidenten-Allüre. Sie läßt Leserinnen und Leser selber nachdenken, zum Beispiel, warum die Kollektivierung der Landwirtschaft aus den Rumänendeutschen nicht gerade aufgeklärte Menschen gemacht, sondern ihre Engstirnigkeit offenbar noch gefördert hat.
Ein zweiter Unterschied zu den meisten Kollegen aus den Alpenländern: Herta Müller gebietet, wenn das Material es erfordert, über einen hintergründigen Witz. Ob sie ein „schwäbisches Bad“ schildert (fünf Personen nacheinander in einer Badewanne) oder den „Arbeitstag“ („es ist wieder mal Montag, und wieder mal ist eine Woche zu Ende“) oder die Leere der Stadt („Die Eulen fressen die Küsse auf, die auf den Bänken geblieben sind“, immer findet sie überraschende, frische poetische Wendungen.
Was Herta Müller aus der rumänendeutschen Literatur heraushebt und in die Reihe der besten deutschsprachigen Autorinnen versetzt, ist nicht allein ihre Fähigkeit, das grauenvolle Landleben der Banatschwaben zu erfassen. Es ist nicht allein ihre erstaunliche Sprachkraft – dichtes, jargonfreies, „reines“ Deutsch kommt uns da entgegen, das in ihrer Autorengeneration fast einmalig ist.
Entscheidend ist die poetische Qualität der Herta Müller: Sie zerlegt die kindlichen Empfindungen, trägt sie Schicht für Schicht ab, sie balanciert auf der Grenze zwischen sezierenden Beobachtungen und den Ängsten vor dem, was da zutage tritt. Wann immer die banalen Gegenstände und Geschehnisse des Alltags mit einem Lidschlag des Kindes sich verwandeln in Gespensterbilder, wird der Leser eingeholt von eigenen frühen Empfindungen. Diese Autorin versteht es, die Übergänge zwischen der präzisen Beobachtung und den fortgesetzt bedrohlichen Phantasien so unmerklich zu überschreiten, daß beim Lesen immer neue Irritationen und Bewegungen entstehen.
Dieses poetische Verfahren, Fakten und Phantasie zu brechen und zu mischen, wird in der deutschsprachigen Literatur, so weit ich sehe, nur von Wolfgang Koeppen beherrscht – man vergleiche „Jugend“ (1976). Es ist ein Verfahren, das auch an den mexikanischen Erzähler Juan Rulfo erinnert. Die Parallelen zu Rulfo sind in der Tat verblüffend – das greulich archaische Landleben, der katholisierte Aberglauben, der dumpfe Haß liefern die gleiche Grundierung. Comala, das zum Friedhof gewordene Dorf, der Schauplatz des Romans „Pedro Páramo“, und Nitzkydorf im Banat liegen nicht weit voneinander entfernt.
Dennoch, „Niederungen“ setzt keine literarische Kennerschaft voraus. Das Buch ist bestens geeignet zur Ernüchterung für alle Freunde der Neuen Dörflichkeit, für die Idealisierer des Landlebens in unseren Breiten sowie für Besucher des Dorfmuseums. Es ist ein ideales Geschenk für alle berufsmäßigen Heimatvertriebenen und ihre Großsprecher – denn von nun an wird man die Misere der Auslandsdeutschen im Osten nicht mehr allein der offensichtlich katastrophalen wirtschaftlichen Lage und der bekannten Einschränkung von Grundrechten zuschreiben können. Von nun an wird, wer kein Lügner sein will, auch von dem erheblichen Anteil der Deutschen an ihrer eigenen Unterdrückung sprechen müssen.
Die Misere mündet in den Untergang, Herta Müller registriert auch das. In der (fast lateinamerikanischen) Geschichte „Der deutsche Scheitel und der deutsche Schnurrbart“ kehrt ein junger Mann in sein Heimatdorf zurück und will seine Eltern besuchen. Er erkennt niemanden mehr, „alle Leute hatten die gleichen grauen Gesichter“. Er versteht ihre Sprache nicht mehr und kann nicht unterscheiden, „ob sie weit von ihm oder nahe neben ihm gingen, ob sie sich auf ihn zu oder von ihm weg bewegten.“
Unter den schlafenden alten Männern beim Friseur wird der Name seines Vaters aufgerufen. „Deutscher Scheitel? fragte der Friseur. Deutschen Scheitel und deutschen Schnurrbart, sagte der Mann“ – das sind die einzig verständlichen Sätze, die im Dorf fallen. Der alte Mann, der mutmaßliche Vater, ist nicht mehr ansprechbar. Der junge Mann merkt, daß sich der (alte) Mann von ihm entfernte, aber sein Weggehen sah wie ein Untergehen aus, obwohl die Straße eben war“.
(Der Spiegel, 31/1984)